Mit einem ungewöhnlichen Modell sorgt die Buchhandlung Aegis für frischen Wind und Nachwuchsförderung: Eine Auszubildende als Teilhaberin ermöglicht die Eröffnung einer “Filiale”.
Seit Jahren wird der stationäre Buchhandel totgesagt. Aber gerade in der Corona-Krise zeigten sich die kleinen, inhabergeführten Buchhandlungen besonders widerstandsfähig und flexibel. „Der Buchhandel hat eine Perspektive – allerdings muss man bereit sein, neue Wege zu gehen“, sagt Rasmus Schöll.
Der 34jährige, der vor drei Jahren die Ulmer Traditionsbuchhandlung Aegis übernahm, hat diese durch Kreativität und viel Einsatz bereits überregional zu einer Marke gemacht. Doch nun geht der Buchhändler einen Schritt weiter: Im Frühjahr wurde, mitten im Lockdown, eine „Schwesterbuchhandlung“ im Ulmer Stadtteil Söflingen eröffnet. Und dies mit einem ungewöhnlichen Geschäftsmodell. Die gleichberechtigte Teilhaberin von Rasmus Schöll im Söflinger Laden ist zugleich seine Auszubildende: Die 25jährige Franziska Pentz. Die junge Frau, die einen Bachelor in American Studies und einen Master in Englischer Literatur hat, macht derzeit ihre Ausbildung bei Aegis Ulm, das als Einzelunternehmen von Rasmus Schöll geführt wird.
Für die neue Buchhandlung im Ulmer Stadtteil Söflingen suchte Schöll eine alternative Geschäftsform zur üblichen Filiale. „Die Idee mit der Teilhaberschaft entstand auch aus dem Gedanken heraus, dass ich so die Möglichkeit habe, hochqualifizierten Mitarbeitern eine Perspektive zu geben“, erläutert der Buchhändler. Franziska Pentz, die eine Ausbildung zur Buchhändlerin bei Aegis Ulm begonnen hatte, war sofort dabei. „Natürlich überlegt man sich das zweimal, schließlich legt man sich ja auch relativ jung auf diesen Weg fest“, so Franzi Pentz. „Aber der Traum von einem eigenen Buchladen war eben immer auch da.“
In einem ehemaligen Café im Ulmer Stadtteil Söflingen eröffnet eine Schwesterbuchhandlung von AEGIS in Ulm: So wird das lebendige Quartier wieder mit guten Büchern versorgt.
In wenigen Wochen wird es in Söflingen nach Jahren ohne Buchhandlung wieder einen Anlaufpunkt für Lesende und Literaturliebhaber geben: Die Aegis Buchhandlung wird in dem Ulmer Stadtteil eine Filiale eröffnen. Geplant ist der Start für Mitte März. „Der Bedarf ist da“, weiß Aegis-Inhaber Rasmus Schöll, der selbst gebürtiger Söflinger ist. Immer wieder hätten Kunden und Bekannte ihm gegenüber bedauert, dass der große Ulmer Stadtteil literarisch verwaist sei. „Als die Vermieter des wunderbaren Altbaus in der Schlösslesgasse auf mich zukamen mit der Idee, in den Räumen des ehemaligen Cafés „Zucker&Salz“ eine Buchhandlung zu eröffnen, wusste ich, das ist eine Möglichkeit, die ich ergreifen muss“, so Schöll.
Auf rund 60 Quadratmetern Ladenfläche soll künftig ein gut ausgewähltes Sortiment angeboten werden, wie man es bereits aus der Aegis Buchhandlung in der Innenstadt kennt: Neuerscheinungen, über die diskutiert wird, ebenso wie literarische Feinheiten aus kleineren, unbekannteren Verlagen, Bibliophiles sowie ein umfangreiches Buchangebot für Familien und Kinder.
Für den 33jährigen Buchhändler, der die Ulmer Traditionsbuchhandlung Aegis 2018 übernahm, mit seinem Konzept wiederbelebte und auch überregional wieder bekannt machte, ist mit diesem Schritt natürlich eine große wirtschaftliche Verantwortung verbunden. Ginge es nicht um Söflingen, hätte er sich eine Filialgründung momentan nicht zugemutet. „Aber ich bin selbst dort aufgewachsen und freue mich, dass viele der Läden und Händler aus meiner Kindheit dort noch vorhanden sind“, so Schöll, „da schmerzt es einen leidenschaftlichen Bücherliebhaber wie mich beinahe, dass es keinen Buchladen mehr gibt.“ Dass er damit auch vielen Söflingern einen Wunsch erfüllt, das hätten die ersten Reaktionen auf seine Pläne bereits gezeigt.
So viel Mut mitten im Lockdown erregte nicht nur in den lokalen Medien Aufsehen, sondern auch bei der Fachpresse. Unter anderem berichteten ausführlich die Südwest Presse, die Augsburger Allgemeine und die Schwäbische Zeitung, sondern ausführlich auch das Börsenblatt, Buchreport und weitere Medien.
Die Aegis Buchhandlung in Ulm wird auch heuer wieder mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet – als einzige Buchhandlung in Süddeutschland unter den acht besonders hervorgehobenen Läden.
Zwar übernahm Rasmus Schöll die traditionsreiche Ulmer Aegis Buchhandlung erst im Sommer 2018 – doch er erhält bereits jetzt zum zweiten Mal ein ganz besonderes Gütesiegel: Schöll und sein kreatives Team wurden, wie schon im vergangenen Jahr, auch 2020 mit dem Deutschen Buchhandlungspreis ausgezeichnet. Heuer setzte die Jury des Preises, der von der Staatsministerin für Kultur und Medien ausgelobt wird, noch eins drauf: Die Aegis Buchhandlung gelangte, zudem als einzige aus dem süddeutschen Raum, unter die acht besten deutschen Buchläden.
Über die erneute Auszeichnung freut sich das ganze Team – der Einsatz hat sich gelohnt. Bild: Bruno Tenschert
Die Freude bei den Ulmern ist riesig: „Das tut in einem Jahr, in dem ein großer Teil unseres Konzeptes aufgrund der Pandemie weggebrochen ist, besonders gut“, sagt der 33-jährige Rasmus Schöll. Denn von Beginn an wollten er und sein Team in der Ulmer Innenstadt einen Ort schaffen, an dem „Literatur gelebt wird“, mit zahlreichen Lesungen, Veranstaltungen und Angeboten rund um das Kulturgut Buch.
Die Auszeichnung, die an inhabergeführte Buchhandlungen geht, würdigt neben einem besonderen Sortiment explizit das kulturelle Veranstaltungsprogramm sowie das Engagement in der Lese- und Literaturförderung. Im Jahresprogramm 2019, mit dem sich die Aegis Buchhandlung um den Preis heuer bewarb, hatten die Ulmer da viel zu bieten: Weit über 100 Veranstaltungen, darunter die Literaturwoche Donau, „Literatur unter Bäumen“, aber auch Märchenlesungen, Workshops für Kinder und Jugendliche mit dem Comic-Illustrator Paul Rietzl oder auch Angebote zur Trashliteratur, mit denen man jüngere Leute auf das Lesen neugierig machen wollte.
„2020 war vieles davon nicht möglich, aber wir holen das nach“, so Rasmus Schöll, für den die Auszeichnung nun eine erneute Motivation ist. „Und natürlich tut uns in diesem schwierigen Geschäftsjahr das damit verbundene Preisgeld auch gut.“ Die Ideen gehen den Ulmern jedenfalls nicht aus. Der beste Beweis dafür ist „Wanda“, mobile Abholstation und Bücherbus, der seit kurzem vor dem Laden steht und von den Kunden begeistert angenommen wird.
Insgesamt wurden bei einer per Livestream übertragenen Feierstunde am vergangenen Sonntag von Staatsministerin Monika Grütters 118 Buchhandlungen ausgezeichnet, darunter wie Aegis insgesamt fünf als „besonders hervorragende Buchhandlungen“ sowie drei weitere in der ersten Preiskategorie.
Ein Plädoyer für unabhängige Buchhandlungen: Rasmus Schöll zeigt bei “Aegis” in Ulm, was ein guter Buchhändler vermag.
Bücher bieten Vitamine für das Hirn – liebevoll arrangiert werden bei Aegis auch die antiquarischen kleinen Kostbarkeiten. Alle Bilder: Birgit Böllinger
„Das Geheimnis unseres Erfolges war, dass wir die Buchhandlung zu einem magischen Ort machen wollten, der sich von anderen abhob und in dem schon der Kauf eines Buches zu einem aufregenden Erlebnis wurde. Das war von Anfang an unser Ziel, und je mehr wir uns in die Idee vertieften, desto mehr traf es zu. (…) Und so wurde der Laden – nicht weil wir uns das so ausgemalt hatten, sondern weil Bücher zu verkaufen einfach etwas Persönliches ist – zu einem sehr persönlichen Ort.“
Neulich war ich mit einer Bekannten beim Bummeln in der Fußgängerzone einer bayerischen Großstadt. Die Fußgängerzonen sind austauschbar, die Läden überall dieselben. Wir kamen auch an jener Buchhandelskette vorbei, die mittlerweile in jeder Fußgängerzone zu finden ist. Massen von Büchern, gestapelt, in die Regale gepresst, Lagerhaltung. Kein Geist, der da atmen kann. Meine Bekannte sah mich an und seufzte: „Ehrlich, wenn ich das sehe, habe ich schon gar keine Lust mehr, was zu lesen.“
Sie brachte damit etwas zum Ausdruck, was der Börsenverein des Deutschen Buchhandels als einen Kern der Krise sieht:
„Bücher sind jedoch häufig aus dem öffentlichen Diskurs und persönlichen Umfeld verschwunden. Der Austausch über Bücher fehlt, Menschen sind weniger involviert in Buch-Themen und fühlen sich überfordert vom großen Titelangebot. Die Folge: Die Menschen finden am Buchmarkt keine ausreichende Orientierung mehr.“
Eine Untersuchung über den Buchmarkt führte nun, pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, zu Unruhe: 6,4 Millionen potentielle Leser sind in den vergangenen Jahren entschwunden, die Bücherkäufe rückläufig, der Umsatz schrumpft. Aber dennoch werden immer mehr Bücher produziert (von „verlegen“ mag ich bei manchen Titel schon gar nicht mehr sprechen).
Die Verlage zur Selbstbeschränkung aufzufordern, ist wohl naiv und sinnlos. Aber seien wir doch ehrlich: Es wird einfach zu viel veröffentlicht, neu aufgelegt, das Rad dreht sich immer schneller, ein „meisterhaftes Debüt“ jagt das nächste, die gehypten Bücher von gestern landen heute als Remittenten auf dem Tisch der Sonderangebote. In der Masse geht das Gespür für das „besondere“ Buch, für die talentierte Autorin, für die literarische Qualität verloren. Ich meine damit nicht, dass man den Menschen nur noch Joyce und Proust verordnen sollte – Literatur gehört auch nicht in einen Elfenbeinturm, nicht einer literarisch gebildeten Elite vorbehalten. Aber etwas weniger Seichtigkeit, etwas mehr Konzentration auf einige herausragende Titel, die diesen oben genannten Diskurs über viele Schichten hinweg anstoßen könnten, das täte meiner Meinung nach dem Buchmarkt gut. Das Buch wieder zu etwas Besonderem machen – ein blauäugiger Wunsch, ich weiß.
Wer angesichts der Flut an Büchern nicht weiter weiß, der gründe einen Lesekreis – oder wende sich an einen Buchhändler seines Vertrauens. In einer Zeit der Massenproduktion kann er der Lotse sein durch den Bücherdschungel, Orientierung geben, Empfehlungen aussprechen oder den Kunden auch sanft in eine neue Richtung stupsen. Horizonte öffnen. Und im besten Fall wird so das Buch zu einem persönlichen Erlebnis, die Buchhandlung zum magischen Ort, an dem man über das Buch, über Gott und die Welt diskutieren kann.
Einer von diesen, die für das Medium Buch brennen, das ist Rasmus Schöll aus Ulm. Vor wenigen Monaten übernahm der 31jährige Buchhändler die Traditionsbuchhandlung „Aegis“ in der Münsterstadt: 1946 eröffnete Ernst Gustav Siegfried Bauer, der im Nationalsozialismus als Widerstandskämpfer jahrelang unter Beobachtung stand, in der Ulmer Altstadt, nahe des Münsters, eine Buchhandlung mit Verlag und Antiquariat. Sein erster Lehrling schrieb Literatur- und Verlagsgeschichte: Siegfried Unseld, der 1959 den Suhrkamp Verlag übernahm. An ihn erinnert auch heute noch einer seiner Briefe, der gerahmt bei Aegis hängt und von der Belesenheit dieses Verlegers und Buchhändlers spricht. Ernst Joachim Bauer, Sohn des Aegis-Gründers, betrieb Laden, Antiquariat und den dazu gehörigen Verlag seit den 1970er Jahren – nun aber, mit 70, wollte er sich zur Ruhe setzen. Zumindest teilweise: Leser bleibt man schließlich immer. Und zudem wird die einst als Filiale in Laichingen (Alb-Donau-Kreis) gegründete Außenstelle zum Stammgeschäft für Bauer, der dort auch lebt.
Eine Buchhandlung übernehmen in der heutigen Zeit? Wo alle Welt von der Krise spricht, wo der Onlinehandel einen großen Teil des Geschäftes dominiert, wo die Ketten vor allem von Bestsellern und Umsätzen mit Artikeln rund ums Buch leben? Wer Rasmus in seinem Laden erlebt, der ahnt: Da muss man sich wohl keine allzu großen Sorgen machen. Da treffen händlerische Kompetenz und literarische Leidenschaft zusammen. An jenem Samstagmorgen, an dem ich „Aegis“ besuche, ist von Krise jedenfalls wenig zu spüren: Die Ulmer schlendern vom Wochenmarkt in der Breiten Gasse mit ihren schönen Läden vorbei, machen Halt im Buchladen, suchen, schnuppern und wollen vor allem auch eins: Gute Beratung. Eine Dame war angetan von einer Empfehlung des Literarischen Quartetts und sucht nun etwas Ähnliches. Eine junge Mutter mit Anhang geht zielstrebig in die Kinderecke. Ein mittelalterlicher Herr weiß eigentlich genau, was er will – aber dann bräuchte er doch noch ein Geschenk, und weil ihm der Tipp zusagt, kauft er das Buch gleich doppelt.
Die beste Kundenbindung, das zeigt sich hier, das ist die passende Beratung: Wenn jemand von einem Lesetipp begeistert ist, dann kommt er wieder. Und Rasmus und seine drei Mitarbeiterinnen sowie Florian L. Arnold, mit dem Rasmus den Verlag „TOPALIAN & MILANI“ betreibt, und der ebenfalls einen Tag in der Woche bei Aegis zu finden ist, wissen, was sie empfehlen: Im Laden steht fast nichts, was sie nicht selbst gelesen haben. “Aber es geht uns nicht darum, die Menschen zu bevormunden – wir haben zwar keinen Sarrazin im Laden, um ein Beispiel zu nennen, aber wer das Buch bei uns bestellen will, bekommt es“, sagt Rasmus. Und natürlich gibt es die Tische mit den Longlist- und Bestseller-Büchern, die gerade im Gespräch sind. Im Geschäft selbst jedoch ist auch viel Fläche dem vorbehalten, was Lesern eben nicht von den einschlägigen Listen entgegenspringt: Viel Literatur aus unabhängigen, kleinen Verlagen, eine Philosophie-Ecke, ein Platz für wunderschöne Künstlerbücher.
Schon räumlich unterscheidet sich „Aegis“ von den Bücherkaufhallen der Fußgängerzonen: Verwinkelt schlaucht sich der Laden in der ersten Ebene um mehrere Ecken. In jeder von diesen sind liebevolle gestalterische Details zu finden, die das Leserherz optisch ansprechen. Während im Erdgeschoß neue Bücher zu finden sind, taucht man im ersten Stock in eine ganz andere Welt ein – durch eine handgemachte Falttür aus Holz betritt man Räume, die den Geist einer anderen Zeit zu atmen scheinen. Hier ist das Antiquariat zu finden. „Durch den Onlinehandel sind ja vor allem die Antiquariate aus unseren Städten verschwunden“, sagt Rasmus. „Man merkt das, wenn man jüngere Leute in der Buchhandlung hierher führt – die haben noch nie ein Antiquariat gesehen, für die ist das ein Erlebnis.“
Der Buchkauf als Erlebnis, wie von Madge Jenison beschrieben: Wo es noch Buchhändler wie Rasmus gibt, ist das noch möglich. Da wird der Buchhändler zum Lotsen, der jedem Kunden den passenden Tipp zu geben mag. Da wird er zum Orientierungsgeber, wenn einen die Auswahl erschlägt. Und manchmal wird er auch zum Verführer – kaufen wollte ich bei meinem Aegis-Besuch „eigentlich“ nur zwei Bücher. Verlassen habe ich den wunderbaren Laden mit einem vollen Rucksack.
Mein Plädoyer lautet: Geht in eure Buchhandlung vor Ort, lasst euch anstecken von Leidenschaft und Belesenheit. Lernt neue literarische Länder kennen – ein guter Buchhändler macht das möglich.
Übrigens: Bald ist wieder die Woche der unabhängigen Buchhandlungen. Eine tolle Aktion. Und wer in und um Ulm herum ist, sollte da – aber auch zu jeder anderen Woche des Jahres – unbedingt einen Abstecher zu „Aegis“ machen.
Zwei Erzählungen Stefan Zweigs in einem Band mit wunderschöner Ausstattung: Buchkunst für Bibliophile.
Illustration: Joachim Brandenberg, Offenbach. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
„Eigentlich schämte ich mich: Da war ich wie der Engel des Märchens in eine Armeleutestube getreten, hatte einen Blinden sehend gemacht für eine Stunde nur dadurch, daß ich einem frommen Betrug Helferdienst bot und unverschämt log, ich, der in Wahrheit doch als ein schäbiger Krämer gekommen war, um ihm ein paar kostbare Stücke abzujagen. Was ich aber mitnahm, war mehr: Ich hatte wieder einmal reine Begeisterung lebendig spüren dürfen in dumpfer, freudloser Zeit, eine Art geistig durchleuchteter ganz auf die Kunst gewandter Ekstase, wie sie unsere Menschen längst verlernt zu haben scheinen. Und mir war – ich kann es nicht anders sagen – ehrfürchtig zumute, obgleich ich mich noch immer schämte, ohne eigentlich zu wissen, warum.“
Stefan Zweig, „Die unsichtbare Sammlung“, 1927.
Zweig nannte diese Novelle „eine Episode aus der deutschen Inflation“: Sie handelt von einem Sammler, der Kunstblätter und Stiche Rembrandts, Dürers und Mantegnas in seinem Besitz glaubt. Was der alte Mann, ein erblindeter Kriegsveteran des deutsch-französischen Krieges, jedoch nicht weiß: All seine Kostbarkeiten wurden von Frau und Tochter verkauft, die wertvollen Blätter durch leeres Papier ersetzt. Die Not der Nachkriegszeit hatte die Frauen dazu gezwungen – doch die galoppierende Geldentwertung in den 1920er Jahren führt dazu, dass der Familie der kostbare Besitz förmlich zwischen den Händen zerschmilzt. Erzählt wird diese anrührende Geschichte aus der Perspektive eines Berliner Kunstantiquars, der sich eigentlich von der Fahrt in die sächsische Provinz erhofft, bei dem Sammler einige Stücke zurückkaufen zu können.
Rund um den alten Sammler versinkt die Welt – doch ihn, den Blinden, hält die Freude an seinen ideellen Reichtümern aufrecht: auch wenn er sie nicht mehr sehen kann, so ist es doch ihr Dasein, das ihn erfüllt.
„Unvergeßlich war mir der Anblick: dies frohe Gesicht des weißhaarigen Greises da oben im Fenster, hoch schwebend über all den mürrischen, gehetzten, geschäftigen Menschen der Straße, sanft aufgehoben aus unserer wirklichen widerlichen Welt von der weißen Wolke eines gütigen Wahns. Und ich mußte wieder an das alte, wahre Wort denken – ich glaube, Goethe hat es gesagt: »Sammler sind glückliche Menschen.«“
Oh ja, und wie glücklich! Denn in den Tagen rund um die Buchmesse, an denen beinahe inflationär Bücher bepriesen werden, an den Tagen der Buch-Inflation also, an denen auch deutlich wird, wie sehr das Buch eben auch Ware ist, erreichte mich ein besonderer Schatz. Man muss es mir nachsehen, wenn ich hier völlig ungehemmt schwärme: Aber in meinen Augen ist dieser Band mit zwei Novellen von Stefan Zweig aus dem erst 2015 gegründeten Verlag Topalian & Milanidas schönste Buch des Jahres.
Die beiden Verleger machen ein, zwei Bücher pro Saison – diese aber mit völliger Hingabe und großer Liebe zum Detail. War schon „Die römische Saison“ von Lutz Seiler ein optisches und haptisches Juwel, so ist dieser Zweig-Band noch ansehnlicher und schöner geworden. Mit „Buchmendel“ und „Die unsichtbare Sammlung“ haben Rasmus Schöll und Florian L. Arnold zwei bekannte Novellen des Österreichers herausgegriffen, die in Zweig`scher Manier, melancholisch-menschenfreundlich, Sammler und Buchbesessene zum Inhalt haben.
Buchmendel zeigt die Welt von gestern
Insbesondere im „Buchmendel“ wird von Zweig die Welt von gestern heraufbeschworen: die der ostjüdischen-galizischen Kultur, wie sie Zweig und Joseph Roth so eindrucksvoll beschrieben haben, die der untergegangen Welt des Kaffeehauses der Vorkriegszeit, die sich im Vielvölkerstaat Österreich durch Toleranz, Mehrstimmigkeit, Offenheit auszeichnete. Der Buchmendel, ein wandelndes Literaturlexikon, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, nimmt, als sich die Zeiten langsam zum Schlechteren wenden, ein tragisches Ende. In den Wirren des Ersten Weltkriegs als Spion verdächtigt und interniert, wird er später im Kaffeehaus, seiner Lebensbasis, nicht mehr geduldet, stirbt an Auszehrung. Der Erzähler, der Jahre später auf Spurensuche geht, erinnert sich an diesen tragisch-komischen Menschen so:
„In diesem kleinen galizischen Büchertrödler Jakob Mendel hatte ich zum ersten Mal als junger Mensch das große Geheimnis der restlosen Konzentration gesehen, das den Künstler macht wie den Gelehrten, den wahrhaft Weisen wie den vollkommen Irrwitzigen, dieses tragische Glück und Unglück vollkommener Besessenheit.“
Zu Buchkunst wird diese Ausgabe durch die schwarz-weiß-Illustrationen, die Zweigs Novellen nicht nur kongenial interpretieren, sondern auch eigenständige Kunstwerke sind. Florian L. Arnold nähert sich der unsichtbaren Sammlung mittels einer grotesken Zeichensprache an – kleine Vignetten, großformatige Bilder, die beinahe an anatomische Studien angelehnt sind. Immer wieder schauen den Betrachter Augen an, so beispielsweise auf dem Titelbild. Als wolle der Illustrator Einblick in das menschliche Gehirn geben, aufzeigen, dass man eben nicht nur durch das Auge sieht. Der Blinde, der durch seine Bildersammlung blättert – eine tragisch-komische Erscheinung, die Arnold als Drama mit Tuschfeder und Elementen der Kupferstichtechnik, wie sie auch für die Novelle Zweigs prägend sind, umsetzt.
Direkter, aber nicht weniger eindrücklich in seinem Ausdruck ist Joachim Brandenberg, der „Buchmendel“ illustriert hat. Ein mit Stacheldraht umwickeltes Notizbuch, ein Portrait, bei dem Buchfetzen aus den Augen quillen, eine zerbrochene Brille – melancholische Bilder, die den Ton der Zweig-Novelle treffen, aufnehmen, weiterführen. Einen Eindruck von den Arbeiten des Illustrators und Buchkünstlers gewinnt man hier: http://joachimbrandenberg.de/
Abgerundet wird dieser Buchschatz durch ein Nachwort zu Stefan Zweig, einen Überblick über seine Veröffentlichungen sowie einen Abdruck seines Abschiedsbriefes vor dem Freitod am 22. Februar 1942.
Bibliographische Angaben:
Stefan Zweig Buchmendel & Die unsichtbare Sammlung Topalian & Milani Verlag, 2018 ISBN: 978-3946423058