Ralf Rothmann. Im Frühling sterben

Ein Krieg macht Unschuldige zu Opfern und zu Tätern. Ralf Rothmann schreibt eindrücklich über die Traumatisierung einer Generation.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Der Psychiater Borwin Bandelow, einer der führenden Experten bei der Behandlung von Angststörungen, erinnerte in einem Interview im Schweizer Fernsehen daran, dass es in jeder Gesellschaft „Traumatisierungen“ gibt, individuelle und kollektive – speziell verwies er auf die europäische Generation jener, die den Zweiten Weltkrieg in irgendeiner Form miterleben mussten. Dies sei die Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die auf allen Seiten tausendfach zerstörte Seelen hinausspie, unbehandelt zurück entließ in ein zwar politisch scheinbar „befriedetes“ Leben, aber in persönliche und private Lebensentwürfe, die allermeist in Trümmern lagen.

Ob Opfer oder Täter – auch in der bundesrepublikanischen Wiederaufbau- und der folgenden Wirtschaftswunderzeit standen andere Prioritäten an, Geschichte wurde gemacht, es ging voran, alte Wunden wurden nur notdürftig verdeckt, die seelischen Schäden zur Seite geschoben, sie blieben unbehandelt. Kann Verschweigen Heilen bringen? Wohl nicht. Allenfalls eine Vertagung des Unverarbeiteten – vertagt und weitergegeben an die nachfolgenden Generationen.

Das Trauma des Kriegs wirkt über Generationen

Auch in meiner Familie gab es dies, das Schweigen der Großväter. Meinen eigentlichen Großvater mütterlicherseits lernte ich nie kennen: Er starb einige Jahre vor meiner Geburt an den Folgen seines Alkoholismus. Er sei ein lieber, liebenswürdiger und sensibler Mann gewesen, so wurde mir berichtet, der verändert und gebrochen aus dem Krieg zurückgekehrt sei. Der zweite Mann meiner Großmutter stammte aus jener Gegend, die Melinda Nadji Abonji in ihrem Roman „Tauben fliegen auf“ beschreibt: Der Vojvodina mit ihrem bunten Völkergemisch. Eine Ansammlung verschiedener Nationalitäten, die sich in der Habsburger Zeit irgendwie arrangierten und kaum, war dieses einigende k.- u.-k.-Band zerschnitten, gegenseitig verfolgten.

Mein Großvater, ein Donauschwabe, war nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA ausgewandert, den größtmöglichen Abstand und materielle Sicherheit suchend. Über die Zeit und Erlebnisse vor seiner Auswanderung sprach er nie. Später, im Alter, von Alzheimer geplagt, fand man den alten Mann oftmals im Keller seines Hauses versteckt, zitternd vor Furcht und stammelnd: „Die Russen kommen.“ Der Großvater väterlicherseits dagegen kannte diese Angst nicht – wenn er von uns Enkeln in der kindlichen Erwartung einer Abenteuergeschichte aufgefordert wurde, „doch mal was vom Krieg“ zu erzählen, dann kamen allenfalls einige Episoden über seine lange Gefangenschaft und die Hilfe, die er und seine Kameraden von einigen russisch Bauern erhalten hatten. Er hatte überlebt, irgendwie – was er dafür zu tun hatte, auch was er im Krieg zu tun hatte (natürlich fragten wir als Knirpse auch unbefangen-sensationslüstern, ob er denn einen „totgeschossen“ habe) – darüber verlor er kein Wort. Seine dürftigen Erzählungen aus dieser Zeit glichen einem dünnen Reiseführer: Der Schwabe, der erstmals in Frankreich ein Baguette kostet und von einem russischen Bauern ein Hühnchen bekommt.

Das Schweigen gegenüber den Nachkommen

Das Schweigen der Großväter: Es prägte die Familie in mehrfacher Hinsicht. Über den Krieg wurde nur gemunkelt. Und auch die Brüche in den Biographien ihrer Kinder, die in den entscheidenden Jahren ohne Väter aufwuchsen, sie blieben: Brüche. Die Rolle der Ehefrauen, die zuhause ihren Mann standen und dann zurücksollten in ihre klassische Funktion – auch das ein Bruch. Wie umgehen mit den fremden, schweigsamen, veränderten Männern nach ihrer Heimkehr? Für meine Großmütter kam „Das Wunder von Bern“ zu spät in die Kinos.

Wie sehr prägen solche traumatischen Erfahrungen auch die nachfolgenden Generationen, wie sehr eine Familiengeschichte?
Wie lange braucht es, um solche Erfahrungen zu überwinden?
Wie sehr wird das Gefühl von Schuld und Angst weitergegeben?
Wann ist das Schweigen überwunden, wann wird aus Schuld die Übernahme von Verantwortung?
Welche Schlüssel gibt es, um das Schweigen aufzulösen?

Ein langer persönlicher Epilog zu einem wichtigen Buch.


„Im Frühling sterben“ von Ralf Rothmann

An einigen Stellen wurde es bereits als „der beste Roman“ dieses Jahres bezeichnet. Und auch wenn ich solche verallgemeinernden Prädikate scheue – für mich ist es auf jeden Fall eines der wichtigsten Bücher, die ich in den vergangenen Monaten gelesen habe. Rothmann, selbst Jahrgang 1953, also mit der fragwürdigen Gnade der späten Geburt ausgestattet, erzählt, so Hilmar Klute in einer Kurzvorstellung in der Süddeutschen Zeitung, „vom dunklen Erbe der Väter“. Im Mittelpunkt stehen die beiden 17jährigen Jungen Walter Urban und Fiete Caroli, beide in Norddeutschland auf einem Hof als Melker tätig. Beide jung, verliebt, voller Hoffnungen, trotz der Einschränkungen, die das Kriegsgeschehen mit sich bringt.

Rekrutiert im letzten Kriegsjahr

Es ist das letzte Kriegsjahr, die Fronten bröckeln an allen Seiten und trotz der absehbaren Niederlage werden alle Jahrgänge ins Feuer geschickt, verbrannt und verheizt. So trifft es auch die beiden Jungs, die bei einer Dorffeier  zwangsrekrutiert werden. Fiete ist immer schon der Aufsässigere, Temperamentvollere, der seiner kritischen Haltung gegenüber dem Nazi-Regime in spöttischen Bemerkungen Luft macht, aber vom ruhigen, bedächtigen Walter gedämpft und zurückgehalten wird. Fiete ist schließlich auch derjenige, der der andauernden Vergewaltigung seines Willens, seines Menschseins durch den Krieg und die Kriegsmacher (letztendlich ist der Krieg immer von Menschen gemacht – jene, die die Schlachtenpläne entwerfen und jene, die sie ausführen), entfliehen will: Er desertiert.

Mitschuldig am Tod des besten Freundes

Walter, der nur leise angesichts zahlloser Gräuel Aufbegehrende, wird einmal aus eigener Entscheidung aktiv, versucht für den Freund bei seinem Vorgesetzten einzutreten. Doch der Versuch ist nicht nur aussichtslos, sondern selbst nicht ohne Gefahr für den jungen Mann – er könne sich, so er sich nicht selbst auch am Standgericht beteilige, gleich mit an die Wand stellen. Walter, als Teil des Erschießungskommandos, macht sich mit Schuld am Tod seines besten Freundes – eine Last, die er nach der Heimkehr mit niemanden teilen kann, niemanden mitteilen kann, nicht einmal der Freundin und späteren Ehefrau. So ist deren spätere Wiederbegegnung ebenso gezeichnet vom Unsagbaren, die Rückkehr aus der Hölle, die Wiederaufnahme eines Lebens, eines Alltags, einer Normalität vom Schweigen und Verschweigen geprägt. Fazit: Im Krieg machen sich selbst die Unschuldigsten schuldig, ein Entkommen gibt es nicht. Tot oder lebendig, dann aber seelisch tot – vor dieser Wahl steht Walter. Und da er selbst niemals sprechen gelernt hat, da es aber ebenso wenig die Hilfen gibt, die heute zumindest zur Verfügung stehen, bleibt dieser Mann gefangen in den Gefühlen einer Schuld, die er alleine nicht tragen, die ihm aber auch keine helfende Hand nehmen kann.

Rothmann ist ein großartiger Erzähler

Ralf Rothmann zeigt sich hier einmal mehr als großartiger Erzähler, der eine Geschichte geradlinig voranzutreiben weiß, fast nüchtern, und dabei, wie Klute schreibt, „diese Zeit, die er selbst nicht erlebt hat, in schrecklich klare, magisch realistische Bilder“ zu bannen weiß. Leise-zurückhaltend in der Sprache – und gerade dadurch erreichend, dass die ganz Last und Wucht des Krieges unmittelbar spürbar wird, dass das Grauen den Leser in der Seele zerrt. Sparsam setzt Rothmann dazwischen beinahe schon irisierend wie winzig aufflackernde Hoffnungslichter poetisch-leise Naturbilder ein, kleine Atempausen, während derer die Waffen schweigen.

Für das Kernthema dieses Romans ist jedoch noch wichtiger als die Erzählung der Geschehnisse während des Zweiten Weltkriegs die schmale Rahmenhandlung. Auf wenigen Seiten entwirft zu Romanbeginn der Erzähler, Walters Sohn, an dessen Lebensende ein Portrait seines Vaters, das Portrait eines einsamen, gescheiterten Lebens – ein Mann, der aus seiner Schweigsamkeit nicht herausfand, der sich in den Alkohol flüchtete, im Versuch Schrecken und Last zu verbannen. Der im Grunde nicht anders handelte als der eigene Vater, selbst ein durch die Zeitläufte Gebrochener, dann ein im zweiten Krieg Gefallener. Die sich dann allmählich entblätternde Geschichte macht begreifbar: Das ist die verlorene Generation, die sich gewissermaßen noch einmal unverschuldet „mitschuldig“ macht an ihren Nächsten – die das unverarbeitete Trauma weiterreicht.

Am Ende kommt nochmals der Erzähler zu Wort, als er an das Grab der Eltern fährt, das aufgelöst werden soll. Lapidar die Mitteilung: „Ruhezeit beendet“. Was Rothmann damit aber auch in diesem autobiographisch geprägten Roman sagt, ist: Schweigezeit beendet. In einem Interview mit der „Welt“ betont er: „Was wir vererben sollten, ist die Verantwortung, Sorge dafür zu tragen, dass so etwas nicht noch einmal passiert.“

Ein hochaktuelles Thema

Und gerade dieses macht den Roman heute – 70 Jahre nach Kriegsende – so hochaktuell: Die unsichtbaren Schäden, die dieser Krieg bei den Überlebenden hinterließ, die Schmerzen, die niemals behandelt wurden – sie wirken fort, sie wirken noch Generationen nach. Rothmann hat den Weg des Schreibens gefunden, um – vielleicht ein wenig pathetisch ausgedrückt – die Lasten seiner Eltern abzutragen. Und er erinnert nun mit diesem Buch in einer Zeit daran, als die Traumata, die sichtbaren und unsichtbaren, beinahe schon zu verblassen drohen, Aufarbeitung abgehakt. Vielleicht mag er auch ein wenig aufrütteln, jene Generation der Nachkommen, für die diese Erfahrungen nur noch Erzählungen der „Vorfahren“ sind, wo der „Krieg“ zum medialen Ereignis wird, für manche auch zum Abenteuer im Nahen und Fernen Osten, wo die Empathie mit Kriegsopfern, Flüchtlingen, traumatisierten Menschen sinkt. Wer weiß.


 Bibliographische Angaben:

Ralf Rothmann
Im Frühling sterben
Suhrkamp Verlag, 2015
ISBN: 978-3-518-46680-3