William Faulkner: Als ich im Sterben lag

William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ erschien 1930 und war, nach „Schall und Wahn“ das Buch, das seinen Weltruhm als außergewöhnlicher Stilist begründete. Eine Tour de Force, nicht nur für die Protagonisten, sondern auch ein Parforceritt für den Schriftsteller selbst.

„Aber ich mach ihr keinen Vorwurf.“

Dieser eine Satz, den der alte Farmer immer wieder wie ein Mantra wiederholt, enthüllt die ganze Absurdität der Situation: Denn Addie, die ursächlich ist für diese tragisch-komische Odyssee, auf die sich ihre Familie begibt, liegt da längst schon tot im Sarg und ist völlig unempfänglich für Vorwürfe. Sie, die Mutter von fünf Kindern, hatte ihrem Mann Anse das Versprechen abgenommen, nicht in Yoknapatawpha County unter die Erde zu kommen, sondern in der weit entfernt liegenden Kleinstadt Jefferson, aus der sie ursprünglich stammte. Ein deutliches Statement: Im Tod wollte sie sich nicht mehr gemein machen mit dem spindeldürren, buckligen, zahnlosen Farmer, den sie da gefühlt weit unter ihrem Stand geheiratet hatte.

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Leichenzug mit Hindernissen

Noch unter den Augen der Sterbenden zimmert ihr Sohn Cash also einen Sarg und werden die Reisevorbereitungen getroffen. Doch vorher müssen, trotz aller Warnungen vor einem aufkommenden Unwetter, noch einige Handvoll Dollar verdient werden – also schickt Anse zwei seiner Söhne noch auf eine letzte Fuhr vor der Abfahrt. Weil sich dadurch alles verzögert, stößt der Leichenzug auf die zu erwartenden Hindernisse: Der Fluss läuft über, die Brücken brechen und beim Versuch, das reißende Wasser zu überqueren, gehen Fuhrwerk und Sarg beinahe verloren.

Als die Familien dann letzten Endes trotz aller Widernisse in Jefferson anlangt, während bereits die Bussarde über der Truppe streifen, angezogen vom Verwesungsgeruch, haben beinahe alle etwas verloren: Der älteste Sohn Cash sein Bein, Darl seinen Verstand, Jewel sein mühsam erspartes Pferd, Dewey Dell das Geld für eine Abtreibung und der Jüngste die Unschuld seines kindlichen Denkens. Nur Anse erlebt ein Happy End oder, wie Eberhard Falcke es in seiner Rezension für den Deutschlandfunk formuliert, „die haarsträubend mickrige Parodie eines Happy Ends“. Mit dem Geld seiner Kinder leistet er sich endlich ein neues Gebiss und präsentiert en passant gleich eine neue Mrs. Bundren.

Das Buch begründete Faulkners Weltruhm

William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ erschien 1930 und war, nach „Schall und Wahn“ das Buch, das seinen Weltruhm als außergewöhnlicher Stilist begründete. Eine Tour de Force, nicht nur für die Protagonisten, die mit unvergleichlicher Zähigkeit an ihrem Vorhaben festhalten (ein ums andere Mal kommt beim Lesen der ketzerische Gedanke auf, warum man Addie nicht einfach an Ort und Stelle begräbt).

Sondern auch ein Parforceritt für den Schriftsteller selbst, wie Eberhard Falcke in seiner Rezension ausführt:
„Tatsächlich war es eine Tour de Force im doppelten Sinn, auf die sich Faulkner hier eingelassen hatte. Er schrieb das Buch, wie er behauptete, in nur sechs Wochen, des Nachts, während er das Heizwerk der Universität beaufsichtigte. Zugleich aber handelt der Roman buchstäblich von einer verrückten Gewalttour, von einem schicksalsprallen Abenteuer, von einer Odyssee, deren Personal allerdings nicht aus griechischen Helden, sondern aus ärmlichen amerikanischen Südstaatenfarmern besteht.“

Geschichten über die weiße Unterschicht

Faulkner hatte bereits mit „Schall und Wahn“ seinen literarischen Kosmos gefunden, sein Sujet, die armen, rückständigen Farmer und Leute aus dem amerikanischen Süden, meist gottesfürchtig, wenn nicht gar fundamental christlich, immer aber auch psychisch oder physisch gewalttätig, archaisch im eigentlichen Sinne. „White trash“ würde man sie heute nennen, die Bundrens, zu denen man, je weiter die Reise vorangeht, ein in sich widersprüchliches Verhältnis entwickelt, das sich aus Unglauben, Mitleid, Empathie und Abstoßung zusammensetzt. Eben wie im echten Leben.

Nebst der Wahl dieser ungewöhnlichen Protagonisten, wahrer Antihelden, war die eigentliche Sensation des Romans bei seinem Erscheinen seine formale Konzeption: Multiperspektivisch, es kommen Dutzende von Stimmen zu Wort, selbst die Addies, zusammengesetzt aus inneren Monologen, die insbesondere im Falle des jüngsten Sohns, des Kindes Vardaman, verdeutlichen, was „Bewusstseinsstrom“ bedeutet. Faulkner war einer der ersten Autoren, der diese Technik, ja, vielmehr Kunstgriff, anwandte. Und so ist „Als ich im Sterben lag“ auch ein faszinierendes Puzzle, das nach und nach die Geheimnisse seiner einzelnen Figuren enthüllt, ein Bild ergibt, das dennoch niemals alles enthüllt – die letzte Deutung bleibt den Lesern überlassen.

Informationen zum Buch:

William Faulkner
Als ich im Sterben lag
Neuübersetzung durch Maria Carlsson
Rowohlt Verlag, 2012
ISBN: 978-3-498-02133-7

Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde

Veronika Eckl bewundert die Kunstfertigkeit von Jhumpa Lahiri und begleitet deren Protagonistin bei ihren Streifzügen durch Rom.

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EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Wenige Schriftsteller schlagen in ihrem Leben solch geographische Kapriolen. Jhumpa Lahiris Weg ging so: Geboren in London als Tochter bengalischer Immigranten, aufgewachsen in Rhode Island, Creative Writing-Studium in Boston. Dann aber, als späte Folge einer prägenden, frühen Reise nach Florenz: Umzug mit Mann und Kindern nach Rom. Als ob ihr Indien und die USA, das Bengalische und das Englische, nicht genügt hätten. Ausschlaggebend für den Beginn eines neuen Leben in Italien waren allerdings nicht Kunstschätze, Mittelmeer und Cappuccino, sondern, so hat es Jhumpa Lahiri oft und gern erklärt, ein colpo di fulmine, eine Art Liebe auf den ersten Blick, und zwar die zur italienischen Sprache. So groß ist diese Liebe, dass Lahiri nach nur vier Jahren in Rom auch gleich einen Roman auf Italienisch schrieb, der nun wiederum ins Deutsche übersetzt wurde: Dove mi trovo, Wo ich mich finde, eine Doppeldeutigkeit ist hier sicher gewollt, denn man könnte auch übersetzen: Wo ich mich befinde.

Trägerin des Pulitzer-Preises

Das alles ist umso erstaunlicher, als Lahiri Pulitzer-Preisträgerin ist, deren Erzählungen und Romane sich bisher hauptsächlich um indische Einwanderer in den USA drehten: Melancholie der Ankunft war der Titel ihres Debüts, einer Sammlung Kurzgeschichten mit einem ganz eigenen, starken Sog. Romane wie Der Namensvetter und Tiefland folgten. Nun aber geht es auf die Straßen und Piazze einer namenlos bleibenden Stadt, die jedoch unschwer als Rom zu erkennen ist. Und die Heldin ist eine Römerin Mitte Vierzig, die an der Uni arbeitet und ohne Mann und Kinder ihrer Wege geht. Mehr Abkehr von Lahiris Familiensagas könnte nicht sein.

Die Autorin bürdet ihrer Protagonistin eine schwere Bürde auf: Die Tatsache, dass diese Frau alleinstehend ist, scheint ihr ganzes Leben zu bestimmen. Während die anderen mit überquellenden Einkaufswägen durch die Supermärkte hasten, ihre mehr oder weniger anstrengenden Kinder bespaßen und zum Geburtstag der Schwiegermutter eilen, streift sie als Beobachterin durch die Stadt, eine Flaneurin mit Blick für die Details. Sie geht ins Museum, ins Schwimmbad, in die Trattoria, in die Buchhandlung. Sieht sich die Menschen, denen sie begegnet, gut an und denkt über sie und ihre Schicksale nach. Nimmt wahr, wie unterschiedlich die Stadt zu verschiedenen Jahreszeiten ist. Und: Sie ist eine Chronistin der Veränderungen, die diese erleiden muss. Mit Hingabe und Präzision beschreibt Lahiri etwa einen alten, von einer Familie geführten Schreibwarenladen, der eines Tages einem Geschäft mit billigen Koffern für Touristen weichen muss. Besser kann man nicht zeigen, was sich in vielen europäischen Metropolen derzeit abspielt.

Einzelgängertum als Lebensweise

Allerdings lässt Lahiri ihre Protagonistin diese Freiheit, zu gehen und zu schauen, nicht genießen. Obwohl die Römerin sich offensichtlich nie eine Familie gewünscht hat und selbstbestimmt lebt, liegt ein Schatten über ihren Wegen, nicht nur dann, wenn sie ihre alte Mutter besucht: „Das Einzelgängertum ist mein Metier geworden. Es ist eine eigene Disziplin. Ich versuche, mich in ihr zu perfektionieren, und doch leide ich darunter“, erklärt sie freimütig. Immer scheint das Leben der Anderen irgendwie spannender zu sein: Sie sind ständig auf Achse, spielen mit ihren Kindern im Meer, haben im Zug den besseren Proviant dabei und die interessanten Männer – die sich dann doch oft als gar nicht so interessant entpuppen – sind sowieso immer verheiratet. Irgendwann möchte man die Signora, die doch feinfühlig, empathisch, an allem interessiert und offenbar auch bei anderen beliebt ist, geradezu schütteln und ihr zurufen, sie solle einfach mal leben, statt sich über Sandwiches ohne Geschmack und verunglückte Mäuse im Landhaus der Freundin zu grämen. Immerhin wird ihr am Ende noch eine Veränderung gegönnt, doch den Leser beschleicht das Gefühl, dass sich in diesem Leben trotzdem nicht mehr viel wenden wird.

Bei aller Achtung für die Beobachtungsgabe dieser Autorin, für die Kunstfertigkeit, mit der diese kleinen Kapitel verfasst sind, für diese ungemeine Leistung, in einer anderen Sprache als der Muttersprache, in einem anspruchsvollen Italienisch einen Roman zu schreiben, sich in einem anderen Idiom neu zu erfinden – ein bisschen bedauerlich ist es trotzdem, dass nicht einmal Frauen anno 2020 anderen Frauen die Möglichkeit zugestehen, alleine zu leben und dabei mehr als nur einigermaßen zufrieden zu sein.

Informationen zum Buch:

Jhumpa Lahiri
Wo ich mich finde
Aus dem Italienischen von Margit Knapp
Rowohlt Verlag, 2020
ISBN 978-3-498-00110-0

Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Hans Joachim Schädlich: Die Villa

Hans Joachim Schädlich erweist sich in “Die Villa” als Meister der Verdichtung: Präzise legt er den Alltag einer Durchschnittsfamilie im Dritten Reich frei.

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Bild von PIRO4D auf Pixabay

Nach dem Essen baten er und seine Frau Elisabeth die Gäste ins Herrenzimmer zu Cognac, Likör, Zigarren und Zigaretten.
Kreisleiter Hitzer sagte zu Hans Kramer:
„Eine feste Burg ist Ihre Villa.“
Ortsgruppenleiter Vieweg sagte, zu Elisabeth gewandt:
„Eine gute Wehr für sie und die Kinder.“

Hans Joachim Schädlich, „Die Villa“


1940 scheint die kleine Welt der Kramers noch in Ordnung. Hans Kramer, aus Überzeugung früh in die Partei eingetreten, unterhält einen florierenden Wollhandel und schafft es durch Fleiß und Ehrgeiz, seine Familie von einem vogtländischen Dorf in eine Villa nach Reichenbach zu verfrachten.

Man richtet sich ein, freut sich, nach drei Buben, darüber, dass endlich ein Mädchen geboren ist, schafft Möbel an, engagiert Personal. Am Frühstückstisch werden die Weltnachrichten besprochen, die Wehrmacht ist in halb Europa einmarschiert, Hans Kramer siegesgewiss, allein Elisabeth stellt ab und an eine leise, ängstliche Frage. Für Irritation sorgt in der heilen Welt allenfalls, dass Fritz, Elisabeths psychisch kranker Bruder, der in einer Anstalt lebt, plötzlich verstirbt.

Eine deutsche Durchschnittsfamilie

Das ist eine der wenigen Stellen, da Hans Joachim Schädlich als Erzähler quasi kommentierend eintritt und die Familie den Euthanasie-Tod rückwirkend betrachten lässt. Doch ansonsten erzählt er die Geschichte dieser deutschen Durchschnittsfamilie, ihres Aufstiegs und Niedergangs, in einer nüchternen, sachlichen Sprache. Präzise, auf das Notwendigste beschränkt, auf das Äußerste verdichtet – doch gerade dadurch wird die Banalität des Alltags in der NS-Zeit, die Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen das, was auf politischer Ebene geschah, akzeptieren, besonders deutlich.

Da ist der psychisch kranke Bruder, der unerwartet wegen eines Lungenleidens verstirbt. Da ist der Lehrer, der einzige Jude am Ort, der eines Tages eben verschwindet. Und auch der geschäftliche Profit, den Hans Kramer durch die Enteignung jüdischer Unternehmer macht, wird „hingenommen“.

Keine feste Burg gegen die Außenwelt

Die Leser werden mit den Gesprächen des Ehepaares, am Frühstückstisch die Zeitungsnachrichten kommentierend, durch die Jahre geführt. Das Glück im eigenen Heim, von vornherein auf zerbrechlichen Beinen stehend – Elisabeth wollte nicht heiraten, wollte keine Kinder, aber ihr Vater ließ nur die Jungen etwas lernen – das Glück ist von kurzer Dauer. Die Welt rückt näher, der Krieg auch und die Villa ist längst nicht die feste Burg, die überdauert.

Wo andere über die große Geschichte schreiben, erzählt Schädlich Geschichten, Alltagsgeschichten, die das große Ganze spiegeln und entschlüsseln. So nüchtern, so lakonisch, auf jedes schmückende Beiwerk verzichtend, oft in Kapiteln, die kaum eine Seite füllen, enthüllt der altersweise Schriftsteller eine ganz einfache Wahrheit: Eine Familie wie die Kramers, das war im Nationalsozialismus der Alltag. „Die Normalität“ (ein Wort, das aktuell wieder viel gebraucht wird), das war, sich anzupassen, mitzulaufen, durchzuwursteln. „Die Villa“: Steinernes Zeugnis für den Versuch, teilzuhaben, steinernes Zeugnis für das Scheitern. Am Ende wird die Villa der Moderne zum Opfer fallen, einer Fabrik für Aktenvernichtung weichen müssen. Ironie des Schicksals: Dank eines Schriftstellers wie Hans Joachim Schädlich überlebt das geschriebene Wort doch.


Weitere Besprechungen:

Eine eingehende Rezension findet sich auch bei „literatur leuchtet“.

Lesenswert ebenso die Besprechungen im NDR von Alexander Solloch und im Deutschlandfunk von Paul Stoop.

Weitere Informationen zum Buch:

Hans Joachim Schädlich
Die Villa
Rowohlt Verlag, 2020
Gebunden, 192 Seiten, Hardcover 20,00 €, E-Book 19,99€
ISBN: 978-3-498-06555-3

Informationen zum Autor: https://www.rowohlt.de/autor/hans-joachim-schaedlich.html

Nora Gantenbrink: Dad

Roadmovie und Coming-of-Age, Biographisches und Fiktion und am Ende leider mucho Kitsch trotz des lakonischen Tons.

„Von allen Momenten mit meinem Vater war dieser der schlimmste. Denn als er dort so lag, wurde mir klar, dass es vorbei war. Es gab für uns keine Hoffnung mehr auf eine gemeinsame Zeit. Die meisten Jahre meines Lebens war mein Vater nicht da gewesen, und jetzt würde er für immer fortbleiben. Ich nahm das Buch aus seinen Händen und ging raus. Er hätte nicht gewollt, dass ich ihn so sehe.“

Nora Gantenbrink, „Dad“

Sich die eigene Biographie mit all ihren Brüchen und schwierigen Episoden anzueignen, dies scheint ein Trend bei Debütromanen zu sein. Vielleicht braucht es für den ersten Roman diesen „therapeutischen“ Druck, der einen zum Schreiben bringt, vielleicht liegt das Biographische auch einfach nahe, weil, je jünger die Autorin, der Autor sind, desto geringer auch die Welt- und Lebenserfahrung ist. Sei es, wie es will: Im besten Falle kommt ein großer literarischer Wurf zustande und in vielen anderen Fällen gut lesbare Bücher, so „Süßwasser“ von Akwaeke Emezi, „Alles, was passiert ist“ von Yrsa Daley-Ward, jüngst „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber oder nun auch der im Februar erschienene Roman „Dad“ von Nora Gantenbrink.

Die Stern-Reporterin, die bereits den Erzählband „Verficktes Herz“ veröffentlichte, nähert sich in ihrem Roman einer Sehnsucht an, die wohl bei fast allen betroffenen Menschen nie zu stillen ist und je nach Konstitution das Leben stärker oder schwächer prägt: Die Sehnsucht nach einem Elternteil, das nie vorhanden oder kaum greifbar war.

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Von der Reeperbahn zurück in die Provinz

Das Buch führt seine Leser direkt von der Reeperbahn in die deutsche Provinz und dann um die halbe Welt. Die Journalistin Marlene lebt auf dem Kiez, schlägt sich mit freien Aufträgen für Musikmagazine durch und ist, abgesehen von zwei engen Jugendfreunden, mehr oder weniger bindungsscheu: Das ganze Leben auf Provisorium eingestellt:

„Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich nicht so enden möchte wie mein Vater.“

Dabei hat sie mit ihm etwas ganz Wesentliches gemeinsam, wie die Mutter feststellt:

„Den Hang zum Rausch und die Sehnsucht nach Sonne.“

Selten ist der Vater, der lieber Dad genannt werden möchte, für seine Tochter da: Sein Hang zum Rausch führt ihn zu den Hotspots der Hippiekultur in den 1970er-Jahren, nach Marrakesch, Goa und Thailand. Immer auf der Suche, immer auf der Flucht.

Keine Heldengeschichte

Die intensivste Zeit gemeinsam haben die beiden, als er todkrank, mit HIV infiziert, im Krankenhaus liegt – aber da ist es bereits zu spät, die offenen Fragen zu klären. Marlene begibt sich auf Spurensuche: zu den ehemaligen Kumpels, zu den Orten, an denen ihr Vater auf seinem immerwährenden Trip war. Eine desillusionierende Reise voller lakonisch-komischer Momente.

„Am Ende ist die Geschichte meines Vaters keine Heldengeschichte geworden, weil mein Vater eben kein Held ist. Aber die meisten Menschen sind keine Helden. Auf manche meiner Fragen habe ich Antworten gefunden, auf andere nicht. Manche Fragen sind damit selbst zu einer Antwort geworden. Ich glaube, dass mein Vater mich geliebt hat. Aber das Leben noch mehr.“

„Dad“ ist eine Mischung aus Fiktion und Biographie, ein Coming-of-Age-Roman aus der Retrospektive erzählt, ist Roadmovie und Provinzroman zugleich. Dass Marlene das Alter ego der Autorin ist, die auch in ihrem Leben ihrem Vater nachspüren musste, darüber erzählte Nora Gantenbrink bereits in mehreren Interviews.

Cool, zart und lebensklug

Gantenbrink psychologiert nicht zu tief, sondern erzählt lieber flüssig. Das hat seine lakonischen Momente, die großartig sind, das ist cool und zart und lebensklug zugleich. Nur leider überspannt sie in meinem Augen die Geschichte vom treuen Freund aus Kindertagen am Ende deutlich – natürlich ist Oleg, eine Mischung aus Seelenkumpel und Vaterersatz, seit Jahren heimlich in seine Marlene verliebt, schreibt ihr täglich Briefe, die er nie absendet, aber nach seinem frühen Unfalltod in ihre Hände gelangen.

Das ist ein wenig „mucho, mucho“, um Udo Lindenberg zu imitieren, der auf dem Cover zitiert wird. Das Zitat auf dem Cover löste bei mir übrigens ein breites Grinsen aus – wem fällt noch was auf?

„I love Gantenbeins Schreibe mucho, mucho.“ Udo Lindenberg

Informationen zum Buch:

Nora Gantenbrink
Dad
Rowohlt Verlag, 2020
Hardcover, 240 Seiten, 20,00 Euro
ISBN: 978-3-498-02535-9

Inger-Maria Mahlke: Archipel

Mit ihrem “rückwärts erzählten” Familienroman errang Inger-Maria Mahlke 2018 den Deutschen Buchpreis. Zu Recht – das Experiment ist gelungen.

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„Hellgrau leuchten die Wolldecken im von der Mauer zurückgeworfenen Mondlicht, sonst haben sie die gleiche stumpfe Farbe wie Kittel, Schürzen und Nachthemden. Die neue Farbenlehre. Soldaten sind khaki, verwaschen blau die Falange, die Polizisten grau, Guardia Civil graugrün, die Armen staubfarben, die Pfarrer schwarz, Seminaristen chorhemdweiß, violett ist der Bischof. Rot ist niemand mehr.“ (1944).

Inger-Maria Mahlke, „Archipel“


Die neue politische Farbenlehre Spaniens, eingeführt nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs und dem Putsch gegen die Republik, beginnend mit dem Aufstieg der Faschisten. Sie wird noch Generationen überdauern, das Land und seine Menschen über Jahrzehnte prägen. Kunstvoll verknüpft Inger-Maria Mahlke die Schicksale mehrerer Familien auf der Insel Teneriffa in ihrem Roman „Archipel“, mit dem sie 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt. Nicht zu Unrecht, ist dieses Buch doch sowohl erzählerisch als auch formal als gelungen zu betrachten.

Der Roman setzt ein 2015: Felipe Bernadotte González, Sprössling einer der über das Wasser und die Insel herrschenden Familie, in ewiger Opposition zu den kolonialistisch tätigen Vorfahren lebend, verbringt seine Tage süffelnd in einem Club, Ehefrau Ana ist in einen Politik- und Korruptionsskandal verwickelt und Tochter Rosa, so heißt es lapidar im Personenregister, „macht irgendetwas mit Kunst.“ Anas Vater Julio Baute, einst von den Faschisten verfolgt, hütet als betagter, aber rüstiger Portier die weniger rüstigen Alten im Heim, Eulalia, die Haushaltshilfe der Familie González, hat angesichts der Wirtschaftskrise noch ganz andere Sorgen.

„Ein Freistaat, so hat Sidney sich die Zukunft der Insel immer vorgestellt, wenn schon keine britische Kolonie, dann ein Freistaat. Keine Zölle, keine Steuern. Um die Straßen von den Packstationen zu den Verladekais, um die Erweiterung des Hafens würden sich die Firmen kümmern, in ihrem eigenen Interesse. Die tägliche Portion Gofio wäre den Einheimischen sicher.“ (1919).

Von diesem Ausgangspunkt in der Gegenwart aus erzählt Inger-Maria Mahlke rückwärts, hinein bis in das Jahr 1919, als die Insel wirtschaftlich fest in der Hand der Briten und Amerikaner war. Die feudale Gesellschaftsordnung begünstigt den Aufstieg einzelner Familien, die auch die Zeit der wirtschaftlichen Isolation während der Franco-Diktatur unbeschadet überstehen. Statt Land- und Wasserrechten und dem Export von Bananen und Tomaten bringt die Demokratie und die Öffnung des Landes neue wirtschaftliche Möglichkeiten: Tourismus ist die neue Währung.

Ein opulenter Familienroman

Doch, so zeigt es Inger-Maria Mahlke in ihrem Experiment eines Familienromans, von der Entwicklung profitiert keiner: Die González, die für die „upper class“ stehen, wirken degeneriert, auch ob Rosa eine Hoffnungsträgerin wird in ihrer „irgendwas-mit-Kunst-Opposition“ ist ungewiss. Die Mittelschicht muss durch alle Jahrzehnte hinweg um ihren Platz bangen, ist den Wogen der Politik ausgeliefert wie ein Boot auf dem Ozean. Und die unteren Zehntausenden, repräsentiert durch Eulalia, ihre Mutter Merche und deren unbenannte, nur als „Katze“ bezeichnete Mutter, bleiben dort, wo eine auf Kapitalismus und durch den Katholizismus geprägte Gesellschaft sie vorgesehen hat: Unten.

In „Der Tagesspiegel“ wurde der Roman von Carsten Otte hervorgehoben:

„Der Roman heißt nicht nur „Archipel“, er ist auch in ästhetischer Hinsicht eine Art Inselgruppe mit sehr unterschiedlichen Eilanden, die unterirdisch miteinander verbunden sind und von Mahlke sowohl in literarischer Lupenansicht als auch aus einer Art Helikopter-Perspektive untersucht werden. Als wäre dies nicht allein eine literarische Herausforderung, bietet der Roman formal und inhaltlich ein alles überwölbendes Hauptthema, und das besteht im beeindruckenden Versuch, Geschichte und Lebensgeschichten gegen die bedingungslose Macht der Zeit zu erzählen.“

Hinzuzufügen ist, dass das Buch, auch wenn die Vielzahl an Personen und die Technik des Rückwärts-Erzählens kein Easy-Reading ermöglichen, durch seine bildkräftige Sprache und den beinahe lakonischen Stil der Autorin (die in Lübeck und Teneriffa aufgewachsen ist) überzeugen. Alles in allem: Excelente!


Informationen zum Buch:

Inger-Maria Mahlke
Archipel
Rowohlt Verlag, 2018
ISBN: 978-3-498-04224-0