Gwendolyn Brooks: Maud Martha

„Maud Martha“: Der einzige Roman der amerikanischen Lyrikerin Gwendolyn Brooks ist eine beeindruckende Wiederentdeckung. Auf beinahe verhaltene Weise zeigt der Text die Folgen von Diskriminierung und Ausgrenzung auf. Die melancholische Ballade eines Frauenlebens.

„Sie war sich sicher, jetzt, wo sie wach war. Denn wach war sie. Das war Wachsein. Sich räkeln, mit den Finger wackeln – sie fühlte sich von dem zusammengeknüllten, dünnen rauchgrauen Bettzeug noch einigermaßen geschützt vor dem plötzlichen Angriff der roten Vorhänge mit den weißen und grünen Blumen, dem Bild mit der Mutter und dem Hund, die mit einem Baby schmusten, und der Kommode mit den blauen Papierblumen darauf. Aber auf keinen Fall gab es einen Zweifel daran, dass sie jetzt ernsthaft erwacht war.“

Gwendolyn Brooks, „Maud Martha“


Ein langsames Erwachen in eine Welt, die ebenso mütterliche Sanftmut, Spieltrieb und Freude wie aggressives Rot, Streit und Hass zu bieten hat – das kleine Zitat aus „Liebe und Gorillas“, einer der Vignetten aus dem Leben der Maud Martha Brown, zeigt die virtuose Meisterhaftigkeit der Schriftstellerin Gwendolyn Brooks. In ihrem einzigen Roman, 1953 in den USA erschienen und nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegend, schildert sie ein Frauenleben, den Alltag einer Frau, mit vielen kleinen Spotlights auf Alltägliches – ohne je in ihrer Sprache alltäglich zu werden. Die Poesie der Worte und Bilder durchdringt dank der gelungenen Übersetzung von Andrea Ott die rauchgraue Umwelt, in der Maud Martha leben muss. Gwendolyn Brooks, die Lyrikerin, die 1950 als erste Schwarze Autorin den Pulitzerpreis für ihren Gedichtband „Annie Allen“ erhielt, überrascht und begeistert in diesem Prosatext, den die Genrebezeichnung Roman nur von ungefähr trifft, mit der Poesie ihrer Sprache und einem besonderen Blick auf die Welt, wie ihn Lyrikerinnen innehaben, die aus kleinen Szenen große Geschichten erschaffen.

Autofiktionaler Text der Pulitzer-Preisträgerin

„Maud Martha“, ein autofiktional geprägter Text, führt durch das Leben einer Frau, die in den 1940er-Jahren in der South Side von Chicago inmitten der Schwarzen Community aufwächst. Wie Schlaglichter setzt Gwendolyn Brooks die einzelnen Geschichten auf verschiedene Phasen eines Frauenlebens vom kindlichen Erleben der Erwachsenenwelt bis hin zum eigenen Dasein als Mutter. Diese Vignetten könnten wie poetische Kurzgeschichten jede auch für sich alleine stehen, lose verbunden durch die Protagonistin ergeben sie im Zusammenhang den Roman eines Lebens.

Bild von David Mark auf Pixabay

Maud Martha träumt von der ersten und der großen Liebe, von einem Job in New York, von einer eigenen Wohnung, die sie in Gedanken nach ihrem Geschmack einrichtet. Träume sind keine Angelegenheit der Hautfarbe, die Realität dagegen schon: Immer wieder werden ihr Grenzen aufgezeigt, wird sie in von einer Gesellschaft, in der Machtverhältnisse durch Hautfarbe und soziale Zugehörigkeit definiert sind, an ihren Platz verwiesen, sei es direkt, indem sie beim Einkaufen nicht bedient wird, seien es die indirekten Verletzungen durch unbewusste Worte, Gesten, Blicke. Durch den beinahe schon nebensächlichen Ton, in dem Gwendolyn Brooks solche Vorkommnisse in ihren Roman einfließen lässt, werden sie umso gewichtiger: Es wird spürbar, wie „alltäglich“ diese Art von Diskriminierung war (und bis heute noch ist). Und wie sie dennoch immer wieder bis ins Mark trifft.

Nachwort von Daniel Schreiber

„Wie geht man mit der machtvollen inneren Stille unterdrückter Wut um?“ – diese Frage stellt Daniel Schreiber in seinem Nachwort zu „Maud Martha“. Und gibt eine treffende Antwort: „Maud Martha gibt keine radikalen Antworten auf diese Fragen. Stattdessen hört Brooks den emotionalen Echos dieses Erlebens nach, macht sie poetisch erfahrbar und setzt ihnen ein fast schon spirituell zu nennendes Vertrauen in die eigene menschliche Würde entgegen.“

Im viel zu frühen Erwachen aus der Kindheit in eine feindlich gesinnte Umwelt hinein schließt sich bei dieser „Ballade gelebten Lebens“ (Daniel Schreiber) der erzählerische Kreis: Ist es zunächst Maud Martha selbst, die aus dem Schlummer in eine wenig freundliche Umgebung erwacht, so muss sie später als junge Mutter hilflos zusehen, wie ihrer Tochter Paulette die Kindheitsträume genommen werden. In einer der letzten Kürzestgeschichten dieses anrührenden Werkes werden Martha und Paulette wegen ihrer Hautfarbe vom Weihnachtsmann im Einkaufsladen ignoriert. Wie Gwendolyn Brooks die Geschichte beendet, zeigt jedoch nicht nur die Würde, die sowohl ihr als auch ihrer Hauptfigur innewohnen, sondern ebenfalls ihren Mutterwitz:

„Paulette spürte den Blick ihrer Mutter und schaute zu ihr hoch. Maud Martha hätte am liebsten geheult.
Lass ihr noch dieses himmlische Land!
Lass ihr noch die Märchen, wo die Hexen am Ende immer getötet werden und Santa der Herr des Winters ist, freundlich, ein reines Wesen, das niemals schwitzt, niemals etwas Dummes oder Erfolgloses tut oder sagt, niemals komisch aussieht und niemals gezwungen ist, an der Kette zu ziehen, um die Toilette zu spülen.“

„Maud Martha“: Eine wundervolle Wiederentdeckung, die auch dazu einlädt, die Lyrikerin Gwendolyn Brooks kennenzulernen – leider sind mir momentan jedoch keine Übertragungen ihrer Lyrik in die deutsche Sprache geläufig.


Informationen zum Buch:

Gwendolyn Brooks
Maud Martha
Übersetzt von Andrea Ott
Manesse Verlag, 2023
ISBN: 978-3-7175-2564-6

Lisel Mueller: Brief vom Ende der Welt

Lisel Mueller, die einzige deutschstämmige Dichterin, die den Pulitzer Preis für Lyrik bekam, ist hierzulande völlig unbekannt. Ein Nachruf und eine Würdigung.

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Bild von Gerhard Gellinger auf Pixabay

Noch eine Chance gemeinsam aufzuwachen,
ich nehme die Einladung für
einen weiteren Morgen an. Noch eine Chance,
um den schwarzen Traum, allein zu erwachen,
über den Rand der Welt zu schieben,
wo mich kein Leben erhält.

Lisel Mueller, „Brief vom Ende der Welt“


Liest man diese melancholischen Zeilen, die in ihrem letzten in den USA erschienenen Gedichtband „Alive Together“ (1996) enthalten sind, liest man diese “Notizen im Winter”, eigentlich ein Lied auf den Herbst des Lebens, das von der Ahnung des Endes, des irgendwann nahenden Todes spricht, dann wird einem das Gemüt dieser Tage erst richtig schwer. Ein Schwanengesang, ein Abschiedslied – am 21. Februar verstarb Lisel Mueller in Chicago, nur wenige Wochen nach ihrem 96. Geburtstag.

Im deutschen Blätterwald löste diese Nachricht kein Rauschen und Rascheln aus, nicht einmal ein Windhauch war zu spüren. Was nicht nur bedauerlich, sondern auch beschämend ist: Denn Lisel Mueller, als Elisabeth Annedore Neumann am 8. Februar 1924 in Hamburg geboren, war eine herausragende Lyrikerin, ihr Werk ist von berührender Schönheit, von tiefer Nachdenklichkeit geprägt.

In den USA mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet

In den Vereinigten Staaten zählte sie zu den bedeutendsten Dichterinnen der Gegenwart, wurde mit allen namhaften Preisen ausgezeichnet, mit dem Carl Sandburg Prize, dem Lamont Award, dem National Book Award und nicht zuletzt, als einzige in Deutschland geborene Dichterin, mit dem Pulitzer Preis.

Und dennoch lief ihr Werk unter dem Radar des deutschen Feuilletons und Verlagswesens. Allein im MaroVerlag erschien bislang unter dem Titel „Brief vom Ende der Welt“ eine Auswahl ihrer Gedichte, herausgegeben und zum überwiegenden Teil von Andreas Nohl, dem renommierten Übersetzer, ins Deutsche übertragen. Das Ausmaß ihrer Unbekanntheit mag auch damit zusammenhängen, dass Lisel Mueller, ihrem Vater, der als aufgeklärter Pädagoge und Jude vor den Nationalsozialisten flüchten musste, gemeinsam mit Mutter und Schwester bereits 1939 ins Exil in die Vereinigten Staaten folgte. Die junge Frau fasste schnell Fuß in der neuen Heimat, zum Schreiben begann sie als Reaktion auf den frühen Tod der Mutter und in ihrer neuen Sprache, dem amerikanischen Englisch.

Ausstellung über Leben und Werk

Mag sein, dass es diese Biographie war, die ihren Teil dazu beitrug, dass Lisel Müller leider immer noch eine große Unbekannte hierzulande ist, mag auch sein, dass Lyrikerinnen es von Haus aus schwer haben – aber keineswegs sollte man an ihrem Werk vorübergehen.

Benno Schirrmeister von der taz ist einer der wenigen Kenner ihres Werks hierzulande, der ihr nicht nur etliche längere Artikel in der taz widmete, sondern auch eine Ausstellung über ihr Leben und Werk mitkuratierte (ein Interview zur Ausstellung im Deutschen Auswandererhaus findet sich hier). Er schreibt in einem Portrait über die „Dichterin der zweiten Sprache“:

“Deutsche Dichterin ist falsch, das klingt nach Vereinnahmung, darum darf es nicht gehen. Lisel Mueller ist Amerikanerin, Bürgerin der USA seit den frühen 1940ern. Ihre Lyrik ist durch und durch amerikanisch, auch wenn hie und da Brecht-Zitate auftauchen – und sie immer wieder die Abgründe der deutschen Volksmärchen nutzt (…)
Deutschland spielt aber immer eine Rolle, eine zutiefst ambivalente, für sie selbst und in ihren Texten: „For ­years“, schreibt sie, nachdem sie 1983 erstmals die Stätten ihrer Kindheit besucht hat, „I did not want to be German, wanted nothing to do with German traditions“
(…) Und trotzdem nennt sie Deutschland „what should have been my own country“, also, das, was mein Land hätte sein sollen.

Diese Ambivalenz spricht auch aus ihrem Gedicht „Eine Anthologie von deutschen Nachkriegsgedichten“, das in der Maro-Auswahl enthalten ist:

Amerika hat mich gerettet
und die Geschichte hat mir eine Nase gedreht:
Ich wurde nicht unter Trümmern
begraben, noch wurde ich
an einem gefrorenen Straßengraben erschlagen (…)

Es ist das Schuldgefühl der Überlebenden, das aus diesen Zeilen spricht, und  zugleich die Bewunderung für die Nachkriegsgeneration. Vielleicht schwingt auch ein wenig Wehmut mit, weil sie schon da weiß, dass sie nicht mehr dazugehört:

Unter diesen Dichtern bin
ich Dornröschen, eine Schläferin im Tal,
eine Fremde ihrem Mut,
wenn sie eine neue Sprache schaffen
aus den Trümmern und dem Bösen,
aus dem Grauen ihres Wissens. Ich sehe
staunend wie das Wort
aus Ruinen sich erhebt
und, eine lebende Zelle, sich teilt,
ins zukünftige Geschick.

Auch wenn einige dieser Gedichte von ihrer amerikanischen Sozialisation sprechen – so die Szenen aus „Glückliche und unglückliche Familien“ oder die Zeilen an „Ihr Müden, Ihr Armen“, ganz ist die Nabelschnur nicht durchschnitten, die Herkunft lässt sich nicht vollends abschütteln, auch nicht das Wissen um das, was in Deutschland, in Europa geschah.

Nachwort von Übersetzer Andreas Nohl

Andreas Nohl schreibt denn auch in seinem Nachwort zu „Brief vom Ende der Welt“:

„So sehr das Bewusstsein der Unversehrtheit Muellers Werk von dem gleichaltriger deutschsprachiger Dichter unterscheidet – Paul Celan war um vier Jahre älter, Ingeborg Bachmann um zwei Jahre jünger als sie -, so sehr unterscheidet sie sich von ihren amerikanischen Zeitgenossen in dem Bewusstsein der historischen Kontingenz, die eine solche Rettung ermöglichte.“

In den folgenden Sätzen geht Andreas Nohl auf die weitere Entwicklung der Dichterin ein:

„Erst im Privaten, im Familienleben, in eigensinnigen Traditionen und Erbschaften lässt sich eine Art Einspruch, lässt sich eine Art menschliche Würde gegen die Machination des historischen Unglücks formulieren. Doch umgekehrt trägt das geglückte Private immer die Male des bloßen Davongekommenseins.“

Die damit einhergehende Zwiespältigkeit sei ein wesentliches Motiv ihrer Gedichte.

Nach außen hin dominiert das private Glück im Leben der Poetin: Am College lernt sie Paul E. Mueller kennen, die beiden heiraten 1943, mit ihrem Mann und den beiden Töchtern führt sie zwar ein tätiges, aber auch beschauliches, ein normales Leben. Was aber ihren Gedichten weder verzärtelten noch sentimentalen Ton gibt, vielmehr sind ihre Gedichte geprägt von einer souveränen Ruhe, häufig geradezu auch beinahe lakonisch-beiläufig wirkend, man werfe nur einen Blick auf ihren Lebensbericht.

Diesen Anklang haben auch die ersten Zeilen bei „Entwurf für eine Landschaft“:

Sieh, der einsame Wanderer
an diesem kältesten Sonntag des Jahres
schultert da draußen die ganze Last der Geschichte.

Im „Brief vom Ende der Welt“ schreibt Lisel Mueller:

Der Punkt ist: seit ich dich verlor,
bin ich durch die Welt gezogen,
dich zu suchen, und statt deiner
fand ich mich selbst, Bruchstücke einer Frau,
die langsam zueinander passen.

Liest man ihre späteren Gedichte, wie „Im Schwinden“ oder „Dinge“, dann merkt man auch, da hat eine zu sich gefunden, da passen die Stücke zusammen, auch wenn das Ende, an dem alles zerbricht, naht. Man würde sich nun nur noch wünschen, der Brief vom Ende der Welt käme endlich an, in dem Land, in dem Lisel Muellers Leben begann, und die Menschen hier könnten diese wundervolle Lyrik, so klug und wunderbar mit ihren fein gesetzten Metaphern, lesen und würdigen.


Informationen zum Buch:

Lisel Mueller
Brief vom Ende der Welt
MaroVerlag
Paperback, 108 Seiten, 14,00 Euro
ISBN: 978-3-87512-281-7


Weitere Informationen:

“Die Dichterin der zweiten Sprache”: Portrait in der taz
Curriculum Vitae by Lisel Mueller: Gedichtinterpretation
“Blood Oranges” by Lisel Mueller: Gedichtinterpretation

Toni Morrison: Menschenkind

“Beloved” ist eines der Bücher, die man nie mehr vergisst. Für den Roman erhielt Toni Morrison den Pulitzer-Preis. Ein eindringliches und erschütterndes Buch.

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Bild von LeoNeoBoy auf Pixabay

„Doch ihr Hirn interessierte sich nicht für die Zukunft. Vollgestopft mit Vergangenheit und gierig nach mehr, ließ es ihr keinen Raum, sich den nächsten Tag auch nur vorzustellen, geschweige denn ihn zu planen. Genau wie an dem Nachmittag damals in den wilden Zwiebeln – als der nächste Schritt das Äußerste an Zukunft war, was sie vor sich gesehen hatte. Andere Menschen wurden wahnsinnig, warum konnte sie das nicht? Bei anderen hörte das Denken einfach auf, wandte sich ab und ging zu etwas Neuem über; so etwas mußte Halle wohl widerfahren sein.“

Toni Morrison, „Menschenkind“


In einigen Rezensionen zu Akwaeke Emezis Roman „Süßwasser“ wird auf Toni Morrisons Werk „Menschenkind“ (OA: “Beloved”, 1987), für den sie 1988 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, Bezug genommen: Beide Bücher stellen Frauen in den Mittelpunkt, die vor einer unerträglichen Realität vorübergehend in den Wahnsinn flüchten. Beide Bücher zeigen aber ebenso auch: Diese Frauen sind stark, unzerbrechbar, ungebrochen, Überlebende. Bei genauem Hinsehen wird zudem klar: Der ihnen zugeschriebene Wahnsinn haust in den Hirnen der anderen. Der Irrsinn liegt dort, wo Menschen meinen, sie hätten legitime Gewalt über Menschen anderen Geschlechts, anderer Rasse, anderer Herkunft.

Schicksal der Sklavin Margaret Garner

Während „Süßwasser“ jedoch in der Gegenwart spielt, geht Toni Morrison in „Beloved“ weit zurück in die Vergangenheit. Während ihrer Arbeit in den 1970er-Jahren als Herausgeberin und Verlagslektorin am „Black Book“, einem Band über die Geschichte der Amerikaner afrikanischer Abstammung, stieß Morrison auf eine Zeitungsnotiz aus dem Jahr 1851 über die entflohene Sklavin Margaret Garner. Die Frau wurde von den Häschern in Ohio aufgegriffen. Sie versuchte, ihre vier Kinder zu töten, um diese vor dem Sklavendasein zu bewahren, eines stirbt.

Die spätere Literaturnobelpreisträgerin hatte sich bis dahin wenig mit der Geschichte ihrer Vorfahren beschäftigt: Die Recherchen zu „Black Book“ und der Roman „Menschenkind“ machten Toni Morrison jedoch endgültig zu der großen Schriftstellerin und Humanistin, zu dem Gewissen der Vereinigten Staaten. „Beloved“ ist ein Roman, den man nicht mehr vergisst und eines der wichtigsten und besten Bücher der amerikanischen Literatur der letzten Jahrzehnte.

Gewalt und Poesie

Die Geschichte von Sethe wird aus mehreren Perspektiven erzählt, ist stilistisch und sprachlich anspruchs- und wundervoll. Passagen, in denen ganz nüchtern von der kaum auszuhaltenden  Gewalt und Entmenschlichung, der Sklaven ausgesetzt waren, erzählt wird, wechseln sich ab mit geradezu lyrischen Passagen. Und auch hier findet sich die typische Verwebung realistischer Sequenzen mit Szenen reinster Magie. Elisabeth Wehrmann kommentierte 1989 in der Zeit zur deutschen Übersetzung:

„Was Toni Morrison in dunklen Melodien beschwört, wofür sie eine Sprache findet, die jede Nuance von zarter Lyrik bis zum harten Slang trifft, ist nicht nur das unversöhnte Erbe, der unüberbrückbare Gegensatz von schwarzer Menschlichkeit und menschenzerstörender weißer Kultur. Die komplizierte Struktur ihres Romans mit ihren wechselnden Zeitebenen und Perspektiven beschreibt auch zögernd, auf Umwegen und gegen innere Widerstände den Prozeß einer Trauerarbeit, entwickelt aus der Spannung von Magie und Wirklichkeit ein Ritual der Heilung.“

Erzählt wird in der Rückblende: Fast zwei Jahrzehnte nach der Flucht von Sethe und ihrer Bluttat trifft sie Paul D. wieder, ebenfalls einer der Sklaven von „Sweet Home“ (was für ein Euphemismus!). Sie lebt mit Denver, ihrer Tochter, abgeschieden und isoliert im Haus ihrer verstorbenen Schwiegermutter (die von ihrem Sohn durch zusätzliche Fronarbeit freigekauft werden konnte) in Cincinnati, wo die Sklaverei überwunden ist (nicht jedoch der Rassismus). Paul D. bringt in das unheimliche Haus, das von Gespenstern beherrscht wird, einige wenige Augenblicke der Unbeschwertheit – bis auch er mit den Geist der Vergangenheit konfrontiert wird: „Menschenkind“ ist die Verkörperung der getöteten Tochter, die an ihrer Mutter hängt wie ein Bleigewicht, sie aussaugt wie ein Vampir, die die Liebe einfordert, die ihr durch den Tötungsakt genommen wurde. Sie ist der Geist und das Fleisch gewordene unaushaltbare Gewissen.

Ein Akt der Verzweiflung

Und dennoch stellt sich beim Lesen immer wieder die Frage: Ist die Tötung eines Kindes, um es vor dem schrecklichsten aller Leben zu bewahren, nicht nur ein Akt der Verzweiflung, sondern auch der Befreiung? Toni Morrison äußerte selbst dazu, dass die Tat „das absolut Richtige war, sie (Margaret) aber nicht das Recht hatte, es zu tun.“ Ein unauflösbares Dilemma, ein furchtbarer Akt der Auflehnung gegen die Entmenschlichung, vor dem sich Sethe nur in den Wahnsinn retten kann.

Doch auch dies wird deutlich: Der eigentliche Irrsinn liegt auf der Seite der Sklavenhalter. Nach und nach wird die ganze Brutalität dieses dunklen Kapitels der amerikanischen Geschichte enthüllt: Familien, die auseinandergerissen, Kinder, die von der Mutterbrust wegverkauft werden, Männer, die verbrannt, gefoltert, in Fußeisen gelegt und Maulsperren malträtiert werden, Frauen, die vergewaltigt, wie Zuchtvieh gehalten, gepeitscht und gedemütigt werden. Menschen, denen die Menschlichkeit abgesprochen wird, gehalten wie Tiere.

Gunhild Kübler schreibt in „Leidenschaften – 99 Autorinnen der Weltliteratur“ über das Buch:

„Wer dieses Buch gelesen hat, wird es nicht mehr vergessen. Es verändert einen. Unmöglich, hier in der üblichen Lektüredistanz zu verharren. Auch deshalb, weil Toni Morrison geradezu hypnotisch eindringlich erzählt. Wie der Geist, von dem die Rede ist, kehren hier die Schrecken eines der großen Verbrechen der Menschheitsgeschichte wieder.“

Heidi Thomann Tewarson arbeitet in ihrer rororo-Monographie zu Toni Morrison noch einen weiteren Aspekt des Romans deutlich heraus: Dem der Selbstfindung, dem Bemühen, eine eigene Identität zu erhalten. Für Sethe und Paul D., denen diese in der Sklaverei genommen wurde, ein zusätzlicher Kraftakt, aber auch für die Nachfahren. Für die drei Hauptprotagonisten – das Paar und Denver, die Tochter – hält der Roman ein fragiles, aber versöhnliches Ende bereit: Sie lernen mit einer Vergangenheit, in der sie vor allem Opfer, aber eben auch Täter waren, zu leben.

Aber „Menschenkind“, die Namenlose, existiert weiter, in den Träumen, in der Hinterkammer des Gewissens. Heidi Thomann Tewarson:

„Das Geschichtenerzählen hat ihnen weitergeholfen. Die ungeheuerlichste Geschichte aber, die des toten Mädchens, die auch für das abgrundtiefe Leiden der unzähligen anderen Opfer steht, ist unfassbar – also nicht in Worte zu fassen. Deshalb – und so endet Toni Morrison – ist dies keine Geschichte zum Weitererzählen.“


Bibliographische Angaben:

Toni Morrison
Menschenkind
Übersetzt von Thomas Piltz und Helga Fetsch
Rowohlt Verlag, 2007
ISBN: 978-3-499-24420-9

Kurz&knapp: Upton Sinclair, Theodore Dreiser und John Steinbeck

In den USA gibt es eine ausgeprägte Tradition engagierter Literatur: Schriftsteller, die von Präsidenten gerne auch als “muckraker” beschimpft wurden.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Bis vor ein oder zwei Jahren waren auf den Schlachthöfen auch Pferde geschlachtet worden, angeblich zur Herstellung von Düngemitteln; aber nach langer Agitation hatte die Presse der Öffentlichkeit klarmachen können, dass die Pferde in die Fleischkonserven wanderten. Jetzt war es daher gesetzlich verboten, in Packingtown Pferde zu schlachten, und dieses Gesetz wurde sogar befolgt – jedenfalls vorläufig.“ 

Upton Sinclair, „Der Dschungel“, 1906


Eine große Zeit der politischen Romane in der amerikanischen Literatur gab es in den bewegten 1920er und 1930er Jahren. Insbesondere Sinclair Lews (1885-1951), der erste amerikanische Schriftsteller, der den Literaturnobelpreis erhielt, steht für diese Phase der kritischen Darstellung amerikanischer Gegenwart. Als Beispiele sind auf dem Blog zu finden “Main Street” und “Babbitt”. Und drei weitere Autoren sowie ihre Romane, die die Welt ein wenig verändert haben (wenn auch oft nur kurz), sind unbedingt zu nennen.


Upton Sinclair

Upton Sinclair (1878-1968) landete 1906 mit seinem Debütroman “Der Dschungel” einen literarischen und politischen Sensationserfolg. Er verstand sich selbst als Enthüllungsjournalist, der mit seinen Texten Missstände offenlegen wollte. Für den Dschungel hatte er über Wochen hinweg in den Schlachthöfen Chicagos recherchiert – und war dort tatsächlich auf einen Dschungel gestoßen, in dem ein eigenes Gesetz gilt, in dem nur die Stärksten überleben. Sein Buch schildert schonungslos die menschenverachtenden Arbeitsmechanismen der Lebensmittelindustrie am Beispiel einer litauischen Familie, die an den Härten der Ausbeutung untergeht. 

Sinclair zeigt die Folgen eines gnadenlosen, nur auf Gewinn ausgerichteten Kapitalismus: Monopolisierung, Schieberei, Korruption, Zwangsprostitution, Ausbeutung, Armut, Umweltzerstörung. Das ganze Spektrum in einem Roman. Der Autor, der selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammte, wurde im Nachgang als „muckraker“, sprich Nestbeschmutzer angeprangert – man könnte das „muckraking“ fast schon als spezifische Stilart der nordamerikanischen Literatur bezeichnen: Auch John Steinbeck, Theodore Dreiser, John Reed und Dos Passos gehören mit zu dieser Klasse engagierter, linker, journalistisch geprägter Literaten. 

Neue Lebensmittelgesetze dank des Romans

Trotz der Diffamierungsversuche blieb das Buch nicht ohne Folgen: „Onkel Toms Hütte der Lohnsklaverei“ (Jack London) führte immerhin zu neuen Lebensmittelgesetzen. Sinclair war jedoch enttäuscht, dass die amerikanischen Bürger mehr an der Qualität der Konserve als am Schicksal der Arbeiter interessiert waren. „Ich zielte mit meinem Roman auf das Herz und das Gewissen der Amerikaner, aber ich traf nur ihren Magen“, beklagte er sich später….oder wie Brecht sagte: „Erst kommt das Fressen, dann die Moral!“ 

Sinclairs Werke wurden in zahllose Sprachen übersetzt und gingen um die Welt. Eine Besprechung hier auf dem Blog gibt es zu “Boston”. In der Weimarer Republik war er einer der meistgelesenen Autoren. Stilistisch und literarisch gehören seine Romane nicht zur ersten Garde – Sinclairs Dschungel ist stark dort, wo er die Auswirkungen der Massenausbeutung auf einen seiner Protagonisten schildert. Das Buch ist aber auch streckenweise belehrend, detailversessen und trocken-mühsam: Die sozialistische „Erweckungspredigt“ mit fast schon biblischen Zügen wirkt etwas verstaubt.  


Theodore Dreiser

“The usual criticism of Dreiser is that, line for line, he’s the weakest of the great American novelists. And it’s true that he takes a pipe fitter’s approach to writing, joining workmanlike sentences one to the other. But by the end he will have built them into a powerful network, and something vital will be flowing through them.”

So lautete 2010 das Urteil von Richard Lacayo, der Dreisers “Eine amerikanische Tragödie” (1925) im “Time Magazine” in die Liste der 100 besten englischsprachigen Romane aufnahm.

Stimmt: Ein Lesevergnügen ist dieser Wälzer nicht – vor allem, wer zuvor die Verfilmung mit Elizabeth Taylor und Montgomery Clift gesehen hat, der wird anhand der Dutzenden von Seiten, die von Erweckungspredigten und religiösem Eifer handeln, kapitulieren. Glamour ist was anderes. Und dennoch: So minutiös, wie Dreiser (1871 – 1945) den Aufstieg und Fall des jungen Clyde Griffiths, der schließlich auf dem elektrischen Stuhl endet, schildert, lässt einen das 800-Seiten-Buch nicht unberührt. Die Stärke des Romans liegt in seiner Gesamtheit: Ihn zu lesen, bedeutet Arbeit, doch das Ergebnis sind Figuren und Schicksale, die man nicht vergisst.

Das Scheitern des amerikanischen Traums

Die Story in der Kurzfassung: Clyde gelingt es, sich aus den Fängen des bigotten Vaters, der sich als Straßenprediger durchschlägt, zu befreien, in dem er zunächst Hoteljunge wird. Ein Leben immer am Rande von Armut und Kleinkriminalität. Durch Zufall trifft er auf einen reichen Verwandten, der ihm einen Job in seiner Fabrik vermittelt. Dort erfährt er zwar erstmals materielle Sicherheit, aber auch Ausgrenzung: Der Zugang zum “Geldadel” seines Onkels bleibt ihm verwehrt, bis sich ein Mädchen aus besseren Hause in ihn verliebt. Sein Aufstieg wäre perfekt, wäre da nicht die Arbeiterin Rosalie, die behauptet, von ihm schwanger zu sein. Clyde plant zwar, Rosalie umzubringen, tut es jedoch nicht – und wird dennoch (wegen anstehender Wahlen und dem Druck auf die Staatsanwaltschaft) zum Tode verurteilt. Ganz im Stil der französischen Naturalisten wie Zola und Balzac zeigt Dreiser an “der amerikanischen Tragödie” das Zusammenspiel des Dreigestirns “Sex, Geld und Macht” auf. Clyde Griffiths, so wird deutlich, hatte niemals eine wirkliche Chance, den amerikanischen Traum vom Tellerwäscher zum Millionär zu leben.

Eine ähnliche Geschichte von Aufstieg und Niedergang, allerdings mit einer weiblichen Hauptfigur, erzählt Dreiser in “Sister Carrie”. Dreiser war, trotz seines schwerfälligen und streckenweise moralinsauren Tons, auch in Europa und natürlich in der Sowjetunion ein vielgelesener Schriftsteller. Er stammte selbst aus einer Familie ähnlich jener seiner Hauptfigur Clyde – er war das zwölfte Kind in einer deutschen Einwandererfamilie, die unter Armut und der Bigotterie des Vaters litt. Das Schreiben bedeutete für ihn auch eine Befreiung aus diesen engen Verhältnissen.  


John Steinbeck

“Eine Minute lang saß Rose von Sharon still in der Scheune, auf deren Dach leise der Regen flüsterte. Sie ging langsam hinüber in die Ecke und blickte herab in das verwüstete Gesicht, in die großen angstvollen Augen. Und dann legte sie sich neben ihn. Er schüttelte müde den Kopf. Rose von Sharon lockerte ihre Decke an einer Seite und entblößte ihre Brust. “Du must”, sagte sie. Sie drängte sich dichter an ihn und zog seinen Kopf zu sich heran. “Komm, hier!” sagte sie. “So.” Sie schob ihre Hand hinter seinen Kopf und stützte ihn. Ihre Finger fuhren sanft durch sein Haar. Sie blickte auf und durch die Scheune, und ihre Lippen schlossen sich und lächelten geheimnisvoll.”

Das ist eines der literarischen Bilder, die man wohl nie vergisst: Die junge Frau, die eine Totgeburt erlitten hat und einen verhungernden Mann, einen Landstreicher wie sie, an ihrer Brust trinken lässt. Harter Tobak, mit dem John Steinbeck (1902 – 1968) seine “Früchte des Zorns” enden ließ. Man spürt in dieser Schlußszene förmlich, wie der Autor sein lesendes Publikum noch einmal packen und rütteln will: Schaut her, was bei uns im Lande geschieht.  

Grapes of Wrath erschien 1939

Der Roman entstand 1937/1938 und erschien unter dem Originaltitel “The Grapes of Wrath” 1939. Er erregte sofort Aufsehen, wurde in einigen amerikanischen Bundesstaaten verbrannt, in Kalifornien sogar zwischenzeitlich verboten, aber auch 1940 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet und noch in diesem Jahr von John Ford erstklassig verfilmt. John Steinbeck kannte die Nöte der Wanderarbeiter aus eigener Erfahrung: Er hatte selbst in Kalifornien als Erntehelfer gearbeitet und die Not der Farmerfamilien, die in den Depressionsjahren ihr Hab und Gut verloren hatten und sich auf der Suche nach Arbeit auf Wanderschaft befanden, kennengelernt.

Passionsweg der Landarbeiter

In “Früchte des Zorns” schildert Steinbeck anhand der Familie Joad ein typisches Schicksal jener 1930er-Jahre: Schlechte Ernten, vor allem aber die drückende Kreditlast und die Unnachgiebigkeit der Banken führen dazu, dass die Familie ihre Farm in Oklahoma verliert. Kalifornien wird als das Paradies für Arbeitssuchende angepriesen – doch die Familie wird schon auf dem mühsamen Weg dorthin mit der Realität konfrontiert: Die landlosen Arbeiter werden ausgebeutet, kaum bezahlt oder um ihren Lohn geprellt, in den Schlaflagern ausgepresst und ausgenommen. Sie leben tatsächlich immer am Rande des Verhungerns. Steinbeck, der große Humanist, schildert diesen Passionsweg voller Anteilnahme für seine Figuren, zugleich aber auch mit dezidierter Kritik an den Verhältnissen.  

Wie “Der Dschungel” hatte auch “Früchte des Zorns” unmittelbare Auswirkung auf die amerikanische Gesetzgebung: Die beiden Romane wurden öffentlich so stark diskutiert, dass die Legislative folgen musste und jeweils die Rechte der Verbraucher und der Arbeiter stärkte. Die amerikanische Tragödie löste wieder einmal eine Diskussion um die Todesstrafe aus – ohne gravierende Folgen allerdings.

Zumindest kurzfristig konnten diese Bücher die Welt minimal verbessern – wenn man über eine “nachhaltige” Wirkung nachdenken würde, müsste man eigentlich verzweifeln.

Adam Johnson: Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Abenteuerroman, Liebesgeschichte, Politbuch: Ein dicker Brocken, den Adam Johnson hier vorlegt. Ein einzigartiger literarischer Blick nach Nordkorea.

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„Der Kapitän mit der Tätowierung seiner Frau auf der uralten Brust tauchte vor seinem inneren Auge auf – wie bläulich verwaschen die ursprünglich schwarze Tinte geworden war. Sie war unter der Haut des alten Mannes verlaufen, und das gestochen scharfe Bild war zum Aquarell verschwommen – zu einem bloßen Schatten der geliebten Frau.“

Adam Johnson, „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“


Abenteuerroman, Liebesgeschichte, Politbuch: Ein dicker Brocken, den Adam Johnson hier mit rund 700 Seiten dem geneigten Leser vorlegt. Dick ja, gewichtig nein: „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“, der zweite Roman des US-Schriftstellers, ist gut geschrieben, wartet mit einem aktuellen Thema auf und arbeitet sich daran burleskisch ab.  Aber dennoch fragt man sich am Ende des Buches: ???

Aus der Schule des kreativen Schreibens

Dass das Buch auf der Bestsellerliste der New York Times gelandet ist, ist nachvollziehbar. Johnsons` Stil ist geschult am amerikanischen System des universitären „Creative Writing“. Immer wieder kommen aus diesen Kaderschmieden – Johnson selbst lehrt in Stanford kreatives Schreiben – hervorragende Unterhaltungsromane. Und dies ist auch „Das geraubte Leben des Waisen Jun Do“ letzten Endes – nicht mehr, und nicht weniger. Eine gut lesbare, unterhaltsame Geschichte, die alle Kriterien des Genres „Abenteuerroman“ erfüllt: Ein moralisch aufrechter Held, eine große Liebe, ein exotischer Schauplatz, unwahrscheinliche, gefährliche Ereignisse. In den Kanon der großen Weltliteratur gehört das Buch aber nicht.

„Adam Johnsons Buch ist politische Science-Fiction, keine Propaganda, aus genuin amerikanischer Perspektive erzählt. Literarisch ist es eigentlich nicht bemerkenswert. Es verbleibt im Romanschema, wie es an amerikanischen Universitäten gelehrt wird, übrigens auch von Adam Johnson. Es gibt eine klare Geschichte, das Leben des Jun Do, kontrastierende Erzählstränge wie die Bekenntnisse eines anonymen, am Job verzweifelnden Folterknechtes oder die aus den Lautsprechern über Pjöngjang quakenden Lern- und Propagandageschichten für das Volk. Das letzte Drittel wird von einem leicht verständlichen ethischen Konflikt dominiert: Lohnen sich Verrat und Selbstopfer? Das ist simpel, verworren hingegen das Leben des Jun Do.“

So urteilt Thomas E. Schmidt 2013 in der Zeit. Und setzt noch eins nach:

Leider unterzieht der Autor auch seine Leser einem Schmerztraining. Lesbar ist das Buch, solange es satirisch bleibt und beispielsweise das nicht minder skurrile Texas aus nordkoreanischer Perspektive beschreibt. Auch das Porträt Kim Jong Ils gelingt. Johnson macht aus ihm einen sardonischen Schöngeist, er ähnelt dem Joker aus Batman, wäre da nicht die Vorliebe für die beigen Vinalon-Anzüge. Ganz unerträglich wird der Roman allerdings, wenn er akribisch Foltermethoden und Demütigungspraktiken schildert. Der Hunger, die Aussichtslosigkeit, die hygienischen Verhältnisse, die grauenerregende Ausbeutung der Körper und Seelen – all das beeindruckt. Doch erhöht die Frequenz solcher Beschreibungen nicht die literarische Qualität. Am Ende sinkt der erschöpfte Leser ins Kissen zurück: “Toll, dass der Waise Jun Do eine unsterbliche Seele hatte. Noch besser, dass das Buch nun aus ist.”

Dass der Schmöker 2013 sogar mit dem Pulitzer-Preis für Belletristik ausgezeichnet wurde, führte bei mir schon zu ersten Zweifeln an den literarischen Maßstäben und Fachkenntnis der Jury. Aber es mag auch eine von der Politik dominierte Entscheidung gewesen sein.

Pulitzerreifes Thema

Denn Johnson hat sich einen Schauplatz gewählt, der insbesondere in den USA Aufmerksamkeit garantiert: Nordkorea. Das Buch ist nach wie vor hochaktuell, was den Grundkonflikt angeht: Die derzeit nach außen dringenden Nachrichten aus Nordkorea machen die im Roman beinahe fiktiv anmutenden Lebensverhältnisse, den Führerkult, die Unterdrückung der Menschen, die Brutalität und Verfolgung Andersdenkender nur zu glaubhaft.

Der exotische Schauplatz, den Johnson gewählt hat, ist also das Nordkorea des vergangenen Jahrzehnts. Der Leser profitiert hier von der journalistischen Ausbildung des Schriftstellers: Johnson hat umfangreich über Nordkorea, das Politsystem, die Ausbeutung der Menschen dort und deren Alltag recherchiert, bis hin zu einer Reise in das abgeschottete Land – hier allerdings war es Johnson, wie allen anderen Gästen auch, nicht möglich, hinter die Kulissen zu sehen. Vor allem dies macht eben auch die Faszination des Romans aus: Wenig weiß man über diese kommunistische Diktatur, wenig dringt nach außen. Die kurze Hoffnung, dass nach Kim Jong II durch dessen Sohn Kim Jong Un (der im Roman nicht auftritt) eine Öffnung und Besserung geschehen könnte, wurde schnell zunichte gemacht.

Erzählt wird von Johnson die Geschichte eines Waisenjungen, der in einem Staat, der seine Bürger normieren möchte, um seine Individualität kämpft – auch wenn er selbst keine Geschichte, keine Familie, nichts eigenes mitbringt. Jun Do ist auch ein John Doe – der sich jedoch im Laufe des Romans häutet, in eine neue Identität schlüpft, der versucht, das System in der Maske des Funktionärs auszutricksen. So weit, so gut – doch das Buch wankt zwischen realistischer Alltagsbeschreibung im unbekanntesten Land der Welt und wandelt sich dann, im zweiten Teil, zu einer Burleske mit tragischem Ausgang. Ein Bruch im Buch, der das Ganze seltsam unentschlossen wirken lässt.

Von Verlusten und dem Erwachsenwerden

Teil 1 – der Waisenjunge Pak Jun Do lernt eine Lektion fürs Leben: Je mehr der „geliebte Führer“ Kim Jong II einem seiner Bürger gibt, desto mehr kann er ihm nehmen: Zwischenmenschliche Beziehungen sind nur Beziehungen auf Zeit. Wer einen Menschen bei sich haben will, tätowiert sich sein Gesicht auf die Brust. Aber selbst diese hautnahen Beziehungen verblassen. Denn zwischenmenschliche Beziehungen sind gefährlich: Wer liebt, wird verletzbar. So opfert Pak Jun Do  seiner großen Liebe, seiner Sonne, seinem Mond, der Staatsschauspielerin Sun Moon, auch sein Leben. Teil 1 erzählt von Pak Jun Do, seinem Erwachsenwerden, seinen Verlusten, seiner Instrumentalisierung für das System.

Teil 2 – Pak Jun Do häutet sich. Er schlüpft in die Haut des Kommandanten Ga. Wird Ehemann der Staatsschauspielerin Sun Moon, wird persönliche Marionette des geliebten Führer, wird Folteropfer und Lebensretter. Um die Geschichte schlüssig zu Ende zu bringen, braucht es wohl diesen Rollenwechsel – trotzdem bleibt am Ende der Eindruck zurück, dass dem Autoren diese seltsame Konstruktion als einziger Ausweg verblieb, um seinen Roman irgendwie zu Ende zu bringen.

Erzählerisch in eine Sackgasse geraten, wird die Geschichte durch einen Kunstgriff befreit – nicht der einzige Haken, den Johnson schlägt. Oder wie es Hubert Spiegel im Deutschlandfunk ausdrückte:

“Seine Handlung schlägt Haken, die jeden jungen Hasen wie eine alte Schildkröte aussehen lassen.”


Bibliographische Angaben:

Adam Johnson
Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Übersetzt von Anke Caroline Burger
Suhrkamp Verlag, 2014
ISBN: 978-3-518-46522-6