STANISLAW BARANCZAK: Ethik & Poetik

Stanisław Barańczaks Essaysammlung Ethik&Poetik ist das Zeugnis eines literarischen und kritischen Ringens mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – ein Ringen um die Literatur und deren erhofften Rolle bei der Wiederherstellung eines ethischen Wertesystems. Der Band liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor.

Bewegt von der ernsthaften Sorge um die ethische Integrität von Literatur, die immer dann am stärksten gefährdet zu sein scheint, wenn Schriftsteller*innen in die Klauen der Politik geraten und zwischen Gehorsam und Widerstand wählen müssen, ist Stanisław Barańczaks frühe Essaysammlung Ethik und Poetik (EA 1979) das Zeugnis eines literarischen und kritischen Ringens mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts – ein Ringen um die Literatur und deren erhofften Rolle bei der Wiederherstellung eines ethischen Wertesystems. An Klassikern wie Thomas Mann, Ossip Mandelstam, Dietrich Bonhoeffer, Czesław Miłosz, Miron Białoszewski, Wisława Szymborska, Zbigniew Herbert und anderen mehr zeichnet Barańczak in “Ethik&Poetik” jene poetischen Überzeugungen nach, für die deren Autor*innen mit Schreibverbot, Exil oder Tod bezahlen mussten.

„Auf dem großen Gruppenfoto des polnischen Geistes im 20. Jahrhundert, wie wir es kennen, war immer eine Leerstelle, ein weißer Fleck: Er war für Stanisław Barańczak reserviert, den leidenschaftlichen Dichter, Denker, Übersetzer und Essayisten – sowie politischen Aktivisten bereits vor der Solidarność-Zeit. Zusammen mit Ryszard Krynicki, Adam Zagajewski, Julian Kornhauser, Ewa Lipska und anderen bildete er eine „neue Welle“ der polnischen Kultur, in der Ethik und Ästhetik einen unauflöslichen Pakt eingegangen waren. Zu meiner großen Freude erscheint nun die erste Auswahl von Barańczaks Arbeiten in deutscher Sprache. Wer diesen gastfreundlichen Intellektuellen Nimmersatt nicht mehr persönlich kennenlernen konnte, hat nun endlich Gelegenheit, ihm über seine Arbeit näherzukommen. Und das Gruppenfoto ist nun (fast) vollständig“ schreibt Michael Krüger, einer der Herausgeber zu diesem Buch, das nun in der Edition Faust erschienen ist.

Stanisław Barańczak wurde 1946 in Posen geboren. Er studierte Polonistik an der Adam-Mickiewicz-Universität, an der er 1973 mit einer Dissertation über Miron Białoszewski promovierte. Sein Debüt als Dichter lieferte er bereits 1965. Er gehörte 1976 zu den Gründern des KOR (Komitee zur Verteidigung der Arbeiter). Der prominente Vertreter der polnischen Neuen Welle / Generation 68 gilt als einer der bedeutendsten Lyriker, Übersetzer und Essayisten der polnischen Gegenwartsliteratur und wurde mehrfach national wie international prämiert. Stanisław Barańczak ist 2014 in Newtonville, Massachusetts, gestorben.


Stimmen zum Buch:

“Das ist schließlich das große Wunder mutiger und aufrichtiger Menschen, zu denen wir Baranczak zählen dürfen: Jahrzehntelange allumfassende Propaganda konnte nicht verhindern, dass sie existieren, sich entwickeln und aufklärerisch tätig werden; und das heißt, dass es unter allen Umständen immer Hoffnung gibt, so düster die Gegenwart auch aussehen mag. Baranczak war mit seiner Kritik am kommunistischen Polen, die er in seinen vielen Texten übt, ein ethischer Visionär: Er wusste, dass er auf der Seite der Guten steht, und dass seine Sache eines Tages notwendig gewinnen musste.” – Arne-Wigand Baganz

12. Juli 2023:Marta Kijowska widmet Stanisław Barańczak und dessen Essays einen ausführlichen und kenntnisreichen Beitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

“Das ist Ethik, das ist Poetik: Das ist das, was in der heutigen deutschen Dichtung zu selten ans Licht dringt, nämlich: „Der Kern der Sache (…), dass in der heutigen Welt gerade das dichterische Denken am häufigsten zum Gegenpol jeglicher Form des dogmatischen Denkens wird“, wie Baranczak schreibt.” – Artur Becker in der Frankfurter Rundschau


Stanisław Barańczak
Ethik und Poetik
Essays
Herausgegeben von Alexandru Bulucz, Ewa Czerwiakowski, Michael Krüger
Aus dem Polnischen von Jakub Gawlik und Mateusz Gawlik
Broschur, 416 Seiten, € 28,–ISBN 978-3-945400-46-3


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Edition Faust.

Olga Tokarczuk: Gesang der Fledermäuse

Veronika Eckl meint: Mit dem Roman “Gesang der Fledermäuse” ist Olga Tokarczuk die Frau der Stunde. Sie feiert die Tiere und betrachtet Menschen mit Skepsis.

Bild von woong hoe auf Pixabay

EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

In den Tagen der Corona-Stille schlug die Stunde der Tiere. Die Vögel sangen sich die Seele aus dem Leib, ganz ungestört von Flugzeugen und morgendlichem Verkehrslärm. Auf den Feldern standen ohne Scheu die Rehe, und durch die Parks in den Städten konnte man mit etwas Glück wilde Hasen hoppeln sehen. Es war, als ob die Natur aufatmen würde, und es ist auch jetzt noch, da die Betriebsamkeit wieder zurückgekehrt ist, die richtige Zeit, um Olga Tokarczuk zu lesen, die polnische Literaturnobelpreisträgerin, die die Tiere feiert und den Menschen mit einer großen Portion Skepsis gegenübersteht. Ihr Roman Gesang der Fledermäuse erschien in Polen schon lange vor der neuen Pandemie-Zeitrechnung, nämlich 2009, bevor wir wussten, was Kontaktbeschränkungen sind und begannen, Waldspaziergänge zu unternehmen, statt uns in Kinos und Bars zu vergnügen.

Der Kommissar, die Rehe und der Kostümball der Pilzsammlergesellschaft

Jetzt ist Tokarczuk die Frau der Stunde. Denn die Heldin ihres skurrilen kleinen Kriminalromans, oder vielmehr der Parodie eines solchen, macht uns vor, wie man bescheiden, fern vom geschäftigen Treiben der Welt und doch heiter lebt: Inmitten einer Natur, die das Einkaufszentrum ersetzt, das Fitnessstudio und ja, auch menschliche Gesellschaft. Kontaktbeschränkungen jedenfalls wären für Janina Duszeijko kein Problem. Die ehemalige Brückenbauingenieurin, die auf einem einsamen Hochplateau an der polnisch-tschechischen Grenze wohnt, dort im Winter auf die Ferienhäuser der Sommerfrischler aus der Stadt aufpasst und in der Dorfschule Kindern Englisch beibringt, kommt gut mit sich allein zurecht. Sie studiert den Sternenhimmel und erstellt Horoskope, beobachtet die Natur im Wechsel der Jahreszeiten und hält die Einsamkeit in dieser Gegend ohne anständig funktionierendes Mobilfunknetz viel besser aus als die Tatsache, dass der Nachbar Rehe in Drahtschlingen fängt und die Füchse in der nahen Fuchsfarm in ihren Käfigen leiden. Den örtlichen Polizeibeamten geht die ältere Dame gewaltig auf die Nerven, weil sie die Tierquälerei hartnäckig zu Protokoll gibt und überdies aus ihrer Abneigung gegen die Jagd keinen Hehl macht – und das in einer Gegend, in der es vor begeistert Fasane und Rehe schießenden Männern nur so wimmelt. Sogar der Pfarrer geht auf die Pirsch.

Olga Tokarczuk entführt in eine bizarr anmutende Welt

Es ist eine bizarr anmutende Welt, in die Tokarczuk ihre Leser da mitnimmt, eine, in der die Menschen, die mit ihren teuren Jeeps auf das Hochplateau kommen, sich die Natur ohne viel Federlesens untertan machen und in der die Tiere sich gleichzeitig fast unbemerkt der Lebensräume der Menschen bemächtigen. Im Ferienhaus des Professors schlafen Fledermäuse, in dem der Schriftstellerin leben Marder, und immer wieder finden sich im Schnee Spuren von Rehklauen. Janina ist mit den Tieren und Pflanzen mehr auf einer Wellenlänge als mit den Menschen, äußert sich zu ihrem eigenen Gesundheitszustand so: „Ich war schwach wie ein im Keller gewachsener Kartoffeltrieb.“ Sie weiß, wann welche Blumen die Farben in den Wiesen explodieren lassen und kennt den Fuchs, der sie zu gewilderten Wildschweinkadavern führt, als wäre sie eine Anwältin der Natur.

Kein Wunder also, dass Janina eine gewisse Faszination und Genugtuung verspürt, als zunächst ihr Nachbar an einem Rehknochen erstickt, dann der Kommissar tot in einem Brunnen gefunden wird und schließlich auch noch der Besitzer der Fuchsfarm ums Leben kommt. Ihre These, mit der sie ihre ganze Umgebung und natürlich die Polizei nervt: Die Tiere haben ihre Peiniger ermordet, aus Rache. Da stöhnen sogar ihre einzigen Freunde, ihr ehemaliger Schüler Dyzio und die Secondhand-Laden-Besitzerin Buena Noticia aus der Stadt. Nur so viel sei verraten: Zum Showdown kommt es beim Kostümball der Pilzsammlergesellschaft „Der Steinpilz“.

Zivilisationskritik und Naturmystik

Das alles ist ganz unerhört und immer wieder sehr lustig – man muss erst einmal auf die Idee kommen, dem Pfarrer Zitate aus authentischen Predigten von Jagdpriestern in den Mund zu legen – hat aber ein solides pessimistisch-zivilisationskritisches Fundament. „Die Tiere sagen etwas über das Land. Die Beziehung zu den Tieren verrät, wie es um das Land bestellt ist“, schleudert Janina den Polizeibeamten ins Gesicht. Zusammen mit ihrem ehemaligen Schüler übersetzt sie die Gedichte des englischen Dichters und Naturmystikers William Blake; einem jeden Kapitel des Romans ist ein Zitat aus seinen Werken vorangestellt. Damit reihen sich die Protagonistin und ihre wenigen Vertrauten ein unter die Menschen, die, wie es Blake geschah, von ihren Zeitgenossen als Spinner abgetan werden.

Tokarczuks Sympathie gilt den Schrulligen und Sonderlingen. Klar, dass nur eine so einzigartige Gestalt wie der Insektenforscher Borys Janinas Herz erobern kann – für ein Paar Tage wird der Wissenschaftler, der auf der Hochebene nach dem Scharlachkäfer sucht, ihr Liebhaber. Dass er fortgeht und sich nicht mehr meldet, nimmt sie stoisch hin; das Schlechte im Menschen überrascht eine Janina Duszeijko nicht mehr. Spätestens hier wird klar, dass auch das Altern ein großes Thema des Romans ist. Die selbsternannte Einsiedlerin hat offensichtlich beschlossen, bei der großen Jagd aufs große Glück nicht mehr mitzumachen und sich selbst nicht so wichtig zu nehmen: „Wenn ich auf meinen Rundgängen über die Felder und das Brachland gehe, dann stelle ich mir gerne vor, wie das alles in einer Million Jahren aussehen wird. Wird es dann noch die gleichen Pflanzen geben? Und die Farbe des Himmels, wäre sie noch genauso wie heute?“, fragt sie sich, um gleich darauf in gelassener Resignation festzustellen; „Meine Bemühungen hier sind so gut wie nichts, sie haben auf der Spitze einer Stecknadel Platz, so wie auch mein Leben. Das muss ich mir vor Augen halten.“

Und der Mörder? Ach, egal. Viel wichtiger ist, dass man nach der Lektüre dieses Romans Lust hat, in Janinas Gesellschaft in einer Tasse Schwarztee zu rühren, aus ihrem Mund noch mehr solche Sätze zu hören und sich von ihr ein Horoskop erstellen zu lassen. Mal sehen, was die Zukunft so bringt.


Informationen zum Buch:

Olga Tokarczuk
Gesang der Fledermäuse
Aus dem Polnischen von Doreen Daume.
Kampa Verlag, 307 Seiten, 24,00 Euro


Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher

Überwiegend wurden „Die Jakobsbücher“ im Feuilleton als „Opus Magnum“ der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk gefeiert, als ein Roman, der vor allem in Polen – wo das Buch ja auch bei Nationalisten auf heftigen Widerstand und zu Bedrohungen der Autorin führte – zu einem neuen, anderen Blick auf die europäische und polnische Geschichtsschreibung führt. Mich ließ das jüngste Werk der Literaturnobelpreisträgerin jedoch etwas ratlos zurück.

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Bild: Michael Flötotto

Überwiegend wurden „Die Jakobsbücher“ im Feuilleton als „Opus Magnum“ der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk gefeiert, als ein Roman, der vor allem in Polen – wo das Buch ja auch bei Nationalisten auf heftigen Widerstand und zu Bedrohungen der Autorin führte – zu einem neuen, anderen Blick auf die europäische und polnische Geschichtsschreibung führt. Mich ließ das jüngste Werk der Literaturnobelpreisträgerin jedoch etwas ratlos zurück.

Zugegeben: Sprachlich und stilistisch (offenkundig auch eine Meisterleistung der Übersetzer Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein) ist dieses Mammutwerk faszinierend. Olga Tokarczuk führt einen auf den Spuren des Sektengründers Jakob Frank auf „eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet“, wie es der opulente Untertitel des Romans besagt.

Barockspektakel aus Polen

Das „Barockspektakel“ (so Insa Wilke im WDR als eine der wenigen kritischen Stimmen) entfaltet an der Figur dieses Mannes ein Bild vom jüdischen Leben in Polen im 18. Jahrhundert, von der Verfolgung des Judentums zwischen willkürlichen Pogromen und den Versuchen zur Emanzipation oder auch Anpassung. So zeigen die Jakobsbücher auch die Wanderungsströme der Menschen durch Europa und den Orient nach – Frank selbst tritt beispielsweise zwischenzeitlich zum Islam über, bis er seine Anhängerschaft in das Christentum und nach Offenbach am Main führt (hier begegnet er übrigens auch Sophie von La Roche, eine der vielen Personen, die im Roman ihren Auftritt haben).

“Die Jakobsbücher” bewegt durch eine Recherche, die jüdische Geschichte als europäische Geschichte festschreibt – und es bestürzt durch die Einsicht, dass Wissen allein nicht klug macht“, urteilt Amelia Wischnewski im NDR. Dem kann ich zustimmen. Und dennoch ließ mich die zweiwöchige Lektüre unzufrieden zurück: Warum so viele Menschen auf den faulen Zauber eines Jakob Frank hereinfielen, welche Faszination der Mystizismus  vor allem auf die Ärmsten ausübte, die ihn als Ausweg aus ihrem irdischen Leid begreifen mussten, all dies geht in der Fülle des Romans unter und wäre doch das Kernmotiv.

Für den noch jungen Kampa Verlag, der seit einiger Zeit die Werke von Olga Tokarczuk in deutscher Sprache wieder auflegt beziehungsweise neu herausgibt, war die Verleihung des Literaturnobelpreises an die polnische Schriftstellerin ein Glücksfall. Für die Leserinnen und Leser ist es dies auch – aber ich würde zum Einstieg andere Bücher von ihr empfehlen, unter anderem „Unrast“, das mich vor Jahren wirklich begeisterte oder den von Veronika Eckl besprochenen “Gesang der Fledermäuse”.


Informationen zum Buch:

Olga Tokarczuk
Die Jakobsbücher
Kampa Verlag
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
1184 Seiten | Gebunden |42,00 Euro
ISBN 978 3 311 10014 0 | Auch als E-Book

Susanne Fritz: Wie kommt der Krieg ins Kind

Wie ist es mit der Übertragung traumatischer Erfahrungen, wie prägen uns die Erlebnisse unserer Eltern? Susanne Fritz mit einer besonderen Spurensuche.

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„Doch was ist ein authentischer Ort, was ist eine authentische Geschichte? Der Heimatort meiner Mutter war für mich schon immer ein erzählter, fiktiver Ort, wie seine Bewohner schon immer erzählte, fiktive Bewohner waren, von denen manche plötzlich auf Besuch in unserem Garten standen. Fiktion und Wirklichkeit bildeten ein und dasselbe Gewebe, dessen Farbe je nach Lichteinfall changierte. Schwerenz heißt die Stadt, die ich in mir trage – namensgleich, doch nicht identisch mit der historischen Stadt Swarsędz/Schwersenz bei Poznán/Posen. Was habe ich von der Stadt, die ich in mir trage – über Pflaumenkuchen und Wespen, vor denen ich mich in Acht nehme, hinaus – in der Hand?“

Susanne Fritz, „Wie kommt der Krieg ins Kind“

„Wenn Krankheiten auftauchen, fragen wir nach unserem genetischen Erbe“, stellt Susanne Fritz in diesem sehr persönlichen Buch an einer Stelle fest. Wie aber ist es mit der epigenetischen Übertragung traumatischer Erfahrungen, wie prägen die Erlebnisse unserer Eltern, unserer Großeltern unsere eigene Biographie? Wie viele Generationen wird es dauern, um die Wunden, die Krieg, Vertreibung und Flucht aufreißen, tatsächlich zu heilen? Wie lange setzt sich das Verlustgefühl fort, wenn eine Familie ihre Heimat verliert, wenn die Vorfahren entwurzelt werden, wenn sich das Erlebnis, fremd zu sein, dort wohin es einen verschlägt, von Generation zu Generation wiederholt?

Das Gefühl des Fremdseins

Die 1964 geborene Schriftstellerin, die im Schwarzwald aufwuchs, kennt dieses Fremdheitsgefühl, das ihr als Kind von Heimatvertriebenen begegnet. Doch mehr noch, so wird in ihrem Buch deutlich, treibt sie das lebenslange Schweigen ihrer Mutter zum Schreiben, ein Schreiben, das zum Ringen um Wirklichkeit und Wahrheit, zum biographischen Aufarbeiten einer Familiengeschichte bis hin zum Versuch, sich das eigene Leben zu erklären, wird.

Die Mutter der Autorin und Regisseurin wird als 14-jähriges Mädchen in das polnische Arbeitslager Potulice interniert, vier Jahre verbringt sie dort, bis sie zu ihrer Mutter und der älteren Schwester in den Westen kann. Vier Jahre, über die die Frau nichts erzählt:

„Meine Mutter konnte von entwaffnender Offenheit sein im plötzlichen Wechsel mit hartem, undurchdringlichem Schweigen. Plötzlich stieß man an eine unsichtbare, unverrückbare Wand. Wo liegt die Trennlinie zwischen dem Erzählbaren und dem Unsagbaren, der unterhaltsamen makaber-witzigen Anekdote und dem Erzähltabu, dessen Nichteinhaltung Panik zur Folge hatte?“

Das Schweigen legt sich jedoch nicht nur über die Erlebnisse in dem Lager, in dem unmenschliche Verhältnisse herrschten, sondern auch über die Vorgeschichte der Familie, die eng verbunden ist mit den politischen Wechselspielen des vergangenen Jahrhunderts: Erst gehörte Swarsędz/Schwersenz zum Deutschen Reich, wurde 1919 mit dem Versailler Vertrag der jungen polnischen Republik zugesprochen, dann von den Nationalsozialisten besetzt und schließlich 1945 von den Russen erobert.

Dokumentarische Recherche und fiktionales Schreiben

Susanne Fritz recherchiert die Familiengeschichte, verwebt – ähnlich wie Ursula Krechel beispielsweise in „Landgericht“ – dokumentarische Recherche und fiktionales Schreiben zu einem Gesamtbild. Ihre Suche nach Antworten bringt nicht in allen Fällen Licht in die Vergangenheit: Ob ihr Großvater, der eine deutsche Bäckerei betrieb, Mitläufer oder Täter war, ob in der Familie nationalsozialistisches Gedankengut bedenkenlos übernommen wurde oder ob man in einer Art stillschweigenden Übereinkunft mit den polnischen Nachbarn zu überleben versuchte, dies bleibt ungewiss.

Doch schrittweise dringt die Autorin mehr und mehr in die Kindheit ihrer Mutter vor, beginnt zu verstehen, wandelt das Ungesagte in Geschriebenes um. „Mutter.Sprache“, „Macht.Worte“, „Buch oder Leben“: Die Kapitelüberschriften deuten an, wie sehr in dieser Konstellation auch Susanne Fritz um ihre Sprache ringt, auslotet, wie weit ihr Schreiben gehen kann und gehen darf – auch in Rücksicht auf die Mutter, die dem Trauma keine Stimme geben wollte und geben konnte.

Die Perspektive der Vertriebenen

So ist dieses Buch nicht nur in politischer Hinsicht ein bedeutsames, besonderes Werk, das eines der Wenigen ist, das die Perspektive der Vertriebenen auf diese Weise auslotet, sondern auch ein Buch über die Macht und Ohnmacht des Wortes und über die Verantwortung Schreibender. Jede Autorin, jeder Autor hinterlässt in jedem seiner Werke ein Stück seines Lebens – eine vom Schreibenden losgelöste Fiktion existiert nicht. Dies ist meine Überzeugung. Und von Susanne Fritz wird dies indirekt bestätigt: Nach der Veröffentlichung ihres ersten Romans, den sie von jedem biographischen Hinweis frei glaubte, kommt es zum Zerwürfnis mit der Mutter, die in und zwischen den Zeilen von sich zu lesen glaubt.

„Langsam begriff ich. Der Krieg war nicht zu Ende. Der Irrsinn vergangener Tage wütete in unserem Haus.“

Jahrzehnte später nun dieses Buch, mit dem das Trauma sichtbar gemacht wird.

„Nun wurden Haus und ehemalige Bäckerei mir sozusagen in den Schwarzwald hinterhergetragen. Also, habe ich Pläne für unser Haus? Ja, habe ich. Das Haus soll ein Buch werden. Ein Text, der seiner steinernen Gestalt nicht mehr bedarf. Ein Papierhaus. Ein Buchstabenhaus.“

Ein Haus aus Buchstaben und darin Backsteinenzeilen voller Geschichte, mit einer spröden und doch so sinnlichen Sprache gebaut, ein Haus, das von vielen Leserinnen und Lesern besucht werden sollte.

Informationen zum Buch:

Hier der Link zu einer empfehlenswerten Besprechung im Deutschlandfunk.

Wie kommt der Krieg ins Kind
Susanne Fritz
Wallstein Verlag Göttingen, 2018
20,00 Euro
268 S., geb., Schutzumschlag
ISBN: 978-3-8353-3244-7

Tadeusz Pankiewicz: Die Apotheke im Krakauer Ghetto

Tadeusz Pankiewicz war als Apotheker der einzige nichtjüdische Bewohner des Krakauer Ghettos. Sein Buch ist ein erschütterndes Zeitdokument.

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Bild von Tomasz Pro auf Pixabay

„In dieser kleinen Straße kamen viele Menschen um. Von der Mauer des dort gelegenen Wohnhauses, direkt meinen Fenstern gegenüber, müssen sich alte Menschen aufstellen und werden erschossen. Es sind überwiegend diejenigen, die man aus ihren Verstecken gezogen hat. An einer anderen Seite des Platzes schießen sie auf Kinder. Darin sind die Deutschen einzigartig: Auch wenn es um Verbrechen geht, ihre Planungen halten sie genauestens ein.“

Tadeusz Pankiewicz, „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“


Als die Deutschen 1939 im September 1939 in Krakau einmarschierten, dauerte es nicht lange, bis sie auch mit ihrer systematischen und gnadenlosen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung begannen. 1941 wurde im Stadtteil Podgórze, in dem ursprünglich rund 3.000 Menschen lebten, das Krakauer Ghetto errichtet. In dem Bezirk am rechten Weichselufer wurden bis zu 20.000 Menschen zusammengepfercht und wie Arbeitssklaven gehalten. Die wenigsten dieser Menschen überlebten diesen Hass: Krakau, heute wieder zweitgrößte Stadt Polens, verlor unter den Nationalsozialisten seine komplette jüdische Gemeinde, insgesamt fielen dem Terror der Nazis fast die Hälfte der Bevölkerung zum Opfer.

Polen war der Zutritt zum Ghetto verboten. Nur ein nichtjüdischer Krakauer wird zum ständigen Ghettobewohner: Tadeusz Pankiewicz (1908 – 1993), dessen Apotheke „Pod Orlem“ (Unter dem Adler) in Podgórze liegt. Mit Schmiergeld und Bestechungen gelingt es dem Pharmazeuten, eine Verlegung der Apotheke zu verhindern – und so wird Pankiewicz Augenzeuge der grausamen Vorgänge im Ghetto von dessen Errichtung bis zu seiner vollständigen Auflösung Ende 1943.

Ein ergreifendes Zeitdokument

Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hält er seine Erinnerungen schriftlich fest: „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“ ist ein ergreifendes, erschütterndes Zeitdokument, das zeigt, was geschieht, wenn Menschen von anderen Menschen entmenschlicht werden. Ein Buch, das in diesen Tagen von besonderer Bedeutung ist, da Menschlichkeit gegenüber einer ganzen Gruppe von Menschen auf der Strecke zu bleiben droht.

Ignatz Bubis schrieb in seinem Vorwort zu diesem Buch:

„Es ist sein Verdienst (Tadeusz Pankiewicz), das Geschehen im Krakauer Ghetto vor dem Vergessen bewahrt zu haben. Die Erinnerung daran schulden wir den Opfern, aber auch uns und künftigen Generationen, denen es erspart bleiben soll, ähnliche Schrecken zu durchleben.“

Das Buch ist als Zeitdokument eine Mahnung und ein Mutmacher zugleich: Denn Pankiewicz, der später mit dem Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wird, setzt täglich uneigennützig sein Leben aufs Spiel, um den Menschen im Ghetto zu helfen. So wird die Apotheke zum Umschlagsplatz für Nachrichten an Freunde und Bekannte außerhalb des Ghettos, zum Unterschlupf und Treffpunkt, zur Nachrichtenbörse. Wo es möglich ist, hilft der Apotheker mit kostenlosen Medikamenten, mit Essen, er verschafft notwendige Papiere, versteckt die Kostbarkeiten aus der Synagoge, kurzum: Er hilft, wo er kann.

Das Krakauer Ghetto wird zur Stadt der Toten

Ihm brennen sich die Bilder des sadistischen, beinahe rauschhaften Tötens bei den Räumungen des Ghettos, das sich von Mal zu Mal steigert, unauslöschlich ein. Am Fenster seiner Apotheke wird er Zeuge, wie Gestapo und SS sowie ihre Schergen Menschen peinigen. Er schreibt über „Die Stadt der Toten“:

„Seit der Auflösung des Ghettos hat die Existenz der Apotheke ihren Sinn verloren. Es kam mir so vor, als wäre ich nach zweieinhalb Jahren im Ghetto umgesiedelt worden in ein Land der Toten, in ein von Menschen geräumtes Städtchen, wo der Widerhall der Schritte in den ausgestorbenen Straßen Angst weckt und wo der Anblick eines Menschen, der vorübergeht, einem einen Schauer über den Rücken jagt. In den so eng bewohnten Häusern und auf den Straßen, wo es noch vor einigen Stunden von Menschen wimmelte, herrschte Leere. Der Hauch des Todes wehte durch die Straßen und streifte jedes Haus und jede Wohnung.“

Pankiewicz, der sich selbst in seinem Buch sehr zurücknimmt, aus dessen Zeilen einfach eine Vornehmheit der Haltung sprechen, schreibt in einem späteren Vorwort:

„Die Apotheke im Krakauer Ghetto wirft meiner Meinung auch ein zusätzliches Licht auf die Mechanismen, die der Haltung und dem Verhalten zugrunde liegen, welches Menschen in Situationen der Bedrohung, des Schreckens und im Moment ihres Untergangs zeigen, aber auch auf das Verhalten derjenigen, die die Verursacher dieses Unheils waren. Das Buch kann einen Beitrag zur Erkenntnis über die Psychologie des Verbrechers und seines Opfers liefern.“

Die Verbrecher zeigen vor allem eines: Vollkommene Empathielosigkeit gegenüber ihren Opfern. Und es ist erschreckend festzustellen, dass diese Entmenschlichung anderer aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Rasse, ihrer Religion genau jetzt wieder geschieht, jetzt wieder um sich greift.


Tadeusz Pankiewicz, „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“, 1947, neu aufgelegt 2017 von Jupp Schluttenhofer, Friedberg.

Die Entstehungsgeschichte der Neuauflage dieses wichtigen Zeitdokuments ist hervorzuheben: Das Buch erschien erstmals 1995 in deutscher Übersetzung durch Manuela Freudenfeld. Inzwischen war es nur noch antiquarisch zu haben. Ein Privatmann hat es nun auf eigene Initiative hin wieder zugänglich gemacht – unterstützt von Sarah und Benno Käsmayr vom MaroVerlag wurde Jupp Schluttenhofer zum Verleger und brachte „Die Apotheke im Krakauer Ghetto“ in einer Auflage von zunächst 1.500 Stück heraus.

Die Homepage zum Buch:  http://www.die-apotheke-im-krakauer-ghetto.de/