William Faulkner: Als ich im Sterben lag

„Aber ich mach ihr keinen Vorwurf.“

Dieser eine Satz, den der alte Farmer immer wieder wie ein Mantra wiederholt, enthüllt die ganze Absurdität der Situation: Denn Addie, die ursächlich ist für diese tragisch-komische Odyssee, auf die sich ihre Familie begibt, liegt da längst schon tot im Sarg und ist völlig unempfänglich für Vorwürfe. Sie, die Mutter von fünf Kindern, hatte ihrem Mann Anse das Versprechen abgenommen, nicht in Yoknapatawpha County unter die Erde zu kommen, sondern in der weit entfernt liegenden Kleinstadt Jefferson, aus der sie ursprünglich stammte. Ein deutliches Statement: Im Tod wollte sie sich nicht mehr gemein machen mit dem spindeldürren, buckligen, zahnlosen Farmer, den sie da gefühlt weit unter ihrem Stand geheiratet hatte.

Noch unter den Augen der Sterbenden zimmert ihr Sohn Cash also einen Sarg und werden die Reisevorbereitungen getroffen. Doch vorher müssen, trotz aller Warnungen vor einem aufkommenden Unwetter, noch einige Handvoll Dollar verdient werden – also schickt Anse zwei seiner Söhne noch auf eine letzte Fuhr vor der Abfahrt. Weil sich dadurch alles verzögert, stößt der Leichenzug auf die zu erwartenden Hindernisse: Der Fluss läuft über, die Brücken brechen und beim Versuch, das reißende Wasser zu überqueren, gehen Fuhrwerk und Sarg beinahe verloren.

Als die Familien dann letzten Endes trotz aller Widernisse in Jefferson anlangt, während bereits die Bussarde über der Truppe streifen, angezogen vom Verwesungsgeruch, haben beinahe alle etwas verloren: Der älteste Sohn Cash sein Bein, Darl seinen Verstand, Jewel sein mühsam erspartes Pferd, Dewey Dell das Geld für eine Abtreibung und der Jüngste die Unschuld seines kindlichen Denkens. Nur Anse erlebt ein Happy End oder, wie Eberhard Falcke es in seiner Rezension für den Deutschlandfunk formuliert, „die haarsträubend mickrige Parodie eines Happy Ends“. Mit dem Geld seiner Kinder leistet er sich endlich ein neues Gebiss und präsentiert en passant gleich eine neue Mrs. Bundren.

William Faulkners Roman „Als ich im Sterben lag“ erschien 1930 und war, nach „Schall und Wahn“ das Buch, das seinen Weltruhm als außergewöhnlicher Stilist begründete. Eine Tour de Force, nicht nur für die Protagonisten, die mit unvergleichlicher Zähigkeit an ihrem Vorhaben festhalten (ein ums andere Mal kommt beim Lesen der ketzerische Gedanke auf, warum man Addie nicht einfach an Ort und Stelle begräbt). Sondern auch ein Parforceritt für den Schriftsteller selbst, wie Eberhard Falcke in seiner Rezension ausführt:
„Tatsächlich war es eine Tour de Force im doppelten Sinn, auf die sich Faulkner hier eingelassen hatte. Er schrieb das Buch, wie er behauptete, in nur sechs Wochen, des Nachts, während er das Heizwerk der Universität beaufsichtigte. Zugleich aber handelt der Roman buchstäblich von einer verrückten Gewalttour, von einem schicksalsprallen Abenteuer, von einer Odyssee, deren Personal allerdings nicht aus griechischen Helden, sondern aus ärmlichen amerikanischen Südstaatenfarmern besteht.“

Faulkner hatte bereits mit „Schall und Wahn“ seinen literarischen Kosmos gefunden, sein Sujet, die armen, rückständigen Farmer und Leute aus dem amerikanischen Süden, meist gottesfürchtig, wenn nicht gar fundamental christlich, immer aber auch psychisch oder physisch gewalttätig, archaisch im eigentlichen Sinne. „White trash“ würde man sie heute nennen, die Bundrens, zu denen man, je weiter die Reise vorangeht, ein in sich widersprüchliches Verhältnis entwickelt, das sich aus Unglauben, Mitleid, Empathie und Abstoßung zusammensetzt. Eben wie im echten Leben.

Nebst der Wahl dieser ungewöhnlichen Protagonisten, wahrer Antihelden, war die eigentliche Sensation des Romans bei seinem Erscheinen seine formale Konzeption: Multiperspektivisch, es kommen Dutzende von Stimmen zu Wort, selbst die Addies, zusammengesetzt aus inneren Monologen, die insbesondere im Falle des jüngsten Sohns, des Kindes Vardaman, verdeutlichen, was „Bewusstseinsstrom“ bedeutet. Faulkner war einer der ersten Autoren, der diese Technik, ja, vielmehr Kunstgriff, anwandte. Und so ist „Als ich im Sterben lag“ auch ein faszinierendes Puzzle, das nach und nach die Geheimnisse seiner einzelnen Figuren enthüllt, ein Bild ergibt, das dennoch niemals alles enthüllt – die letzte Deutung bleibt den Lesern überlassen.

„Als ich im Sterben lag“ erschien 2012 anlässlich des 50. Todestages des Literaturnobelpreisträgers in einer neuen Übersetzung durch Maria Carlsson im Rowohlt Verlag.

PS:
Eine kleine Anmerkung in eigener Sache: Als ich vor knapp drei Jahren sozusagen “die Seiten wechselte”, von der Freizeit-Bloggerin zur PR-Frau für unabhängige Verlage und für Autor*innen wurde, habe ich das “freie Rezensieren” auf meinem Blog eingestellt. Zum einen kam es mir vor, als könne ich beide Rollen nicht vermischen, zum anderen war es eine Frage der Zeit. Aber das zweckfreie Bloggen über Bücher hat mir in den letzten Monaten mehr und mehr gefehlt. Gelesen habe ich ja auch weiterhin außerhalb meines beruflichen Tuns, aber nicht mehr darüber geschrieben. Doch die Auseinandersetzung mit Büchern gestaltet sich einfach nochmals anders, ja, auch qualitätsvoller, wenn man über sie spricht oder schreibt. Und auch wenn Literaturblogs immer wieder in Zeiten von Insta-Stories und Tik Tok totgesagt werden: Ich hab wieder Lust drauf. Nicht zuletzt gaben auch einige Blogger-Kolleg*innen den Anstoß dazu, die mir sagten: Du fehlst. Also, kurzum: Ich bin wieder da, ab und an wird es hier wieder Rezensionen geben, ganz frei und nach Lust und Laune.

Beitragsbild: Trenna Sonnenschein auf Pixabay

Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde

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Bild von Tasos Lekkas auf Pixabay

EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Wenige Schriftsteller schlagen in ihrem Leben solch geographische Kapriolen. Jhumpa Lahiris Weg ging so: Geboren in London als Tochter bengalischer Immigranten, aufgewachsen in Rhode Island, Creative Writing-Studium in Boston. Dann aber, als späte Folge einer prägenden, frühen Reise nach Florenz: Umzug mit Mann und Kindern nach Rom. Als ob ihr Indien und die USA, das Bengalische und das Englische, nicht genügt hätten. Ausschlaggebend für den Beginn eines neuen Leben in Italien waren allerdings nicht Kunstschätze, Mittelmeer und Cappuccino, sondern, so hat es Jhumpa Lahiri oft und gern erklärt, ein colpo di fulmine, eine Art Liebe auf den ersten Blick, und zwar die zur italienischen Sprache. So groß ist diese Liebe, dass Lahiri nach nur vier Jahren in Rom auch gleich einen Roman auf Italienisch schrieb, der nun wiederum ins Deutsche übersetzt wurde: Dove mi trovo, Wo ich mich finde, eine Doppeldeutigkeit ist hier sicher gewollt, denn man könnte auch übersetzen: Wo ich mich befinde.

Das alles ist umso erstaunlicher, als Lahiri Pulitzer-Preisträgerin ist, deren Erzählungen und Romane sich bisher hauptsächlich um indische Einwanderer in den USA drehten: Melancholie der Ankunft war der Titel ihres Debüts, einer Sammlung Kurzgeschichten mit einem ganz eigenen, starken Sog. Romane wie Der Namensvetter und Tiefland folgten. Nun aber geht es auf die Straßen und Piazze einer namenlos bleibenden Stadt, die jedoch unschwer als Rom zu erkennen ist. Und die Heldin ist eine Römerin Mitte Vierzig, die an der Uni arbeitet und ohne Mann und Kinder ihrer Wege geht. Mehr Abkehr von Lahiris Familiensagas könnte nicht sein.

Die Autorin bürdet ihrer Protagonistin eine schwere Bürde auf: Die Tatsache, dass diese Frau alleinstehend ist, scheint ihr ganzes Leben zu bestimmen. Während die anderen mit überquellenden Einkaufswägen durch die Supermärkte hasten, ihre mehr oder weniger anstrengenden Kinder bespaßen und zum Geburtstag der Schwiegermutter eilen, streift sie als Beobachterin durch die Stadt, eine Flaneurin mit Blick für die Details. Sie geht ins Museum, ins Schwimmbad, in die Trattoria, in die Buchhandlung. Sieht sich die Menschen, denen sie begegnet, gut an und denkt über sie und ihre Schicksale nach. Nimmt wahr, wie unterschiedlich die Stadt zu verschiedenen Jahreszeiten ist. Und: Sie ist eine Chronistin der Veränderungen, die diese erleiden muss. Mit Hingabe und Präzision beschreibt Lahiri etwa einen alten, von einer Familie geführten Schreibwarenladen, der eines Tages einem Geschäft mit billigen Koffern für Touristen weichen muss. Besser kann man nicht zeigen, was sich in vielen europäischen Metropolen derzeit abspielt.

Allerdings lässt Lahiri ihre Protagonistin diese Freiheit, zu gehen und zu schauen, nicht genießen. Obwohl die Römerin sich offensichtlich nie eine Familie gewünscht hat und selbstbestimmt lebt, liegt ein Schatten über ihren Wegen, nicht nur dann, wenn sie ihre alte Mutter besucht: „Das Einzelgängertum ist mein Metier geworden. Es ist eine eigene Disziplin. Ich versuche, mich in ihr zu perfektionieren, und doch leide ich darunter“, erklärt sie freimütig. Immer scheint das Leben der Anderen irgendwie spannender zu sein: Sie sind ständig auf Achse, spielen mit ihren Kindern im Meer, haben im Zug den besseren Proviant dabei und die interessanten Männer – die sich dann doch oft als gar nicht so interessant entpuppen – sind sowieso immer verheiratet. Irgendwann möchte man die Signora, die doch feinfühlig, empathisch, an allem interessiert und offenbar auch bei anderen beliebt ist, geradezu schütteln und ihr zurufen, sie solle einfach mal leben, statt sich über Sandwiches ohne Geschmack und verunglückte Mäuse im Landhaus der Freundin zu grämen. Immerhin wird ihr am Ende noch eine Veränderung gegönnt, doch den Leser beschleicht das Gefühl, dass sich in diesem Leben trotzdem nicht mehr viel wenden wird.

Bei aller Achtung für die Beobachtungsgabe dieser Autorin, für die Kunstfertigkeit, mit der diese kleinen Kapitel verfasst sind, für diese ungemeine Leistung, in einer anderen Sprache als der Muttersprache, in einem anspruchsvollen Italienisch einen Roman zu schreiben, sich in einem anderen Idiom neu zu erfinden – ein bisschen bedauerlich ist es trotzdem, dass nicht einmal Frauen anno 2020 anderen Frauen die Möglichkeit zugestehen, alleine zu leben und dabei mehr als nur einigermaßen zufrieden zu sein.

Von Veronika Eckl

Informationen zum Buch:
Jhumpa Lahiri
Wo ich mich finde
Aus dem Italienischen von Margit Knapp.
Rowohlt Verlag, 160 Seiten, 20 Euro

Hans Joachim Schädlich: Die Villa

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Bild von PIRO4D auf Pixabay

Nach dem Essen baten er und seine Frau Elisabeth die Gäste ins Herrenzimmer zu Cognac, Likör, Zigarren und Zigaretten.
Kreisleiter Hitzer sagte zu Hans Kramer:
„Eine feste Burg ist Ihre Villa.“
Ortsgruppenleiter Vieweg sagte, zu Elisabeth gewandt:
„Eine gute Wehr für sie und die Kinder.“

Hans Joachim Schädlich, „Die Villa“.

1940 scheint die kleine Welt der Kramers noch in Ordnung. Hans Kramer, aus Überzeugung früh in die Partei eingetreten, unterhält einen florierenden Wollhandel und schafft es durch Fleiß und Ehrgeiz, seine Familie von einem vogtländischen Dorf in eine Villa nach Reichenbach zu verfrachten.

Man richtet sich ein, freut sich, nach drei Buben, darüber, dass endlich ein Mädchen geboren ist, schafft Möbel an, engagiert Personal. Am Frühstückstisch werden die Weltnachrichten besprochen, die Wehrmacht ist in halb Europa einmarschiert, Hans Kramer siegesgewiss, allein Elisabeth stellt ab und an eine leise, ängstliche Frage. Für Irritation sorgt in der heilen Welt allenfalls, dass Fritz, Elisabeths psychisch kranker Bruder, der in einer Anstalt lebt, plötzlich verstirbt.

Eine der wenigen Stellen, da Hans Joachim Schädlich als Erzähler quasi kommentierend eintritt, die Familie den Euthanasie-Tod rückwirkend betrachten lässt. Doch ansonsten erzählt er die Geschichte dieser deutschen Durchschnittsfamilie, ihres Aufstiegs und Niedergangs, in einer nüchternen, sachlichen Sprache. Präzise, auf das Notwendigste beschränkt, auf das Äußerste verdichtet – doch gerade dadurch wird die Banalität des Alltags in der NS-Zeit, die Selbstverständlichkeit, mit der die Menschen das, was auf politischer Ebene geschah, akzeptieren, besonders deutlich.

Da ist der psychisch kranke Bruder, der unerwartet wegen eines Lungenleidens verstirbt. Da ist der Lehrer, der einzige Jude am Ort, der eines Tages eben verschwindet. Und auch der geschäftliche Profit, den Hans Kramer durch die Enteignung jüdischer Unternehmer macht, wird „hingenommen“.

U1_978-3-498-06555-3.inddDie Leser werden mit den Gesprächen des Ehepaares, am Frühstückstisch die Zeitungsnachrichten kommentierend, durch die Jahre geführt. Das Glück im eigenen Heim, von vornherein auf zerbrechlichen Beinen stehend – Elisabeth wollte nicht heiraten, wollte keine Kinder, aber ihr Vater ließ nur die Jungen etwas lernen – das Glück ist von kurzer Dauer. Die Welt rückt näher, der Krieg auch und die Villa ist längst nicht die feste Burg, die überdauert.

Wo andere über die große Geschichte schreiben, erzählt Schädlich Geschichten, Alltagsgeschichten, die das große Ganze spiegeln und entschlüsseln. So nüchtern, so lakonisch, auf jedes schmückende Beiwerk verzichtend, oft in Kapiteln, die kaum eine Seite füllen, enthüllt der altersweise Schriftsteller eine ganz einfache Wahrheit: Eine Familie wie die Kramers, das war im Nationalsozialismus der Alltag. „Die Normalität“ (ein Wort, das aktuell wieder viel gebraucht wird), das war, sich anzupassen, mitzulaufen, durchzuwursteln. „Die Villa“: Steinernes Zeugnis für den Versuch, teilzuhaben, steinernes Zeugnis für das Scheitern. Am Ende wird die Villa der Moderne zum Opfer fallen, einer Fabrik für Aktenvernichtung weichen müssen. Ironie des Schicksals: Dank eines Schriftstellers wie Hans Joachim Schädlich überlebt das geschriebene Wort doch.

Weitere Besprechungen:

Eine eingehende Rezension findet sich auch bei „literatur leuchtet“.

Lesenswert ebenso die Besprechungen im NDR von Alexander Solloch und im Deutschlandfunk von Paul Stoop.

Weitere Informationen zum Buch:

Hans Joachim Schädlich
Die Villa
Rowohlt Verlag, 2020
Gebunden, 192 Seiten, Hardcover 20,00 €, E-Book 19,99€
ISBN: 978-3-498-06555-3

Informationen zum Autor: https://www.rowohlt.de/autor/hans-joachim-schaedlich.html


 

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Nora Gantenbrink: Dad

„Von allen Momenten mit meinem Vater war dieser der schlimmste. Denn als er dort so lag, wurde mir klar, dass es vorbei war. Es gab für uns keine Hoffnung mehr auf eine gemeinsame Zeit. Die meisten Jahre meines Lebens war mein Vater nicht da gewesen, und jetzt würde er für immer fortbleiben. Ich nahm das Buch aus seinen Händen und ging raus. Er hätte nicht gewollt, dass ich ihn so sehe.“

Nora Gantenbrink, „Dad“.

Sich die eigene Biographie mit all ihren Brüchen und schwierigen Episoden anzueignen, dies scheint ein Trend bei Debütromanen zu sein. Vielleicht braucht es für den ersten Roman diesen „therapeutischen“ Druck, der einen zum Schreiben bringt, vielleicht liegt das Biographische auch einfach nahe, weil, je jünger die Autorin, der Autor sind, desto geringer auch die Welt- und Lebenserfahrung ist. Sei es, wie es will: Im besten Falle kommt ein großer literarischer Wurf zustande und in vielen anderen Fällen gut lesbare Bücher, so „Süßwasser“ von Akwaeke Emezi, „Alles, was passiert ist“ von Yrsa Daley-Ward, jüngst „Marianengraben“ von Jasmin Schreiber oder nun auch der im Februar erschienene Roman „Dad“ von Nora Gantenbrink.

Die Stern-Reporterin, die bereits den Erzählband „Verficktes Herz“ veröffentlichte, nähert sich in ihrem Roman einer Sehnsucht an, die wohl bei fast allen betroffenen Menschen nie zu stillen ist und je nach Konstitution das Leben stärker oder schwächer prägt: Die Sehnsucht nach einem Elternteil, das nie vorhanden oder kaum greifbar war.

Das Buch führt seine Leser direkt von der Reeperbahn in die deutsche Provinz und dann um die halbe Welt. Die Journalistin Marlene lebt auf dem Kiez, schlägt sich mit freien Aufträgen für Musikmagazine durch und ist, abgesehen von zwei engen Jugendfreunden, mehr oder weniger bindungsscheu: Das ganze Leben auf Provisorium eingestellt:

„Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich nicht so enden möchte wie mein Vater.“

Dabei hat sie mit ihm etwas ganz Wesentliches gemeinsam, wie die Mutter feststellt:

„Den Hang zum Rausch und die Sehnsucht nach Sonne.“

Selten ist der Vater, der lieber Dad genannt werden möchte, für seine Tochter da: Sein Hang zum Rausch führt ihn zu den Hotspots der Hippiekultur in den 1970er-Jahren, nach Marrakesch, Goa und Thailand. Immer auf der Suche, immer auf der Flucht. Die intensivste Zeit gemeinsam haben die beiden, als er todkrank, mit HIV infiziert, im Krankenhaus liegt – aber da ist es bereits zu spät, die offenen Fragen zu klären. Marlene begibt sich auf Spurensuche: zu den ehemaligen Kumpels, zu den Orten, an denen ihr Vater auf seinem immerwährenden Trip war. Eine desillusionierende Reise voller lakonisch-komischer Momente.

„Am Ende ist die Geschichte meines Vaters keine Heldengeschichte geworden, weil mein Vater eben kein Held ist. Aber die meisten Menschen sind keine Helden. Auf manche meiner Fragen habe ich Antworten gefunden, auf andere nicht. Manche Fragen sind damit selbst zu einer Antwort geworden. Ich glaube, dass mein Vater mich geliebt hat. Aber das Leben noch mehr.“

„Dad“ ist eine Mischung aus Fiktion und Biographie, ein Coming-of-Age-Roman aus der Retrospektive erzählt, ist Roadmovie und Provinzroman zugleich. Dass Marlene das Alter ego der Autorin ist, die auch in ihrem Leben ihrem Vater nachspüren musste, darüber erzählte Nora Gantenbrink bereits in mehreren Interviews.

Gantenbrink psychologiert nicht zu tief, sondern erzählt lieber flüssig. Das hat seine lakonischen Momente, die großartig sind, das ist cool und zart und lebensklug zugleich. Nur leider überspannt sie in meinem Augen die Geschichte vom treuen Freund aus Kindertagen am Ende deutlich – natürlich ist Oleg, eine Mischung aus Seelenkumpel und Vaterersatz, seit Jahren heimlich in seine Marlene verliebt, schreibt ihr täglich Briefe, die er nie absendet, aber nach seinem frühen Unfalltod in ihre Hände gelangen.

Das ist ein wenig „mucho, mucho“, um Udo Lindenberg zu imitieren, der auf dem Cover zitiert wird. Das Zitat auf dem Cover löste bei mir übrigens ein breites Grinsen aus – wem fällt noch was auf?

„I love Gantenbeins Schreibe mucho, mucho.“ Udo Lindenberg

Informationen zum Buch:

Nora Gantenbrink
Dad
Rowohlt Verlag, 2020
Hardcover, 240 Seiten, 20,00 Euro
ISBN: 978-3-498-02535-9


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Inger-Maria Mahlke: Archipel

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Bild von Mister I auf Pixabay

„Hellgrau leuchten die Wolldecken im von der Mauer zurückgeworfenen Mondlicht, sonst haben sie die gleiche stumpfe Farbe wie Kittel, Schürzen und Nachthemden. Die neue Farbenlehre. Soldaten sind khaki, verwaschen blau die Falange, die Polizisten grau, Guardia Civil graugrün, die Armen staubfarben, die Pfarrer schwarz, Seminaristen chorhemdweiß, violett ist der Bischof. Rot ist niemand mehr.“ (1944).

Inger-Maria Mahlke, „Archipel“.

Die neue politische Farbenlehre Spaniens, eingeführt nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs und dem Putsch gegen die Republik, beginnend mit dem Aufstieg der Faschisten. Sie wird noch Generationen überdauern, das Land und seine Menschen über Jahrzehnte prägen. Kunstvoll verknüpft Inger-Maria Mahlke die Schicksale mehrerer Familien auf der Insel Teneriffa in ihrem Roman „Archipel“, mit dem sie 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt. Nicht zu Unrecht, ist dieses Buch doch sowohl erzählerisch als auch formal als gelungen zu betrachten.

Der Roman setzt ein 2015: Felipe Bernadotte González, Sprössling einer der über das Wasser und die Insel herrschenden Familie, in ewiger Opposition zu den kolonialistisch tätigen Vorfahren lebend, verbringt seine Tage süffelnd in einem Club, Ehefrau Ana ist in einen Politik- und Korruptionsskandal verwickelt und Tochter Rosa, so heißt es lapidar im Personenregister, „macht irgendetwas mit Kunst.“ Anas Vater Julio Baute, einst von den Faschisten verfolgt, hütet als betagter, aber rüstiger Portier die weniger rüstigen Alten im Heim, Eulalia, die Haushaltshilfe der Familie González, hat angesichts der Wirtschaftskrise noch ganz andere Sorgen.

„Ein Freistaat, so hat Sidney sich die Zukunft der Insel immer vorgestellt, wenn schon keine britische Kolonie, dann ein Freistaat. Keine Zölle, keine Steuern. Um die Straßen von den Packstationen zu den Verladekais, um die Erweiterung des Hafens würden sich die Firmen kümmern, in ihrem eigenen Interesse. Die tägliche Portion Gofio wäre den Einheimischen sicher.“ (1919).

Von diesem Ausgangspunkt in der Gegenwart aus erzählt Inger-Maria Mahlke rückwärts, hinein bis in das Jahr 1919, als die Insel wirtschaftlich fest in der Hand der Briten und Amerikaner war. Die feudale Gesellschaftsordnung begünstigt den Aufstieg einzelner Familien, die auch die Zeit der wirtschaftlichen Isolation während der Franco-Diktatur unbeschadet überstehen. Statt Land- und Wasserrechten und dem Export von Bananen und Tomaten bringt die Demokratie und die Öffnung des Landes neue wirtschaftliche Möglichkeiten: Tourismus ist die neue Währung.

Doch, so zeigt es Inger-Maria Mahlke in ihrem Experiment eines Familienromans, von der Entwicklung profitiert keiner: Die González, die für die „upper class“ stehen, wirken degeneriert, auch ob Rosa eine Hoffnungsträgerin wird in ihrer „irgendwas-mit-Kunst-Opposition“ ist ungewiss. Die Mittelschicht muss durch alle Jahrzehnte hinweg um ihren Platz bangen, ist den Wogen der Politik ausgeliefert wie ein Boot auf dem Ozean. Und die unteren Zehntausenden, repräsentiert durch Eulalia, ihre Mutter Merche und deren unbenannte, nur als „Katze“ bezeichnete Mutter, bleiben dort, wo eine auf Kapitalismus und durch den Katholizismus geprägte Gesellschaft sie vorgesehen hat: Unten.

In „Der Tagesspiegel“ wurde der Roman von Carsten Otte hervorgehoben:

„Der Roman heißt nicht nur „Archipel“, er ist auch in ästhetischer Hinsicht eine Art Inselgruppe mit sehr unterschiedlichen Eilanden, die unterirdisch miteinander verbunden sind und von Mahlke sowohl in literarischer Lupenansicht als auch aus einer Art Helikopter-Perspektive untersucht werden. Als wäre dies nicht allein eine literarische Herausforderung, bietet der Roman formal und inhaltlich ein alles überwölbendes Hauptthema, und das besteht im beeindruckenden Versuch, Geschichte und Lebensgeschichten gegen die bedingungslose Macht der Zeit zu erzählen.“

Hinzuzufügen ist, dass das Buch, auch wenn die Vielzahl an Personen und die Technik des Rückwärts-Erzählens kein Easy-Reading ermöglichen, durch seine bildkräftige Sprache und den beinahe lakonischen Stil der Autorin (die in Lübeck und Teneriffa aufgewachsen ist) überzeugen. Alles in allem: Excelente!


Informationen zum Buch:

Inger-Maria Mahlke
Archipel
Rowohlt Verlag 2018
20,00 Euro
436 Seiten, gebunden, Lesebändchen


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Paul Scheerbart: Katerpoesie

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Bild: Birgit Böllinger

Moderner Gassenhauer

Der Eremit ist dick und groß;
Er haßt die Nebenmenschen bloß.
Er liebt nur seine Klause
Und bleibt daher zu Hause.

Die ganze Welt ist ihm Pomade.
Die Nebenmenschen sagen: schade!
Das aber rührt den Teufel nicht.
Hat er nur stets sein Leibgericht,
So ist ihm alles piepe –
Der Haß und auch die Liepe.

Auch der, der diese Verse schrieb, blieb sein Leben lang ein Einzelkämpfer. Er war der Dichter, der sein Leben dem Perpetuum Mobile widmete. Er war der Zeichner, der den Verlag der Phantasten gründete. Und er war der Lyriker, dessen Buch als eines der ersten im Rowohlt Verlag erschien: Paul Carl Wilhelm Scheerbart (1863-1915), der auch unter den Pseudonymen Kuno beziehungsweise Bruno Küfer arbeitete.

Erich Mühsam schrieb in seinen “Unpolitischen Erinnerungen”:
“Es wird — hoffentlich! — nicht nötig sein, Scheerbart als Dichter vorzustellen. Obgleich seine Bücher, die es so sehr verdient hätten, keine hohen Auflagen erreicht haben und, wie es scheint, jetzt völlig vom Markt verschwunden sind, hat es doch eine Zeit gegeben, die dem humorvollsten Phantasten und dem phantasievollsten Humoristen der modernen deutschen Literatur wenigstens die platonische Anerkennung nicht schuldig blieb. Die Zeit aber, die diesen kosmischen Spötter als sich zugehörig erkennen wird, diese Zeit, daran zweifle ich nicht, wird noch kommen. Es wird die Zeit sein, die von Freiheit des Menschen und seiner Gedanken- und Gefühlswelt wissen und die hinter dem dröhnenden Lachen des Dichters, der seine philosophischen Romane auf dem Mond und dem Jupiter spielen läßt, den tiefsten sozialen Ernst heraushören wird. Wer Paul Scheerbart persönlich nahestand, der sah, wie einheitlich diese Persönlichkeit war.”

Dies war 1927 – Scheerbart war gerade nur zwölf Jahre vorher, völlig verarmt und in Folge eines Gehirnschlags, gestorben. Schon zu Lebzeiten hatten seine Bücher keine hohen Auflagen erreicht. Zwar erschien Scheerbarts erster Roman, “Die große Revolution”, 1902 im Insel Verlag, 1909 verlegte Ernst Rowohlt Scheerbarts skurrile Gedichtsammlung “Katerpoesie”. Obwohl er somit zu den Gründungsschriftstellern zweier bedeutender Verlage zählte – der Bekanntheitsgrad Paul Scheerbarts blieb begrenzt. Immer noch gilt er als “Geheimtipp” oder etwas für literarische Kenner – dabei ist er einer der großen Autoren phantastischer Literatur, seine versponnene Poesie beeinflusste DADA und die Expressionisten.

Scheerbart lässt sich in keine Schublade pressen. Einerseits schrieb er humorvolle, warmherzige, ironische, skurrile, vor Lebenslust sprühende Verse, aber andererseits entwarf er phantastische Welten, stilisierte seine eigene zu einer Kunstwelt, ging gedanklich über Grenzen, über die ihm nicht jeder folgen mochte oder folgen kann.

Viel zitiert werden die letzten beiden Sätze am Ende der “Katerpoesie”: “Charakter ist nur Eigensinn. Es lebe die Zigeunerin!”. Das Gedicht in voller Länge zeugt von der inneren Verfasstheit seines Schöpfers:

Sei sanft und höhnisch!
Charakter-Cyklus

Charakter ist nur Eigensinn;
Ich bin mit mir zufrieden.
Ich geh nach allen Seiten hin;
Wir sind ja so verschieden.

Geht mir mit der Quälerei!
Sie macht wirklich kein Vergnügen;
Mir kann nur die Wurschtigkeit
Toll und voll und ganz genügen.

Was wie ein Schienenpaar zerfahren ist,
Das ist noch härter als der Antichrist.

Ich möcht am liebsten meine Tinte
Dem Menschenvolk ins Blutgeäder spritzen.
Ich will mich bloß nicht so erhitzen.

Glaube mir:
Ich streichle dir
Die zarten vollen Wangen.
Glaube mir:
Ich hab nach dir
Wahrhaftig kein Verlangen.
Ich will dir immer gut sein!
Bleibe mir nur ewig fern
Wie der stille Abendstern.

Ich hab die ganze Nacht gelacht –
Natürlich – nur im Traume!
Jetzt bin ich endlich aufgewacht –
Natürlich – noch im Raume!
Ich kann nun nicht mehr lachen!
Was soll ich also machen?
Weiterwachen?

Sei klein – dann ist die Welt so groß!
Sei schwach – dann ist die Welt so stark!
Sei dumm – dann ist die Welt so klug!
Sei stumm – dann ist die Welt so laut!
Sei arm – dann ist die Welt so reich!

Reimerei und Schweinerei!
Mir ist alles einerlei!
Alte Katzen sind nicht blöde.
Aber jene Untermenschen,
Die ich täglich braten möchte,
Machen mir die Welt so öde.

Mir ist alles einerlei!

Mensch, sei frei!

Ach, nur im Dunkeln
Funkeln die Sterne.

Freche Fratze,
Deine Glatze
Ist nicht alt,
Auch nicht jung,
Bloß voll Dung,
Hast du bald
Dung genung?

Die Eitelheit, die Eitelkeit –
Die steckt ja wohl im Narrenkleid.
Doch bei den steifen ernsten Leuten –
Da steckt sie unter allen Häuten.

Der Nebel meiner Lebensqual
Ist dunkel, trüb und fett.
Ich liege still zu Bett.

Fahrig, lax, frivol und wischig
Ist die große Alterskunst –
Gräßlich ist der ganze Dunst.

Doch die stillen Flaggenstöcke –
Freunde, die laßt stehen,
Wenn auch die Spektakelfeste
Lichterloh vergehen.

Die Flaggenstöcke gingen tief
In unsre alte Erde ‘rein.
Wir aber gingen immer schief –
Im Sonnen- wie im Mondenschein.

Alte böse Menschen schimpfen
Über meine Lustigkeit.
Und das ist doch weiter nichts als
Alter, dunkelgelber Neid.

Du kindische Kröte,
Dich quetsch ich zu Brei.
Ich mag doch nicht hören
Die Mopslitanei,
Die sich lustig macht
Über den, der lacht.

Ich schmiß einen Menschen zum Fenster hinaus –
Natürlich – nur im Traume!
Ich fragte höflich die Mama:
Wozu ist das Männchen da?

Was denkt sich denn der junge Fant?
Ich liebte nie mein Vaterland.
Das tun ja schon so viel Soldaten!
So selbstgefällig bin ich nicht!

Lieber süßer Kannibale,
Liebst du meine Tante Male?
Friß sie auf – sie ist gesund –
Ihre Welt wird ihr zu bunt.

Klarheit wollt ihr?
Dicke Klarheit?
Seid ihr echte Untermenschen?
Wollt ihr nicht den kummervollen
Rausch der Ewigkeit umhalsen?
Wollt ihr nicht den götterhaften
Allempfindungsdünkel kosten?
Aber nein: ihr seid gescheidter;
Eure Sehnsucht will ins Bettchen,
Denn der liebe Sandmann kam.

Ich weiß, was ich begehrte;
Nie klar wird das Verklärte.
Mit den Ketten will ich rasseln,
Daß das Trommelfell euch platze!
Es erblüh in euern Dasseln
Alles Glück in einem Satze.

Ach, nur im Dunkeln
Funkeln die Sterne.
Breite Nachtkapuzen,
Ich will euch nur uzen!
Keiner sticht euch tot!
Alles ist im Lot!

Überwinden, überwinden
Wollen wir die letzten Trümpfe.
Und wenn wir das Letzte finden,
Machen wir uns auf die Strümpfe.

Charakter ist nur Eigensinn.
Es lebe die Zigeunerin!

Schluß!!

Seine Leidenschaft: Das Perpetuum mobile

Sein Werk und seine Interessen waren dergestalt vielfältig, dass dies in einer Kurzbiographie kaum umrissen werden kann. Neben dem Schreiben beschäftigte er sich vor allem mit Architektur und Erfindungen. So beeinflusste er mit seinen Aufsätzen zur Glasarchitektur auch die jungen Bauhaus-Architekten. Bruno Taut widmete ihm ein Glashaus bei der Werkbundausstellung 1914, mit dem Taut erstmals auch internationale Anerkennung fand. Ebenso faszinierend sind Scheerbarts Versuche zum “Perpetuum mobile”. Er beschäftigte sich jahrelang mit dieser Forschungsarbeit. Das Perpetuum mobile war für ihn “Wüstenkultur im großen Stil. Dagegen ist der Panamakanal eine Bagatelle.“ Mehr dazu findet man in einer der umfangreichsten Sammlungen im Netz unter www.scheerbart.de.

Völlig verarmt starb Paul Scheerbart 1915 an einem Gehirnschlag. Später wurde von Walter Mehring verbreitet, er habe sich aus Protest gegen den Ersten Weltkrieg zu Tode gehungert. Das Gerücht ließ sich nicht halten. Hungrig – im mehrfachen Sinne – materiell, aber vor allem geistig – hungrig nach Wissen, neugierig und phantasievoll, das war Scheerbart aber wohl sein Leben lang.

Nie verzagen, niemals klagen!
(1892)

Nie verzagen, niemals klagen!
Sei mein stetes Fluchtpanier.
Hab ja längst gelernt entsagen;
Niemals ich den Mut verlier.

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William Faulkner: Schall und Wahn

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Bild von nile auf Pixabay

„Als der Schatten des Fensterrahmens auf die Vorhänge kroch, war es zwischen sieben und acht Uhr, und als ich die Taschenuhr ticken hörte, lag ich wieder in der Zeit. Sie hatte Großvater gehört und als Vater sie mir schenkte, sagte er, ich schenke dir das Mausoleum jeglicher Hoffnung und jeglichen Begehrens, wie furchtbar passend, dass du sie benutzen wirst, um die reducto absurdum* aller menschlichen Erfahrung zu erlangen, und sie wird deinen individuellen Bedürfnissen kein bisschen besser entsprechen als seinen eigenen oder denen seines Vaters. Ich schenke sie dir, nicht damit du immer an die Zeit denkst, sondern damit du sie ab und zu für einen Moment vergisst und nicht im Versuch, sie zu erobern, deinen letzten Atem verschwendest. Weil keine Schlacht je gewonnen wird. Schlachten werden nicht einmal geschlagen. Das Schlachtfeld offenbart den Menschen nur seinen eigenen Wahn, seine Verzweiflung, und der Sieg ist eine Illusion der Philosophen und Narren.“

*Falsche Form der lateinischen Wendung „reductio ad absurdum (wörtlich: Zurückführung auf das Widersinnige), der sogenannte Widerspruchsbeweis aus der Logik. Eine Aussage wird dadurch widerlegt, dass aus ihr der Widerspruch zu einer anerkannten These folgt.

„Schall und Wahn“, William Faulkner (OA: 1929) in der Neuübersetzung von Frank Heibert, 2014, Rowohlt Verlag.

Ähnlich wie sein Vater wird auch Quentin nicht versuchen, den Kampf gegen die Zeit aufzunehmen – am Ende dieses Tages, den Faulkner aus der Perspektive Quentins in einem mitreißenden Bewusstseinsstrom erzählt, wird der junge Mann sich das Leben nehmen, wird die Zeit damit nicht überwinden, aber vermeiden, er durch den Freitod, sein Vater, der sich zu Tode trinkt, zuvor durch Selbstmord auf Raten, durch das Ausschalten der Zeit im Rausch. Das Ticken der Uhr, das Läuten der Kirchenglocken ist ein Leitmotiv dieses grandiosen Romanes, von dem Faulkner selbst sagte, er sei ihm der liebste seiner eigenen Werke: Die Zeit, sie ist über diese Südstaatenfamilie, deren Niedergang der Nobelpreisträger aus vier Perspektiven beschreibt, hinweggegangen. Die Zeit der Compsons, deren einstmals grandioses Herrenhaus verlottert, sie ist vorbei. Schall und Wahn, Niedergang und Verzweiflung: Die Buddenbrooks auf amerikanisch, nur mit weitaus mehr Fleisch, Blut und Tränen.

„Das Leben ist an Gut und Böse nicht interessiert…Das moralische Gewissen des Menschen ist der Fluch, den er von den Göttern anzunehmen hatte, damit er von ihnen das Recht bekam, zu träumen.“

Dieses Faulkner-Zitat stellt der Verlag seiner Buchbewerbung voran – eine Essenz dessen, was auch die Figuren in „Schall und Wahn“ prägt, gebeutelt vom Leben, Opfer ihres Lebens, aber nicht frei von Träumen, auch wenn es vielleicht die falschen Träume sind, auch wenn sie vielleicht zum Scheitern verurteilt sind.

Die Welt ist ein Irrenhaus, und wenn du mit besonderem Pech gesegnet wirst, so wirst du in eine neurotische Familie hineingeboren: Schemenhaft, handlungsunfähig, in sich selbst verstrickt erscheint die ältere Generation – der Vater sich in den Alkohol flüchtend, die Mutter in ihr abgedunkeltes Zimmer oder wahlweise in unreflektiertes Jammern. Die vier Nachkommen wären sich selbst überlassen, blieben da nicht, gleichsam wie ein positives Gegenbild, die schwarzen Hausangestellten, vor allem in Gestalt von Dilsey, die für Liebe, Wärme, Fürsorge steht. Doch der moralische Bankrott ist unaufhaltbar: Quentin, der älteste Sohn, in Schuldgefühlen wegen der Liebe zu seiner Schwester Candance verstrickt, nimmt sich das Leben. Jason, Hauptfigur des dritten Kapitels, ist gefangen in seinen Minderwertigkeitsgefühlen. Er, der als jüngster weder studieren noch entfliehen konnte, ist der Ewig-zu-kurz-Gekommene, der aus Hader über sein Schicksal voller rassistischer und sonstiger Vorurteile steckt, der sich und anderen das Leben mit aller Macht noch vollends vergällt. Candance schließlich wird nach einer Schwangerschaft in eine ungeliebte Ehe getrieben, nach der Scheidung von der Familie verstoßen.

Lichtpunkte sind in diesen verstrickten Verhältnissen ausgerechnet die Underdogs, die scheinbar „Minderwertigen“: Der geistig behinderte Sohn Benjy, mit dem das Buch beginnt, die mütterliche Dilsey, mit der der Roman endet – eine Klammer, die dann doch etwas Trost spendet in einer heillos verfallenen Welt. „Schall und Wahn“ ist jedoch nicht nur inhaltlich ein herausforderndes Buch – sondern auch stilistisch ein Kunstwerk, eine Herausforderung, die zum Lesen im Fieberwahn führen kann und mit Nachschall belohnt. Philippe Djian schreibt in seinem Buch über seine maßgeblichen Schriftsteller („In der Kreide“, Diogenes Verlag) über Faulkner:

„Alle großen Werke haben mehrere Zugangsmöglichkeiten. Sie lassen nie jemanden vor verschlossener Tür. Sie führen uns immer auf die eine oder andere Weise dem Licht entgegen.“

Um Faulkner zu lesen, benötigt man eine Portion Unerschrockenheit. Die Orientierung am allein Schöngeistigen hilft da nicht weiter. Nochmals Philippe Dijan:

„Bei Faulkner stößt man auf viel Schweiß, viel Brutalität, viel Licht. Seine Protagonisten sind einfältige Menschen, gefallene Mädchen, Schwärmer, Rohlinge, Heilige und Märtyrer. Daher kann man sich leicht vorstellen, wie verdichtet diese berühmten Monologe sind, ihre düstere, von Blitzen erhellte Schönheit, ihre schwüle Atmosphäre, ihre schwindelerregenden Abgründe.
Faulkner ist ein Meister des Aufbaus. Darüber sollte man allerdings nicht das Wesentliche vergessen: die Macht seiner Worte, den poetischen Hauch, der sich wie ein undefinierbarer, unregelmäßiger leichter Wind erhebt, kommt und geht, sich um die eigene Achse dreht, zunimmt, bis er auf allen Seiten pfeift und heult und alles auf seinem Weg hinwegfegt.“

Dieser Windhauch, der zum Sturm wird: Er ist in „Schall und Wahn“ – unter allen Büchern Faulkners auch für mich das mitreißendste – besonders zu spüren. Welches Wagnis, einen Roman aus der Perspektive eines geistig Behinderten zu beginnen – doch schon dieser Monolog zeigt Faulkners ganze Kunst, seine Sprachmacht, sein Geschick im Aufbau. Es ist die leichte Brise, die Ruhe vor dem Sturm.

„Ich hab nicht geweint, aber ich konnte nicht aufhören. Ich hab nicht geweint, aber die Erde blieb nicht still, und dann hab ich doch geweint.“

Benjy ist der Seismograph, der in seiner ganzen geistigen Unmittelbarkeit (NICHT: Beschränktheit) die Strömungen aufnimmt und widergibt, die die Familie durchlaufen. Schon dieses Eingangskapitel eine tour de force, führt dann der Perspektivenwechsel zu Quentin zu einem inneren Monolog, der jenem Bewusstseinsstroms Mollys in „Ulysees“ durchaus vergleichbar ist (wenn auch weitaus kürzer). Sprach- und Perspektivenwechsel dann erneut hin zu Jason, das innere Auge des Tornados wird erreicht, Erschöpfung, Ruhe, vielleicht auch Neubeginn im Schlusskapitel.

Eine Herausforderung für den Leser, erst recht eine für den Übersetzer. Frank Heibert erläutert in einem Nachwort zur Neuausgabe beim Rowohlt Verlag seine Herangehensweise, beispielsweise den Verzicht auf Dialektanleihen:

„Zu Faulkners beherzten literarischen Wagnissen gehört auch seine Art, mündliche Sprache zu verschriftlichen. Wann immer schwarze Figuren zu Wort kommen, notiert er, sozusagen in ausgeschriebener Mimikry, ihre Aussprache, fast eine Transkription: ein auffälliges Mittel, um die Eigenständigkeit der Sprecher und ihren Abstand zu den weißen Herren zu markieren, und eine weitere ästhetische Qualität dieses an literarischen Höhepunkten reichen Romans. (…).
Dass William Faulkner das Black American English der schwarzen Underdogs zur Literatursprache erhebt, ist politisch wie sprachlich ein starker Effekt. Für die Übersetzung ist es die größte Herausforderung. Es handelt sich um eine regional wie sozial geprägte Variante des Englischen, also Dialekt und Soziolekt zugleich. Das übersetzerische Dilemma ist offensichtlich: Wie lässt sich Dialektales übersetzen? Dialekte sind an Regionen geknüpft. (…). „

Christopher Schmidt nannte in einer Besprechung in der Süddeutschen Zeitung die Übersetzung durch Frank Heibert „titanisch“. Tatsächlich ist sie im Vergleich zu der älteren Übertragung von Helmut M. Braem und Elisabeth Kaiser (erhältlich beim Diogenes Verlag) kunstvoller, näher am Original, trotz des Verzichts auf Dialektismen. Und allein schon wegen Heiberts Gedanken zur Unübersetzbarkeit des Titels „The Sound and the Fury“ lohnt sich diese Ausgabe. Entlehnt hat Faulkner dieses aus Shakespeares „Macbeth“. Das Leben,

„a tale told by an idiot, full of sound and fury, signifying nothing“.

Mehr gibt es nicht zu sagen.

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Erika und Klaus Mann: Das Buch von der Riviera

Erika Mann

Bild: (c) Michael Flötotto

„Entschuldigen Sie, wir haben Sie ein bißchen kreuz und quer geführt, Ihnen zwar im Vorübergehen manches gezeigt, aber es war kein rechtes System drin. – Wo esse ich? Wo wohne ich? Wo trinke ich meinen Cocktail? Wo kaufe ich mir einen Kragen? Wo tanze ich? Wo langweile ich mich? Wo gebe ich, um Gottes willen, mein Geld aus?“

Erika und Klaus Mann, „Das Buch von der Riviera“, 1931, Rowohlt Taschenbuch.

Auf die Manns konnte man sich als Reisender Anfang der 1930er Jahre verlassen – keine der Fragen bleibt unbeantwortet im Buch von der Riviera. Dieser literarische Reiseführer schmeckt nach Sonne. Man meint, das Meer zu riechen. Der Duft von Bouillabaisse steigt in die Nase. Der Geschmack von südlichen Früchten. Fischgeruch und Blumenduft, dazwischen betörendes Parfum und Angstschweiß, wenn die Roulettekugel klackert.
Und doch, bei allem Laissez-faire und aller Leichtigkeit wird einem beim Lesen weh ums Herz. Weiß man doch um die Vergänglichkeit der Dinge. Das Ende des Seins. Die Riviera, sie ist nicht mehr, so wie sie einmal war. Schon anno 1931, als dieses Buch entstand, verblasste der Glanz früherer Tage, die Belle Epoque, die Glanzzeit dieser Küste, liegt zurück. Jahre später werden manche der Orte, insbesondere Marseille, Sammelpunkte der Verzweifelten, Flüchtenden und Wartenden, die auf eine Schiffspassage, ein Visum, ein Schlupfloch aus dem Mauseloch hoffen, die den brennenden Kontinent verlassen müssen.

„Cannes hat viele Gesichter“, schreibt das Autoren-Duo in seinem Buch. Für einen der Beiden trägt die Stadt eine tödliche Maske: Klaus Mann arbeitet hier 1949 an seinem letzten, unvollendet gebliebenen Roman, unterzieht sich dann noch einige Tage einer Entziehungskur in Nizza und kehrt in diese Stadt zurück, in die „man“ hingehen kann: 1931 ist damit noch „le monde“, sind die oberen Zehntausend gemeint, 1949 ist es eine Rückkehr zum Sterben. Am 21. Mai nimmt Klaus Mann sich mit Schlaftabletten das Leben. Seine letzte Ruhestätte nach einem unruhigen, getriebenen Leben ist auf dem Friedhof Cimetière du Grand Jas zu finden.

Doch als Erika und Klaus Mann im Auftrag des Piper Verlages die Côte d` Azur bereisen, um einen Band der Reihe „Was nicht im `Baedeker´ steht“ zu schreiben, ist die Welt halbwegs noch in Ordnung. Das Buch sprüht vor französisch-südlicher Leichtigkeit. Immer wieder wird dieser spritzig-witzige Text ironisch durchbrochen. So heißt es denn auch:

„Cannes hat viele Gesichter. Schauen Sie doch in die kleine Austernstube „Le Caveau“ (auch ziemlich in der Nähe des Hafens), wo Sie für ein paar Francs frische, wenn auch etwas grüne huîtres bekommen: so was an verräucherter Gemütlichkeit war ja noch gar nicht da, das ist schon direkt Rothenburg ob der Tauber.“

Man kann es sich so gut vorstellen, dieses junge, überschäumende, elegante, kreative Paar auf seinen Streifzügen durch die eleganten Hotels, die Kasinos, die kleinen Bars, die billigen Kaschemmen, die Rotlichtviertel. Wieder einmal sind die so eng Verschwisterten, beinahe Zwillinge (es trennt sie nur ein Lebensjahr), aus der Enge des großbürgerlichen Milieus ausgerückt, der Strenge des „Großmeisters“ entkommen. Dessen Name öffnet zwar auch an der Riviera Türen, wirft aber auch seine Schatten – nicht zuletzt einer jener Schatten, an denen Klaus zerbrechen wird. Doch auch wenn der Nobelpreisträger über manches literarische Unternehmen seiner beiden Ältesten die Nase rümpft – wenn an der blauen Küste das Geld zur Neige geht, schießt Thomas Mann aus dem fernen München neues zu.

Natürlich ist „Das Buch von der Riviera“ nicht nur ein Reiseführer, der von Marseille, Toulon, Cannes und Nizza bis Monte Carlo führt, sondern auch ein „Who is who“ der feinen Gesellschaft und der Bohème, die sich dort tummelt:

„Der kleine, geistreiche Balte, der dort drüben über ausgefallene literarische Leckerbissen spricht, ist der Zeichner Rolf von Hoerschelmann, eine der berühmtesten Schwabinger Koryphäen; und die lange Figur, die dort hinten naht, ist kein geringerer als Aldous Huxley, dessen Romane richtunggebend für die junge englische Literatur sind, und kostbarster Bestandteil der europäischen. Hier nennen ihn die Leute Uelex, weil es ihnen bequemer ist, es klingt eher münchnerisch, als provençalisch. Die Angelsachsen sind eine Clique für sich, die sich aber mit der französisch-deutschen gelegentlich berührt und vermischt. Sie ist im Trinken noch stärker, als die der anderen Nationen. Der Lyriker Campbell, der einen großen Namen bei seinen Landsleuten hat, soll darin das Phantastischste leisten.“

Es ist freilich nicht die ganz große Literatur, die die Geschwister mit diesem Auftragsbuch verfasst haben, oft ein wenig ermüdend, dieses Stippvisitieren einer Lokalität nach der anderen, dieses „name-dropping“. Aber eher stellt sich die Müdigkeit in der Art nach einem faulen, sonnenverbrannten Tag am Strand ein, dieses leise Gähnen, das ein Vorzeichen ist für den Appetit auf einen Aperitif, ein Abendessen im Freien und mehr Meer. Das Buch lässt einen die imaginären Koffer packen – trotz der beinahe seherischen Warnung der Manns:

„Die Konturen dieser Landschaft werden auf den Bildern von Derain und vieler anderer von der Nachwelt geliebt werden, wenn hier alles von großen Hotels zugebaut sein wird und die Bohème sich bis an den Kongo flüchten muß.“

Das bei Rowohlt erschienene Taschenbuch ist übrigens ein Reprint der Originalausgabe und beinhaltet auch Zeichnungen von Walther Becker, Rudolf Großmann, Henri Matisse und anderen.

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#VerschämteLektüren (22): Bernhard Blöchl und “Die perfekte Masche”.

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Bild von Elias Sch. auf Pixabay

Als Bernhard Blöchl (unter anderem der Mann hinter www.lieblingssaetze.de) mir einen Beitrag für die Verschämten Lektüren ankündigte, war ich schon sehr gespannt: Was kann da wohl noch kommen? Denn sein Julian Hartmann, auch genannt Juli, Held seines Debütromans, hat eigentlich schon so ziemlich alle Peinlichkeiten durchlebt…
Ein “Schelmenroman” wurde “Für immer Juli” genannt, und das ist er tatsächlich – und ein großes Lesevergnügen. Für den “sensiblen Gleichberechtigungsbefürworter” Julian, der aus Liebeskummer zum Macho mutieren will, muss man einfach Sympathien hegen. Woher die Inspiration zum Buch kam, das verrät der Autor hier – ganz verschämt:

Als ich zuletzt ein Buch bis zur Unkenntlichkeit vollgekritzelt, Ecken geknickt und Zeilen farbig markiert hatte, war ich noch Student gewesen, und das Einzige, was ich damals aufgerissen hatte, waren die Fertigsuppen gegen den Instant-Hunger. Zehn Jahre später – ich war inzwischen Journalist und Autor, und sowohl die Sache mit der Ernährung, als auch die mit den Frauen hatte sich verbessert – malträtierte ich erneut ein Buch auf so respektlose Weise. Das silberne Taschenbuch hieß „Die perfekte Masche“ und im Untertitel: „Bekenntnisse eines Aufreissers“.

Für die herrlich rotwangige Blogreihe „Verschämte Lektüren“ habe ich das silberne Taschenbuch aus der zweiten Reihe des untersten, am meisten verstaubten Regals hervorgezogen – und staune gerade über die vielen Eselsohren und Markierungen (in rosa übrigens, blau war wohl gerade aus).

Damit Sie mir glauben, dass ich das Buch „vom Casanova der Gegenwart“, wie der Autor Neil Strauss mitunter genannt wird, nicht aus persönlicher Verzweiflung studiert habe, muss ich etwas weiter ausholen (ob Sie mir hinterher glauben werden, bleibt Ihnen überlassen).

Vor vier Jahren, zu einer Zeit, die so aufregend war wie jeden Abend Frühlingsflirts, arbeitete ich an meinem ersten Roman. „Für immer Juli“ (erschienen 2013 im MaroVerlag) sollte eine schelmische Komödie über die Identitätskrisen des modernen Mannes werden.

Ich erfand Julian Hartmann, genannt: Juli, den metrosexuellen Protagonisten der Geschichte, und überlegte mir allerlei Hürden und Konflikte, mit denen ich ihn bei seiner Suche nach der verlorenen Männlichkeit konfrontieren konnte. Wie man das halt so macht als Schriftsteller, der es seinen Figuren bei ihrer Wandlung nicht zu leicht machen will. Durch einen Artikel in der GQ wurde ich aufmerksam auf die Pickup-Szene, auf professionelle Aufreißer und auf Strauss’ Buch, das ursprünglich 2005 in New York als „The Game“ erschienen war. Da ich noch in keinem deutschen Roman von den schrägen, wilden, verrückten oder bescheuerten Erlebnissen in einem Aufreißer-Seminar gelesen hatte, spielte ich mit dem Gedanken, etwas Ähnliches in meiner Geschichte stattfinden zu lassen.

Also las ich das Buch. Ich lernte Begriffe wie EFL (ewig frustrierter Loser) und HB (Heißes Babe), erfuhr, was “Opener”, “Pfauentheorie”, “Drei-Sekunden-Regel” und “beiläufige Herabsetzung” zu bedeuten hatten und stieß auf Sätze wie diese: “Wer eine Frau erobern will, muss zuweilen das Risiko eingehen, sie gleich wieder zu verlieren”, oder: “Es ging um die Eleganz des Spiels, die Grazie des avancierten Flirts”, oder: “Ein echter Profi-Aufreißer gibt prinzipiell keine Drinks aus, solange er nicht mit dem betreffenden Mädchen geschlafen hat; Geschenke sind ebenfalls tabu.” Solche Sachen.

Sprachlich eher so der Playboy-Style, literarisch belanglos, sind die Bekenntnisse ein wilder Ritt durch eine derbe und sexistische Parallelwelt. Rainer Brüderle ist ein Altherrenwitz dagegen, das können Sie mir ruhig glauben. Mich hat das Buch erschüttert, die Lehren sind gefühlskalt, frauenfeindlich und egoistisch – aber auch raffiniert, denn unterschätzen sollte man UMAT (ultramännlichen Alphatiere) keineswegs, trotz der affigen Abkürzungen. Der internationale Bestseller in Ich-Form basiert auf den persönlichen Erfahrungen des Journalisten Neil Strauss, die Szene und die Lehren sind keine Erfindung. Und auch wenn der Autor mit der Erkenntnis das Projekt beschließt, wahre Liebe brauche keine Tricks, so bleibt doch ein dystopisch anmutendes Nachgefühl. Bei mir zumindest.

Für meinen Roman war klar: Ja, ich wollte Juli mit dieser knallharten Männerwelt konfrontieren, schon weil er als sensibler Gleichberechtigungsbefürworter einen schreiberisch starken Kontrast dazu verkörpert. Allerdings wollte ich die deprimierende Emotionslosigkeit dieser Underground-Szene satirisch überhöhen, schon um im Genre der Komödie zu bleiben. Also trifft Juli in Wien, wo er ein derartiges Seminar besucht, unter anderem auf Frauen, die die immergleichen “Opener” und Maschen im Fünf-Minuten-Takt hören und sich langweilen, punktet unfreiwillig bei einem homosexuellen Mann und landet mit einer Fremden im Stunden-Hotel, in dem er es aber keine Stunde aushält …

Was mir das verschämte Experiment gezeigt hat: Manchmal dienen unbequeme Bücher eben auch als Inspiration. Ein Autor, der sich nur in Kreisen bewegt, in denen er sich wohlfühlt, ist ein schlechter Autor – so viel Phantasie er auch immer haben mag.

Bernhard Blöchl, Jahrgang 1976, ist Autor und Kulturjournalist aus München, der hauptsächlich für die Süddeutsche Zeitung und SZ Extra über Film, Pop und Literatur schreibt. Unter http://www.lieblingssaetze.de hat er ein Museum der schönen Sätze eingerichtet, wo er Romananfänge und Songzeilen sammelt und kommentiert. Sein Debütroman “Für immer Juli” ist 2013 im Maro-Verlag erschienen. Das begleitende Sachbuch, der satirische Ratgeber “Schluss mit luschig! Anleitung zum Mannsein”, kam beim Rowohlt Verlag im Juli 2014 heraus – unter dem Namen der Romanfigur Julian Hartmann. Es ist das Buch zum Blog zum Roman und damit der dritte Teil eines schelmischen Literaturexperiments. Derzeit schreibt Blöchl an seinem zweiten Roman. Die Pickup-Szene wird darin keine Rolle spielen.

Mehr Lesestoff von ihm gibt es unter:

www.bernhardbloechl.de

www.lieblingssaetze.de

www.schlussmitluschig.de