Karl Alfred Loeser: Requiem

Zu seinen Lebzeiten konnte Karl Alfred Loeser keines seiner Manuskripte veröffentlichen. Sein Roman „Requiem“ ist nun die späte Neuentdeckung eines Romans, der ein vielstimmiges Bild von Unterdrückung und Judenverfolgung im Nationalsozialismus zeichnet.

„Erich Krakau war ein bedeutender Künstler. Für ihn müsste es leichter sein, ins Ausland zu gehen. Aber nichts da, man misstraute ihr, verlangte Kontakte und Zertifikate und machte ihr immer neue Schwierigkeiten, einfach nur, wie sie bald entdeckte, weil er Jude war. Auch die aufgeklärten Länder, die sich auf ihre Freiheit und Werte so viel einbildeten, wollten keine Juden mehr. Es war wie eine ansteckende Krankheit, die um sich griff und allerorten Anhänger und Nachbeter fand. Lisa begriff, dass der Mensch in der Welt von allen Dingen das wertloseste und überflüssigste war.“

Karl Alfred Loeser, „Requiem“


Wie fragil, wie leicht zerbrechlich die Existenz eines Menschen ist, dies hat Karl Alfred Loeser am eigenen Leib erlebt: Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten flüchtet der junge Mann, 1909 in Westfalen geboren, zunächst nach Amsterdam, wo sein Bruder Norbert, ein bekannter Musiker, bereits lebt. Mit seiner Frau Helene, die er in Holland kennenlernt, geht die Flucht bis Brasilien weiter. In São Paulo findet Loeser eine Anstellung bei einer holländischen Bank, wird Vater, baut sich und seiner Familie eine neue Existenz auf, spielt in seiner Freizeit Geige in einem Laienorchester. Und: Schreibt. Erst nach seinem Tod 1999 findet die Familie ein Konvolut von unveröffentlichten Manuskripten, darunter Novellen, Romane, Theaterstücke.

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Erneut war Peter Graf an der Wiederentdeckung beteiligt

Wie anders dieses Leben verlaufen wäre, vielleicht als freie Künstlerexistenz, vielleicht als anerkannter Schriftsteller, hätte es nicht die gnadenlose Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten gegeben, darüber lässt sich heute nur spekulieren. Aber zumindest kommt nun einer seiner Texte doch an die Öffentlichkeit – ein grandioser Fund, der einer anderen sensationellen Wiederentdeckung zu verdanken ist: Als „Der Reisende“ von Ulrich Alexander Boschwitz fast 80 Jahre nach der Wiederveröffentlichung erneut erschien und um die Welt ging, wurde auch der Urenkel von Karl Alfred Loeser auf diesem Roman, der mitten aus dem Reich der Finsternis berichtete, aufmerksam. Und wandte sich an dessen Herausgeber Peter Graf. Der erkannte den Wert von „Der Fall Krakau“, wie Loeser den Text selbst betitelt hatte, editierte und lektorierte das Manuskript behutsam, wie er in seinem Nachwort zu „Requiem“ schreibt:

„Schwer war das in diesem Fall nicht, denn ein so geschickt durchkomponierter Roman macht es einem leicht (…). Requiem ist ein erstaunlich zeitloses und auch berührendes Buch, es unternimmt auf sehr eigenständige Weise den Versuch, zu verstehen, was unbegreiflich ist, und jenseits aller schmerzhaften Erfahrungen ist es nicht ohne Hoffnung.“

Loeser erzählt „den Fall Krakau“, die Vertreibung des letzten jüdischen Musikers an einem renommierten Theater in Westfalen aus dem Orchester, seiner Stadt und seinem Land spannend, beinahe in der Art eines Politkrimis. Erich Krakau ist ein weithin anerkannter Cellist, der sich trotz der dunklen Vorzeichen noch wohlaufgehoben in seinen Künstlerkreisen glaubt. Als ein befreundeter Arzt bei Nacht und Nebel vor der Gestapo flüchtet, hilft er diesem, glaubt sich aber immer noch in Sicherheit. Doch da setzt eine ungeheure Intrige ein: Der 22-jährige Fritz Eberle, ein musikalisch untalentierter Bäckersohn, mit Minderwertigkeitskomplexen behaftet, will Krakaus Stelle als Cellist am städtischen Sinfonieorchester. Und setzt dafür alle Hebel in Gang: Er besticht einen schmierigen Journalisten, der eine Hetzkampagne auslöst, SA-Claqueure stören ein Konzert, das Krakau gibt, schließlich wird der Musiker der Polizei und den Ränkespielen eines ehrgeizigen stellvertretenden Gauleiters ausgeliefert, der Krakau im „Judenkäfig“ unter der Erde des örtlichen Gefängnisses festsetzt. Dass dem Musiker mit seiner Frau Lisa in letzter Minute die Flucht aus dem deutschen Reich gelingt, ist dem couragierten Eintreten einiger Künstlerfreunde mit guten Beziehungen zu verdanken.

Ein vielstimmiges Bild aus dem Dritten Reich

Dass die Erzählung mit zunehmendem Tempo auch atmosphärisch immer beklemmender wird und beim Lesen mitreißt, ist nicht die einzige Qualität des Romans. Vielmehr sind es die verschiedenen Perspektiven, aus denen Loeser erzählt, und die ein glaubhaftes Bild von der Stimmung im sogenannten Dritten Reich, aber auch vom Schicksal der Exilanten vermitteln. Loeser lässt Opportunisten, Gewalt- und Machtmenschen, aber auch die „alte Garde“ am Beispiel des Gauleiters von Oertzen (ein Militär, der, die Flucht Krakaus ermöglicht und sich danach das Leben nimmt) auftreten, zeigt auf, wie in einer Diktatur allmählich Entmenschlichung einsetzt und Gleichschaltung funktioniert. Ebenso kommen in „Requiem“ aber auch die Stimmen aus dem Untergrund und dem Widerstand zu Gehör, die der Geflüchteten und Geknechteten. Ein vielstimmiger Chor, der diese Tragödie begleitet.

Wenn Loeser über sein Alter Ego Erich Krakau aus diesem Roman zu uns spricht, dann erhebt sich auch eine Stimme aus der Vergangenheit, die etwas zeitlos Mahnendes sagt, in diesen Zeiten so aktuell wie je:

„Es ist die verderbliche Sucht der Kleinlichen, Menschen einzuteilen, zu klassifizieren und Schuldige zu suchen. Hier Gut, dort Böse, hier Licht, dort Schatten, hier Arier, dort Jude.“ Doch, so der Musiker im Gespräch mit einem Kollegen: „Ist es denn Lüge, dass ich den Himmel liebe, unter dem ich geboren, die Landschaft, in der ich groß geworden bin? Ist es denn Lüge, dass ich Beethoven und Brahms liebe? Wenn das alles Lüge ist, dann gibt es nichts Wahres mehr auf der Welt.“

Es ist auch der Glaube an den Teil im Menschen, der in der Kunst so unglaublich Schönes zu erschaffen mag, ebenso wie der Glaube an die Liebe seiner Frau Lisa, der Erich Krakau in „Requiem“ aufrechterhält, als er allmählich erwacht und die bedrohlich zunehmende Gefahr für Leib und Leben erkennt. Es ist auch dieser Glaube an die Schönheit der Musik, die ihn mit der zunehmenden Entmenschlichung seiner Umwelt fertig werden lässt. Und vielleicht war dies auch der Glaube, von dem sich Karl Alfred Loeser in seiner Exilexistenz tragen ließ.

„Karl Loeser behielt recht“, meint Peter Graf in seinem Nachwort: „Die Finsternis wich einem neuen Licht, und wie den dunklen Wolken womöglich zu begegnen ist, die unentwegt und immer wieder aufs Neue aufsteigen, ist eine der Lehren, die sein Roman für uns Lesende bereithält.“


Bibliographische Angaben:

Karl Alfred Loeser
Requiem
Klett-Cotta Verlag, 2023
ISBN: 978-3-608-98684-6

Marlen Schachinger im Gespräch: Über das Schreiben, ein gutes Leben, den Tod

Die erste rein literarische Totenmesse „Requiem – Fortwährende Wandlung“ ist das Werk der drei Autoren Markus Orths, Michael Stavarič und Marlen Schachinger.

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Im Herbst 2017 erschien im österreichischen Verlag Septime ein ungewöhnliches Buch: „Requiem – Fortwährende Wandlung“, wohl die erste rein literarische Totenmesse. Ein Experiment in mehrfacher Hinsicht. Streng angelehnt an die Form des kirchenmusikalischen Totengedenkens, wie es die katholische Kirche kennt, setzen sich hierin drei Schriftsteller mit den Fragen um Leben und Tod auseinander. Die Form gab Struktur für dieses Projekt gemeinschaftlichen Schreibens, das Markus Orths, Michael Stavarič und Marlen Schachinger zusammenführte.

Am Anfang war das Wort. Nun folgt die Melodie zu diesem ungewöhnlichen Requiem: Der österreichische Kammersänger Wolfgang Bankl trat an die Autoren mit dem Wunsch heran, das Werk unter dem Subtitel „sprach: KLANG“ zu vertonen. Eine produktive Zusammenarbeit kreativer Köpfe entstand. Eine erste Teilaufführung wird diesen Herbst im Österreichischen Kulturforum in Bratislava (13.10., 18:00 Uhr) über die Bühne gehen, die Uraufführung ist für 2019 bereits geplant.

Ich führte mit Marlen Schachinger ein Interview zu diesem außergewöhnlichen Requiem.

Frage: Wie Du in dem Video beschreibst, war ein erster Mosaikstein zur Entstehung des Buches eine Lesung mit Michael Stavarič. Ihr hattet euch eher scherzhaft darüber unterhalten, eine Lesung für die Toten zu schreiben. Das Buch selbst ist jedoch von großem Ernst, von Ernsthaftigkeit geprägt – konntet ihr im Arbeitsprozess dennoch eine Leichtigkeit beibehalten?

Antwort: Jeder Schreibprozess bedarf mehrerer Entwicklungsstufen, um zu gelingen. Des Scherzhaften, um neue Denkräume zu öffnen, des Ernsthaften, um in die Tiefe zu gehen. Im Hinblick auf den Arbeitsprozess an »Requiem« spiegelte sich dies darin, dass wir alle drei wussten, der Ernst sei die Prämisse, die Leichtigkeit jedoch unabdingbar notwendig. So ist es uns auch ein Anliegen, bei der Auswahl der Lesestellen für Veranstaltungen, unsere Leser*innen in diese doch oftmals schwierige, emotionale Thematik einer Auseinandersetzung mit dem Sterben hinein- und auch wieder hinauszubegleiten; mit einem leisen Schmunzeln, vielleicht sogar mit einem Auflachen. Unseres Erachtens besteht zwischen Leichtigkeit und Ernsthaftigkeit kein Widerspruch. Oder man könnte auch sagen, dass Tragik und Komik zwei Blicke auf eine Landschaft sind. Sieh dich doch einmal um: Unser aller Leben ist von solch absurder Komik geprägt! Jeder einzelne Tag … Dies gerade in der Auseinandersetzung mit jenem Themenkreis – Sterben, Abschied, Wie leben?, Was hinterlassen? – im Blick zu behalten ist eine Lebensnotwendigkeit. Wie die Literatur …

Frage: Inwiefern unterscheidet sich so ein Schreibprozess zu dritt von der Arbeit alleine? War es gerade bei diesem Thema, einer Totenmesse, gut, vielleicht auch entlastend, sich mit anderen austauschen zu können?

Antwort: Nun, die Differenzen eines Arbeitsprozesses zu dritt gegenüber der gewohnten Einsamkeit am Schreibtisch sind eher struktureller Natur. Es gilt zum Beispiel abzuwarten, bis der eine Kollege mit seinem Textteil fertig ist – zumindest in einer Rohfassung. Der Zeitplan der Arbeit folgt also nicht bloß dem eigenen Gutdünken. Bei »Requiem« war es Markus Orths, der den Rahmen lieferte und damit die Basis des Gesamtwerkes. Basierend auf dieser Erstfassung machten sich Michael Stavarič und ich an die Arbeit, um Lesungsteil sowie Evangeliums-Pendant zu verfertigen. Was uns verblüffte, war die Tatsache, dass manche Komponenten, manche Textelemente bei allen dreien auftauchten, ohne dass wir dies je abgesprochen hätten. Damit wurde das finale Verweben der drei Teile natürlich ungemein erleichtert.

Erst in der Endphase, da wir Übergänge gestalten wollten, Verwebungen einsetzen, fand ein Austausch statt. Dieser ließe sich jedoch eher unter Korrektorat und Lektorat subsumieren. In die Sichtweise jedes Einzelnen auf die Thematik wollte ich nicht eingreifen.

Frage: Und hat sich Dein Blick auf den Tod, auf das Leben durch diese Art des gemeinsamen Schreibens konkret verändert?

Antwort: Ja, durchaus. Doch weniger aufgrund des gemeinsamen Schaffens, sondern vielmehr durch die thematische Beschäftigung mit dem Prozess des Sterbens als Abschied. Und das ist gut so: Neue Aspekte eines Themas, die während des Arbeitsprozesses sich auftun, motivieren zur Weiterarbeit und öffnen neue Denkräume. Sonst hätte ich dieses Projekt auch nicht umsetzen wollen. Ein Gutteil der Schreibmotivation ist eben Entdeckungslust. Was mich am Todes-Thema bislang überraschte: Zu Beginn meiner Beschäftigung war ich überzeugt, ich könne zwar kein ›Wozu?‹ beantworten,  hätte aber zumindest eine Ahnung, vielleicht sogar einen Begriff davon, was ›leben‹ hieße: eine ziemlich mühselige Angelegenheit, ein Balanceakt zwischen Sich-Abstrampeln und fortwährendem Kämpfen, 90% anstrengend, 10% entspannt, so ließe sich das Verhältnis pauschal formuliert zusammenfassen. Dachte ich. Nun, nach zwei Jahren der Beschäftigung mit jenem Thema würde ich sagen, es sind 90% Langmut (oder für diejenigen, die das Modewort eher verstehen: Gelassenheit) versus 10% K(r)ampf – maximal …

Frage: Wie kann man sich das ganz praktisch vorstellen: Nahm jeder von euch sich einen Teil der Totenmesse vor, um einen eigenen Text zu konzipieren, arbeitete daran eigenständig oder war es ein regelmäßiger Austausch, auch gegenseitige Kritik und Lektorat beinhaltend?

Antwort: Markus Orths, der sich vor allem für den Rahmen einer liturgischen Feier interessierte, begann. Er fertigte die Basis. Nach Lektüre dieses Rahmens begannen Michael Stavarič und ich parallel zu arbeiten. Wir sprachen da auch nicht viel miteinander ab, bloß die Bibelstellen, welche unseren jeweiligen Hauptfokus bilden sollten, damit hierin keine Überschneidungen geschehen mögen. Michael wählte sich Kain und Abel, ich das Buch Kohelet, zu dem ich seit vielen Jahren einen affinen Bezug habe, gerade weil es keine eindeutige Antwort geben will, weil es mehr ein philosophisches Nachsinnen ist.

Erst als alle drei Rohfassungen unserer Passagen fertiggestellt waren, tauschten wir uns miteinander aus. Dadurch, dass zufällig bereits Bezüge zueinander in allen drei Teilen existierten, war das Verweben ein eher einfaches Unterfangen. Mittels dieser wertschätzenden Kritik der anderen beiden erarbeitete alsdann jede/r für sich die Finalfassung.

Frage: Es ist, wie ihr annehmt, die erste Totenmesse, die nur als Text entstand – ich empfinde das Buch als sehr melodisch, habe einige Passagen daraus laut gelesen. Nun wird der Prozess quasi umgekehrt – euer Requiem wird vertont. Wie sehr seid ihr in die Arbeit des Komponisten mit eingebunden?

Antwort: Ich bin in diesen Arbeitsprozess eingebunden, und finde dies auch ungemein spannend, da eine Vertonung für mich Neuland ist. Kammersänger Wolfgang Bankl, der bei unserer Uraufführung als Gast anwesend war, trat wenig später mit dem Wunsch an mich heran, aus meiner Passage »Windhauch« eine vertonte Variante erarbeiten zu dürfen. Seither trafen wir einander mehrfach, tauschten uns aus. Wobei hier anzumerken wäre, das sprichwörtliche Heft habe hierbei naturgemäß Wolfgang Bankl in der Hand. Ich fungiere in diesem Zusammenspiel eher als Echoraum, sei es um Nuancen abzustimmen, hier die Erlaubnis zur Tilgung eines Wortes, zur Wiederholung eines Satzelements zu geben. Da Wolfgang Bankls Konzept einen Wechsel zwischen Gesang und Rezitation vorsieht, um dem Textwerk seinen Klangraum zu lassen, ist jede gesungene Aufführung auch eine vorgetragene …

Frage: Wird sich der Text durch die Vertonung verändern, werden, wie ich annehme, andere Akzente gesetzt?

Antwort: Minimal; und erstaunlicherweise kaum nennenswerte Veränderungen. Hier ein ›und‹ gestrichen, dort eine Wiederholung gesetzt – viel mehr Textarbeit forderte Wolfgang Bankl nicht ein. Für mich persönlich war dies ziemlich frappierend, ging ich doch zuerst intuitiv davon aus, dass meine Kohelet-Variation mehr oder weniger gänzlich umzuschreiben sein würde. Das war nicht der Fall. Nun, gegen Ende dieser Zusammenarbeit bin ich klüger geworden – so könnte man es nennen. Oder aber: Diese Herangehensweise hat auch mit Wolfgang Bankls Respekt vor Literatur zu tun, dass er in ein Kunstwerk nur dann eingreifen mag, wenn es ihm unabdingbar nötig scheint. Und damit dass er ein Meister seines Faches ist – er könnte auch das Telefonbuch singen, und es wäre faszinierend, ihm zu lauschen!

Frage: Als Chorsängerin bist du ja auch in der Musik zuhause – hattest du bereits beim Schreiben Melodien im Kopf, im Ohr? Und wenn ja, wie sehr beeinflusst das nun die Herangehensweise an die Vertonung?

Antwort: Für mich ist jedes Sprachkunstwerk immer die Erschaffung eines Klangraumes, meine Vorarbeiten im Bauplan ähneln der Erschaffung einer umfangreichen Komposition, und meine Notizen am Rand der Lesungspassagen haben durchaus den Charakter des Arbeitens an einer Partitur. In der Zusammenarbeit mit Wolfgang Bankl erhielt ich den Eindruck, dass er jenen Klangraum intuitiv erspürt – wenn ich dies mal so unwissenschaftlich und etwas pathetisch sagen darf …

Das klingt nun vielleicht alltäglich, ist es trotzdem nicht. Manchmal werden unsere Werke in Ausschnitten ja bei Radiosendungen von Schauspieler*innen gelesen, und mehr als einmal reagierte ich darauf mit – ich würde es nicht Ärger nennen, aber Verwunderung: Wenn ich hörte, wie sie die Interpunktion zum Beispiel schlicht ignorierten, mit ihren Vorstellungen eines Sprachmusters ignorant darüber hinwegpreschten. Oder die Debatten mit manchen Herausgeber*innen, die ein Textwerk aus unzähligen eingereichten Arbeiten auswählen, um dieses eine für eine Anthologie anzukaufen. Dann erhält man die Fahnen und sieht: Moment! Da wurde automatisiert jedes Redezeichen, einfache und doppelte nivelliert. Oder ähnliche Originalitäten! Als bestünde keine Differenz zwischen allen existenten Zeichen der Interpunktion oder als würde sich eine Literatin nichts zu ihrem Einsatz überlegen, sondern Zeichensetzung nach Zufallsprinzip über den Text streuen … Deshalb sind für mich solch andere Erfahrungen der Zusammenarbeit immer sehr erfreulich: Sie zeigen mir, dass es noch Menschen gibt, die ein Kunstwerk mal zuerst betrachten wollen, ihm lauschen, bevor sie es sich aneignen.

Frage: Euer Requiem ist ja kein klassischer „Trauergesang“, der den Tod in schwarzen Farben malt und dafür ein besseres Leben im Jenseits verspricht.

Antwort: Danke! Vielleicht auch deshalb nicht, weil wir an kein Jenseits glauben? Also, ich zumindest nicht. Und bitte auch keine Wiedergeburt, man verschone mich damit. Dieser einmalige Tanz ist mir komplex und schwierig und wundervoll genug! Ihn einmalig gelungen zu gestalten, das ist mir ausreichend Herausforderung …

Frage: Das Buch kreist ja stark auch um die Fragen; Wie ein gutes Leben VOR dem Tod führen? Wie mit Abschieden als Lebender umgehen? Das Buch lässt der Trauer ihren Raum, aber auch der Lebensfreude, genauso jedoch – und dies ist wohl der religionskritische Aspekt – hadert er mit einem Gott und dessen Herrschaftsanspruch über Leben und Tod. Kann es gelingen, dieses breite Spektrum an Emotionen, die der Text beinhaltet, in einen kompositorischen Rahmen zu bringen?

Antwort: Doch, ich denke schon. Möglicherweise auch, weil jedem von uns dreien ein Aspekt relevanter war als ein anderer. Mich zum Beispiel beschäftigt seit jeher die Frage des »Wie leben?«, sodass es final ›gut‹ genannt werden könne. Vielleicht, weil ich für mich die Augen in jenem Gefühl schließen möchte: Gut ist es und genug jetzt.

Will jemand an einen Gott glauben, sieht er oder sie darin eine Stütze: meine Güte, warum nicht? Solange man andere nicht bekehren will … Ich persönlich stamme aus einer sehr religiösen Familie – mein Vater ist katholischer Pfarrer ohne Amt, meine Schwester Pfarrassistentin. Mir ist deshalb auch ein respektvoller Umgang mit Religion relevant. Auch wenn ich nicht gläubig bin. Respektvoll, aber nicht unkritisch. Daher hatte ich mit Absicht für dieses Projekt von Beginn an Kolleg*innen gesucht, die selbst keiner Religionsgruppe zugehören, die jedoch gewillt waren, feinfühlig und respektvoll damit umzugehen. Von Gesprächen mit Michael Stavarič wusste ich, dass ihn die wahnhafte Seite interessierte; und Kain und Abel als Frage der sozialen Verantwortung füreinander. Von Markus Orths wusste ich, dass er ebenso wie ich aus einem religiösen Elternhaus stammt und gleichfalls während späterer Jugendjahre eine geistliche Laufbahn andachte. Als ich ihn fragte, ob er an einer Mitarbeit Interesse habe, sagte er sogleich zu und teilte mir im nächsten Satz mit, sein Vater sei vor wenigen Monaten verstorben. So wurde »Requiem« für ihn auch Teil dieses Abschieds von seinem Vater, eine Liebeserklärung an jenen Mann, der ihn prägte, der sein Schreiben begleitet hatte, von allerersten Versuchen an. Diese déclaration d’amour schloss auch seine eigenen Kinder ein …

Du fragtest mich zuvor, ob und wie die Arbeit an »Requiem« etwas verändert habe, in unserem Denken. Vielleicht sollte ich hier noch hinzufügen, dass es – auch für mich – jenes Werk ist, welches mir am nächsten kommt, es ist mein Tod, der darin erzählt wird, mein Partner, dem ich wünsche, er möge alsdann mit einer gewissen Leichtigkeit damit umgehen können. Meine déclaration d’amour an ihn, ja, so könnte man es sagen.

Frage: „Requiem“ – die katholische Totenmesse – gibt Titel und Form eures Buches. Ganz offen gefragt: Ist dies in einer überwiegend agnostischen bzw. kirchen- und religionskritischen Welt nicht geradezu ein Wagnis, sich so direkt auf die Liturgie der heiligen Messe zu beziehen?

Antwort: Vielleicht. Das mag durchaus sein. Aber ohne Wagnisse entstünde keine Literatur. Oder keine, die dieses Nomen verdient. Eine Reibung ohne Bezugsfläche wäre keine, daher entschieden wir uns absichtlich für diese Form, um sie mit neuen Inhalten zu füllen. Es ist gut, dass manche darin eine Provokation sehen – sei es in der Anmaßung, ein Evangelium zu verfassen oder in der Wahl einer liturgischen Feier als Rahmen.

Und nein, ich bin nicht der Ansicht, dass Religion im weitesten Sinn passé sei. Ganz im Gegenteil. Just in Zeiten des Wandels finden religiöse Gruppierungen jedweder Art enormen Zustrom, möge es sich dabei nun um eine der bekannten Weltreligionen oder um esoterisch verbrämte Glaubensrichtungen handeln. Es mag manchem sauer aufstoßen, dass ich, als Agnostikerin, diese diversen spirituellen Varianten wie Geistheiler *innen und Katholik*innen, Engelsbeschwörer*innen und Muslime, Körperfetischist*innen, Sportfans und mosaisch Gläubige nebeneinander stelle. Damit kann ich gut leben. – Nebeneinander! Nicht auf eine Ebene!Nebeneinander, weil all diesen Glaubenskonzepten neben einer Reflexion über das eigene Leben, die ich relevant finde, eben auch die Übertragung einer Verantwortung, zumindest in Teilen, an eine übergeordnete Instanz immanent ist, und das scheint mir bedenklich. Diese übergeordnete Instanz hat zu oft in unserer Historie dafür herhalten müssen, dass sich Menschen berufen fühlten, ihr Denken abzugeben und sich final aus der Verantwortung zu schleichen.

Dafür wird man heutzutage für die Anmaßung, ein Evangelium zu verfassen, im abendländisch-christlichen Raum nicht mehr geviertelt und gesteinigt. Stell dir vor, wir hätten uns als Rahmen einen islamischen gewählt … Für den christlichen hingegen wird man höchstens abgelehnt. Aus zweierlei Gründen: Weil Literaturhäuser zum Beispiel in der Auseinandersetzung damit keine Literatur sehen. Weil Veranstalter*innen dieses Werk fürchten: Es würde manche Besucher*innen verunsichern, deshalb wolle man keine Lesung daraus verantworten. Verunsicherung aber scheint mir eine gute Sache. Keine angenehme Situation, das nicht. Doch sinnvoll! Mir ist das ganze Leben und die Menschen darin eine permanente Auseinandersetzung mit Verunsicherung. Sicherheit? Gibt es nur im Tod! Die hat man dafür alsdann länger. Ist ja auch was …

Oder andersherum erzählt: Ein katholischer Pfarrer meinte mir gegenüber im Dialog: ›Hadern und Zweifeln, die Bibel ist voll davon. Was soll eine Religion taugen, die dies nicht aushält?‹

Frage:  Tod und Leben als zwei Ansichten einer Landschaft, zwei Seiten der Medaille: Die Religion kann den Menschen einen Halt und eine Aussicht geben, die mit der Endlichkeit des Lebens hadern. Aber braucht es die Religion, um ein gutes Leben zu führen?

Antwort: Meines Erachtens: nein. Absolut nicht. Ein gutes Leben, im Sinne eines reflektierten Seins, sich selbst und aller Konsequenzen bewusst seienden Da-Seins, das bedarf in meinen Augen keiner Religion; auch keiner spirituellen Gemeinschaft. Dass es für manche hilfreich sein mag, sie sich darin und alsdann wohler fühlen – nicht nur aber auch, weil sie glauben, einen Teil der Verantwortung abgeben zu dürfen – das steht auf einem anderen Blatt. Dass gerade dieses Miteinander in Zeiten der Vereinsamung, in unserem Jahrhundert des Egozentrismus vielen wichtig ist, kann ich hingegen gut nachvollziehen. Der Mensch ist kein Einzelgänger, sondern ein soziales Wesen. Er bedarf des Du, um sich zu erkennen.

Neulich besuchte ich zur Recherche für einen Roman eine Esoterik-Messe. Am erschreckendsten war für mich (unter anderem) dort ein Stand, der Kleidung mit der Aufschrift ICH vertrieb. T-Shirts, Pullover, Jacken – und mittig prangte groß auf jedem Stück in Blockbuchstaben jenes Personalpronomen. Als bedürfe es in unserer Zeit nicht weitaus eher eines bewusst wahrgenommenen DU! – konservativ? Ja, vielleicht bin ich das. In diesem Teilaspekt auch gerne. – Und ebenso gerne hätte ich dort einen Pinsel genommen und wäre mit roter Farbe zu Werke gegangen, hätte neben das Ich rechts wie links ein DU gesetzt  … Aber das führt nun vom Thema weg.

Ob man der Religion bedarf, in welcher Form auch immer, das hat ein jeder und eine jede doch selbst zu entscheiden – und diese Entscheidung ist respektvoll zu akzeptieren, solange davon kein anderer Mensch in seinem gestaltenden Sein beengt wird, denn die Freiheit meines Ichs endet eben genau dort, wo diejenige eines anderen Ichs beginnt. Dort hinein unbedingt fluten zu wollen, das ist in meinen Augen jedoch eine bedenkliche Konsequenz aller fundamentalistischen, missionarischen Glaubensrichtungen, und Religionen oder religionsersetzende Überzeugungen – und hierzu zähle ich auch die gesamten Spielformen des Gesundheitswahns – tendieren bedauerlicherweise stets dazu, das eigene Denken zu verteidigen und andere dazu bekehren zu wollen.

Ich persönlich denke, für mich ist die Kunst jener Raum, dessen ich bedarf, um mit der Endlichkeit umzugehen. Ich brauche die Reflexion, die sich mir darin bietet. Das Erproben divergierender Lebenskonzepte. Ja, ich würde sagen, als Literatin habe ich diesen ungemein bereichernden Vorteil mich nicht begrenzen zu müssen, ich kann im Kontext des literarischen Schaffens Mann sein, Frau sein, religiös sein, Atheistin sein – oder eben sterben. Und für Leser*innen in meinen Erzähluniversen eine Welt erschaffen, die ihnen dieses Durchdenken und Erleben gleichfalls ermöglicht.

Verlagsinformationen zum Buch:
http://www.septime-verlag.at/Buecher/buch_requiem.html

Marlen Schachinger zu „Requiem“: