Emma Flint: In der Hitze eines Sommers

In ihrem Debütroman entwickelt Emma Flint das Psychogramm einer Frau, um die sich die Kreise der gesellschaftlichen Missachtung und persönlichen Rachlust immer enger drehen. Ein psychologisch spannender Pageturner.

Bild New York: Bild von laurapuig4 auf Pixabay

Sie war ekelerregend.
Sie war ein Monster:
Sie zog die Knie zu sich heran und ließ sich zur Seite fallen. Vermutlich hörten die Cops inzwischen ihr Telefon ab, und vielleicht hatten sie auch Wanzen in der Wohnung versteckt, deshalb gab sie keinen Ton von sich, denn sie dachte gar nicht daran, ihnen die Genugtuung zu verschaffen, sie weinen zu hören.
Ihr blieb nichts anderes übrig, als still zu halten, in Deckung zu gehen und zu hoffen, dass eines Tages der beste Sex seines Lebens dazu bewegen würde, bei ihr zu bleiben. Weil sie es einfach nicht ertrug, allein zu sein. Weil das ihr ganzes Kapital war.

Emma Flint, „In der Hitze eines Sommers“.

Als in einer heißen New Yorker Julinacht ihre beiden Kinder aus der Wohnung verschwinden und später tot aufgefunden werden, dauert es nicht lange, und die Kellnerin Ruth Malone steht selbst als Hauptverdächtige im Mittelpunkt der Ermittlungen. Die Vorurteils-Maschinerie läuft perfekt: In den Augen der tratschsüchtigen Nachbarinnen, der nach Sensationen heischenden Presse, des moralisch-verklemmten Ermittlers kann nur sie die Täterin gewesen sein. Zu freizügig ihr Sexualleben, zu häufig wechselt sie ihre Bettgenossen. Auch Ehemann Frank, von dem sie längst getrennt lebt, streut auf seine scheinbar unbedachte Art und Weise Zweifel.

Erfolgreicher Debütroman

In ihrem Debütroman, der unter dem Titel „Little Deaths“ 2017 im Original in London erschien, entwickelt Emma Flint das Psychogramm einer Frau, um die sich die Kreise der gesellschaftlichen Missachtung und persönlichen Rachlust durch Menschen, die sich allein von Ruths Art vor den Kopf gestoßen fühlen, immer enger drehen. Susanne Keller gelingt es in ihrer Übersetzung, die Mischung aus Tempo und Subtilität, die dieses Buch zu einem Pageturner macht, gekonnt umzusetzen.

Emma Flint, Absolventin des Schreibprogramms der Faber Academy in London, weiß als solche, einen Spannungsbogen zu setzen – das liest sich für ein Debüt fast schon routiniert, was aber bei dieser Story keineswegs von Nachteil ist. Bis zuletzt dürfen die Lesenden selbst an Ruths Schuld oder Unschuld zweifeln.

Alice Grimmins war die Inspirationsquelle

Für „In der Hitze eines Sommers“ nahm sich die Autorin den Fall der Amerikanerin Alice Grimmins als Inspirationsquelle, die 1965 wegen des Mordes an ihren beiden Kindern verurteilt wurde – bis zuletzt ab es Zweifel an ihrer Täterschaft, es konnten keinerlei Beweise gefunden werden, die sie oder jemand anderen in Zusammenhang mit der Entführung und dem Tod der beiden Kleinen in Zusammenhang brachten.

Flint nutzt diese Vorlage, um in ihrem Roman deutlich zu machen, dass in den Augen der Öffentlichkeit die vermeintliche Täterin sich in anderer Beziehung schuldig gemacht hat. Eine Freundin, ihre einzige Freundin, bringt dies im Gespräch mit einem Reporter auf den Punkt:

Gina lächelte. »Allerdings. Wissen Sie, was sie gesagt hat? Sie hat gesagt: Ich wollte das nie – heiraten und Kinder und all das. Ich wollte immer anders sein als die anderen.«

Wer anders sein will als die anderen wird in einer puritanischen Gesellschaft wie den USA der 1960er (und auch bis heute noch) misstrauisch beäugt, vorverurteilt, bestraft. Zumal sich Ruth auch in der größten Krise noch weigert, sich den Konventionen anzupassen: Selbst als sie trauert, achtet sie auf ihr Äußeres, zeigt keine Tränen, verweigert angepasstes Verhalten. „In der Hitze eines Sommers“ ist weniger die Geschichte eines Kriminalfalls, vielmehr eine Erzählung über den Druck gesellschaftlicher Konventionen, dem außergewöhnliche Frauen ausgesetzt sind. Bis hin zu ihrer Anhörung im Gefängnis:

„Stattdessen nimmt sie ein Papiertuch aus dem Spender, den sie zur ihr hinschieben, und drückt es an ihr tränennasses Gesicht. Sie presst es ganz fest auf den Mund, damit die Wahrheit nicht herauskommt.
Die anderen sehen und hören nur ihre Tränen, und sie nicken zufrieden, weil sie nun endlich ein gebrochener Mensch ist.“

Für einen gebrochenen Menschen, für eine Mutter, die beide Kinder verloren hat, kann es kein Happy End geben. Aber Emma Flint überrascht mit einer ungewöhnlichen Lösung, die an dieser Stelle nicht verraten werden soll. Und so endet das Buch für die Protagonistin nach ihrer Haftentlassung zumindest etwas versöhnlich, nicht ganz hoffnungslos und zeigt zudem, dass die Autorin auch ein Händchen für atmosphärische Dichte hat:

„Sie streckt den Rücken noch ein wenig mehr durch. Atmet den Geruch von Benzin und Juicy Fruit ein, von warmen Donuts, der von einem Stand an der Straße hereinweht, den wohltuenden, leicht süßen Geruch der Lederjacke des Fahrers. Die Straße vor ihnen steigt an, und der Wagen fährt hinauf in das unendliche Blau des Sommerhimmels.“

Informationen zum Buch:

Emma Flint
In der Hitze eines Sommers
Piper Verlag, 2020
Klappenbroschur, 416 Seiten, 16,99 €
EAN 978-3-492-06160-5

Weitere Besprechungen: Auch Petra Pluwatsch beim “Bücheratlas” mochte das Buch – https://buecheratlas.com/2020/08/31/eine-frau-wie-rusty-in-der-hitze-eines-sommers-ist-das-fabelhafte-krimidebut-von-emma-flint/

Olga Tokarczuk: Die Jakobsbücher

Überwiegend wurden „Die Jakobsbücher“ im Feuilleton als „Opus Magnum“ der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk gefeiert, als ein Roman, der vor allem in Polen – wo das Buch ja auch bei Nationalisten auf heftigen Widerstand und zu Bedrohungen der Autorin führte – zu einem neuen, anderen Blick auf die europäische und polnische Geschichtsschreibung führt. Mich ließ das jüngste Werk der Literaturnobelpreisträgerin jedoch etwas ratlos zurück.

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Bild: Michael Flötotto

Überwiegend wurden „Die Jakobsbücher“ im Feuilleton als „Opus Magnum“ der polnischen Schriftstellerin Olga Tokarczuk gefeiert, als ein Roman, der vor allem in Polen – wo das Buch ja auch bei Nationalisten auf heftigen Widerstand und zu Bedrohungen der Autorin führte – zu einem neuen, anderen Blick auf die europäische und polnische Geschichtsschreibung führt. Mich ließ das jüngste Werk der Literaturnobelpreisträgerin jedoch etwas ratlos zurück.

Zugegeben: Sprachlich und stilistisch (offenkundig auch eine Meisterleistung der Übersetzer Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein) ist dieses Mammutwerk faszinierend. Olga Tokarczuk führt einen auf den Spuren des Sektengründers Jakob Frank auf „eine große Reise über sieben Grenzen, durch fünf Sprachen und drei große Religionen, die kleinen nicht mitgerechnet“, wie es der opulente Untertitel des Romans besagt.

Barockspektakel aus Polen

Das „Barockspektakel“ (so Insa Wilke im WDR als eine der wenigen kritischen Stimmen) entfaltet an der Figur dieses Mannes ein Bild vom jüdischen Leben in Polen im 18. Jahrhundert, von der Verfolgung des Judentums zwischen willkürlichen Pogromen und den Versuchen zur Emanzipation oder auch Anpassung. So zeigen die Jakobsbücher auch die Wanderungsströme der Menschen durch Europa und den Orient nach – Frank selbst tritt beispielsweise zwischenzeitlich zum Islam über, bis er seine Anhängerschaft in das Christentum und nach Offenbach am Main führt (hier begegnet er übrigens auch Sophie von La Roche, eine der vielen Personen, die im Roman ihren Auftritt haben).

“Die Jakobsbücher” bewegt durch eine Recherche, die jüdische Geschichte als europäische Geschichte festschreibt – und es bestürzt durch die Einsicht, dass Wissen allein nicht klug macht“, urteilt Amelia Wischnewski im NDR. Dem kann ich zustimmen. Und dennoch ließ mich die zweiwöchige Lektüre unzufrieden zurück: Warum so viele Menschen auf den faulen Zauber eines Jakob Frank hereinfielen, welche Faszination der Mystizismus  vor allem auf die Ärmsten ausübte, die ihn als Ausweg aus ihrem irdischen Leid begreifen mussten, all dies geht in der Fülle des Romans unter und wäre doch das Kernmotiv.

Für den noch jungen Kampa Verlag, der seit einiger Zeit die Werke von Olga Tokarczuk in deutscher Sprache wieder auflegt beziehungsweise neu herausgibt, war die Verleihung des Literaturnobelpreises an die polnische Schriftstellerin ein Glücksfall. Für die Leserinnen und Leser ist es dies auch – aber ich würde zum Einstieg andere Bücher von ihr empfehlen, unter anderem „Unrast“, das mich vor Jahren wirklich begeisterte oder den von Veronika Eckl besprochenen “Gesang der Fledermäuse”.


Informationen zum Buch:

Olga Tokarczuk
Die Jakobsbücher
Kampa Verlag
Aus dem Polnischen von Lisa Palmes und Lothar Quinkenstein
1184 Seiten | Gebunden |42,00 Euro
ISBN 978 3 311 10014 0 | Auch als E-Book

Nathan Hill: Geister

Ein Pageturner mit einigen kleineren Mängeln: Manchmal driftet dieser Debütroman zu sehr in die Detailverliebtheit ab.

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Bild: Florian Pittroff, https://flo-job.de/

Ein Gastbeitrag von Florian Pittroff

„Ein beeindruckendes Debüt“, „Starke und gewichtige Literatur in allerlei Hinsicht“. Alle schwärmen von diesem Buch. Ich kann mich an diesen ganzen Lobeshymnen nicht unbedingt beteiligen. Ich finde das Buch „Geister“ von Nathan Hill an vielen Stellen zu ausführlich, langweilig und ausschweifend. Bis man im Thema drin ist, braucht man schon viel Geduld und Durchhaltevermögen. Die Lesezeit geht ins Unendliche!

Manchmal war ich nahe dran, das Buch einfach weg zu legen, denn der Autor kommt nur sehr langsam und langatmig auf den Punkt. Das kann bei 864 Seiten durchaus anstrengend sein. An manchen Stellen hatte ich dennoch richtig Freude an dem Werk. Denn die sprachliche Ausdruckskraft ist – ab und an – durchaus überzeugend:

„Damals hatte womöglich nur ein Fluss die beiden Kontinente getrennt, und die Schildkröten legten ihre Eier in den Sand am gegenüberliegenden Ufer. Doch dann begannen die Landmassen auseinanderzutreiben, und der Fluss weitete sich jedes Jahr um zwei, drei Zentimeter, was für die Schildkröten nicht zu erkennen war. Also schwammen sie weiter zum anderen Ufer, jede Generation hatte ein winziges Stück mehr zurückzulegen, und nach Millionen von Jahren war aus dem Fluss ein Ozean geworden, ohne dass die Schildkröten es je bemerkt hätten. Das, dachte Samuel, war die Art, wie seine Mutter sie verlassen hatte. So war sie weggegangen, unmerklich, langsam, Stück für Stück. Sie reduzierte ihre Existenz, bis sie nur noch sich selbst entfernen musste.“

Inhalt in kurzen Zügen

Ein Anruf der Anwaltskanzlei Rogers & Rogers verändert schlagartig das Leben des Protagonisten und Literaturprofessors Samuel Anderson. Nach einem Angriff auf einen republikanischen Präsidentschaftskandidaten verlangt man von ihm, die Integrität einer Frau zu bezeugen – seiner Mutter. Zuerst unvorstellbar für den jungen Mann, denn seit zwanzig Jahren besteht kein Kontakt mehr. Faye Anderson hatte ihren Sohn von heute auf morgen verlassen, als er elf Jahre alt war. Doch Samuel will auch endlich begreifen, was damals wirklich geschehen ist.

Auch ein opulenter Familienroman

Und so erzählt Hill die Geschichten von der Beziehung zwischen Samuel und seinem Freund Bishop, die seiner Liebe zu dessen Zwillingsschwester Bethany. Die Lebensgeschichte der Mutter, die Herkunftsgeschichte des Vaters, die Geschichte einer Studentin, die Samuel den Lehrstuhl an der Universität kostet, die des Lebens des Polizisten und späteren Richters Charlie Brown und viele andere.

Puh! Und so verliert man dann doch ab und zu den Überblick über das große Ganze. Ich habe mich an manchen Stellen durch das Buch gequält und durchaus – ich gebe es zu – auch ein paar Seiten überblättert. So richtig fesseln mag einen das Buch leider nicht.

Informationen zum Buch:

Nathan Hill
Geister
Übersetzt von: Katrin Behringer, Werner Löcher-Lawrence
Piper Verlag, 2017
ISBN: 978-3-492-31198-4

Über den Gastautor:

Florian Pittroff ist Magister der Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte und arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Journalist und Texter. Seine Buchbesprechungen waren unter anderem zu lesen im Kulturmagazin „a3kultur“ und im deutschsprachigen Männermagazin „Penthouse“.  Er verfasste Kulturbeiträge für das Programm des „Parktheater Augsburg“, war unter anderem verantwortlich für die Medien- & Öffentlichkeitsarbeit des kulturellen Rahmenprogramms „City Of Peace“ (2011) und die deutschsprachigen Slam-Meisterschaften (2015) in Augsburg. Florian Pittroff erhielt 1999 den Hörfunkpreis der Bayrischen Landeszentrale für neue Medien für den besten Beitrag in der Sparte Kultur.

www.flo-job.de

Annette Pehnt: Lexikon der Angst

Den großen wie den kleinen Ängsten widmet sich die Autorin in ihrem „Lexikon der Angst“. Schreibend hält sie die Ängste fern, verscheucht die bösen Engel.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Mit dem Engel hat er schon Erfahrungen gemacht, als er noch ein Kind war. Er spielte so vor sich hin, gerade mal vier oder fünf, mit dem Krempel, den seine Eltern ihm gekauft hatten, da erschien ihm ein Engel, der kein Blatt vor den Mund nahm.
Du bist, sagte der Engel mit einer erstaunlich hohen Stimme, die kaum zu seiner stattlichen äußeren Erscheinung passte, seinen wie Kupfer gegossenen Flügeln und seinen leuchtenden bodenlangen Gewand, du bist aufgerufen. (…).
Ich will, dass du von nun an den Frieden des Herrn bringst, befahl der Engel, ein Friedensstifter sollst du sein. (…).

Du wirst ja nicht mal wütend, schimpfte die Freundin, hast du gar kein Feuer in dir. Kampfgeist, schon mal gehört.
Ich kann nichts dafür, sagte er schwach, das war der Engel, aber da hörte sie schon nicht mehr zu, vier Tage später war sie ausgezogen, und beruflich ging es auch nicht bergauf, man stellte ihm im Jobcenter für die Langzeitarbeitslosen ein, die er geduldig und erfolglos betreute. So lernte er, die Engel zu fürchten.“

„Lexikon der Angst“, Annette Pehnt


Jeder kennt sie, diese kleinen, diffusen Ängste – das Bügeleisen, das unausgeschaltet in der verlassenen Wohnung vor sich hin schmort, das Unbehagen bei einer Autobahnfahrt, das Gefühl im Magen, kurz bevor das Flugzeug abhebt. Und es gibt die großen Lebensängste: Um das eigene Kind, vor dem Tod des Partners, vor den Erscheinungen des Älterwerdens, Existenzangst.

„Angst gehört zum Menschen“, weiß auch die 1967 geborene Schriftstellerin Annette Pehnt. Doch bei manchen wird das ureigene, urmenschliche Gefühl zur Störung: „Angst essen Seele auf“. Etwa 14 Prozent der europäischen Bevölkerung leiden an einer behandlungsbedürften Angststörung, so eine Studie 2011.

Den großen wie den kleinen Ängsten widmet sich die Autorin in ihrem „Lexikon der Angst“. Ein Buchtitel, der auf den ersten Blick eher einem medizinischen Fachverlag zugeordnet scheint. Doch so, wie das Lexikalische ein Spiel bleibt, so spielerisch-virtuos geht Annette Pehnt auch mit der ganzen Skala von Angstgefühlen um, die uns Menschen umtreiben kann. Man könnte auch sagen: Schreibend hält sie die Ängste fern, verscheucht die bösen Engel.

Kleine Kurzgeschichten, große Ängste

Die Skala des Unbehagens, das sich (auch auf sprachlich) leisen Sohlen durch eines jeden Menschen Leben schleichen kann, reicht von „A“ wie „Aal“ – eine junge Frau, die Angst beim Milchtrinken empfindet, nur leise angedeutet wird ein Kindheitstrauma – von „Z“ wie „Zirpen“, das von der älteren, einsamen Frau erzählt, die vergeblich auf den Anruf ihres Sohnes wartet. Das Spiel mit der Lexikonordnung besteht also aus kleinen Kurzgeschichten, unter deren lexikalischen Angaben wie „Federschmuck“ oder „Morgenlicht“ sich Überraschendes verbirgt. Kalendergeschichten seien es auch, schrieb Ursula März in ihrer Rezension in der Zeit. Tatsächlich erinnert die klare, nüchterne Erzählweise von Annette Pehnt von ungefähr an einen anderen großen Kalendergeschichten-Erzähler: Bertolt Brecht. Dessen Geschichten von Herrn Keuner kreisen ebenso beiläufig um die „großen“ Fragen und die Alltagsthemen – hier steht Annette Pehnt in einer guten Tradition. Auf die Frage, warum sie, wie in ihren Vorgängerromanen, unter anderem „Mobbing“ und „Chronik der Nähe“, immer wieder „ungemütliche Themen“ aufgreife, antwortete sie:
„Gemütlich kann man es sich vor dem Fernseher machen. Literatur ist etwas anderes. Sie erzählt von den Rissen in unserer glänzenden Oberfläche.“

Angst – ein kraftvolles Gefühl

Angst sei, so sagt sie weiterhin, ein „kraftvolles Gefühl“, aus dem man erzählerisches Material schöpfen kann. Und das ist ihr mit ihrem Lexikon durchaus gelungen: Erstaunlich die Bandbreite der Ängste, Phobien, Befürchtungen, des Unbehagens, die sie hier ganz sacht aufblättert. Und dafür trotzdem kein einziges Mal in die Horrorkiste oder Klischeeschublade greifen muss – weder die cineastisch umgesetzten Ängste vor Serienmördern, Aliens und Weltuntergang sind in diesem Lexikon zu finden, noch Klaustro-, Agora- und Coulrophobie. Vielmehr handelt es sich um jene Befürchtungen, die jeden von uns treffen könnten. Ursula März in der Zeit:

„Annette Pehnt, die sich mit einer Reihe von Romanen wie Mobbing und zuletzt Chronik der Nähe aus dem Jahr 2012 als luzide Beobachterin der deutschen Gegenwartsgesellschaft und empfindsame Phänomenologin des alltagsnahen Geschehens erwies – darin dem Schriftsteller Wilhelm Genazino von fern verwandt –, begibt sich in ihrem neuen Buch auf die Spuren jener schönen, im frühen 19. Jahrhundert kultivierten, minimalistischen Prosaformen, die vom Romanehrgeiz der derzeitigen Belletristik fast verdrängt wurden: die Kurznovelle und die Kalendergeschichte. “

Die schönste aller dieses Geschichten ist für mich jedoch jene, die vom Zustand „vor der Angst“ erzählt: „Nichts“.

„Sie ist fünf, im besten Alter, das es gibt. Sie ist wendig, schlank wie ein Strohhalm und immer warm. Wenn sie etwas lustig findet, einen selbsterdachten Witz, den niemand sonst versteht, lacht sie hemmungslos. Ihre Augen sind klar, sie schaut jeden direkt an und zwinkert selten. Wenn man ihr ein Buch vorliest, legt sie dem Vorleser eine warme Hand auf das Bein, ohne es zu merken. Sie kann im Handumdrehen wütend werden, ein schäumender Zorn packt sie dann, und sie brüllt aus Leibeskräften, bis ihr die Haare verschwitzt in die Augen hängen, sie fegt Bücher vom Tisch oder ein volles Saftglas.“

„Sie hat vor nichts Angst, außer davor, nicht mehr fünf zu sein.“

Schön wäre es manchmal schon, man wäre noch fünf oder siebzehn und frei von den Lebenserfahrungen, die auch Angst machen können. Sie sind subsummiert unter dem letzten Lexikoneintrag „Zittern“, der auch in der erzählerischen Form eine Ausnahme bildet:

Zittern
Hungrig sein im eigenen Hause.
Stinken, ohne davon zu wissen.
Nicht mehr aufhören können zu lachen.
Das eigene Kind nicht lieben.
Sich an den Rändern auflösen.
Nichts mehr hören können.
Nichts mehr schmecken können.
Nicht mehr gehen können.
Nicht mehr singen können.
Zu viel sehen müssen.
Jemanden lieben und es niemals sagen können.
Verspeist werden.
Keinen Tanzpartner finden.
Auch beim nächsten Mal keinen Tanzpartner finden.
Ein weiches Tier zertreten.
Soldat werden müssen.
Ein Tier schlachten.
Mitten auf dem See die Ruder verlieren.
Den eigenen Bruder mit dem falschen Namen begrüßen.
Den Hund in der Tür zerquetschen.
Schweigend beim Essen sitzen.
Streitend beim Essen sitzen.
Gar nicht beim Essen sitzen.
Im Restaurant deutlich hörbar furzen müssen.
Einen Körperteil abgetrennt bekommen.
Sich beim Verwelken zusehen.
Dem eigenen Kind beim Verwelken zusehen.
Schokolade essen und Braten schmecken, Braten essen und Schokolade schmecken.
Am hellichten Tag die Augen öffnen und nichts sehen.
Zittern, einfach so.


Bibliographische Angaben:

Annette Pehnt
Lexikon der Angst
Piper Verlag,2104
EAN 978-3-492-30642-3

Zur Homepage der Autorin: http://www.annette-pehnt.de/

Ferdinand von Schirach: Terror

Ferdinand von Schirachs „Terror“ ist von bedrückender Aktualität. Der Text stellt die Frage nach Sicherheit versus Freiheit, der Leser wird zum Geschworenen.

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Bild: Florian Pittroff, https://flo-job.de/

Ein Beitrag von Florian Pittroff

Ferdinand von Schirachs „Terror“ ist ein Buch von bedrückender Aktualität. Plötzlich hat man Paris wieder vor Augen. Der Text stellt die Frage, wie wir künftig leben wollen. Muss man sich in Zeiten wie diesen für die Freiheit oder für die Sicherheit entscheiden? Ist die Würde des Menschen trotz Terror unantastbar oder doch antastbar? Schirach macht die Leser zu Geschworenen.

Entführtes Passagierflugzeug als Waffe

Der Plot: Auf dem Flug von Berlin nach München bringt ein Terrorist eine Lufthansa-Maschine in seine Gewalt und will sie über der Allianz-Arena bei München abstürzen lassen. Und zwar während eines Länderspiels. Die Arena ist mit 70.000 Menschen restlos ausverkauft. Zwei Kampfjets der Luftwaffe versuchen, das Flugzeug zur Landung zu zwingen – ohne Erfolg. Sie eskortieren die Maschine und kurz vor dem Stadion beschließt einer der beiden Eurofighter-Piloten, den Airbus abzuschießen. Die 164 Insassen werden alle getötet – die 70.000 im Stadion werden jedoch durch den Abschuss alle überleben.

Aufgearbeitet wird die ganze Geschichte in einer Gerichtsshow. Das Spannende daran ist, dass der Leser als mündiger Bürger quasi im Saal dabei ist, in Entscheidungsprozesse eingebunden wird und Entwicklungen mitbekommt, in einem Moment noch den Verteidiger, im anderen Augenblick aber auch die Staatsanwältin versteht, sich in den Gewissenskonflikt  des Piloten einfühlen kann – oder eben nicht. Jeder kann für sich entscheiden.

Rede zum Attentat auf Hebdo

Die Aufgabe des Lesers wird durch die Plädoyers des Verteidigers und der Staatsanwältin nicht leichter. Oft hat man Aha-Erlebnisse, ist sich plötzlich ganz sicher: „Ja so ist das – man kann niemals ein Leben gegen ein anderes aufrechnen“. Und nur einen kurzen Moment später denkt man: „Doch das kann man nicht nur, das muss man sogar“. Der Zwiespalt wächst, die Unsicherheit wird größer, der Gewissenskonflikt hat einen fest im Griff: Wie wiegt man Menschenleben gegeneinander auf? Ferdinand von Schirach hält uns mit seinem Buch genau diese Frage vor Augen.

Ein tiefgründiges Buch, in dem Nüchternheit groß geschrieben wird. Für Emotion und Gefühl ist der Leser zuständig. Schirachs Rede auf Charlie Hebdo ist ebenfalls in diesem Band enthalten. Alles unbedingt lesenswert!

In der dramatischen Fassung geht “Terror” bereits um die Welt, das Theaterstück war und ist an zahlreichen Bühnen im In- und Ausland zu sehen. Und die Zuschauer werden jeweils direkt vor die Gewissensfrage gestellt: Was ist Schuld?


Informationen zum Buch:

Ferdinand von Schirach
Terror
btb Verlag, 2106
ISBN: 978-3-442-71496-4


Über den Gastautor:

Florian Pittroff ist Magister der Literaturwissenschaften und Kunstgeschichte und arbeitet seit mehr als 25 Jahren als Journalist und Texter. Seine Buchbesprechungen waren unter anderem zu lesen im Kulturmagazin „a3kultur“ und im deutschsprachigen Männermagazin „Penthouse“.  Er verfasste Kulturbeiträge für das Programm des „Parktheater Augsburg“, war unter anderem verantwortlich für die Medien- & Öffentlichkeitsarbeit des kulturellen Rahmenprogramms „City Of Peace“ (2011) und die deutschsprachigen Slam-Meisterschaften (2015) in Augsburg. Florian Pittroff erhielt 1999 den Hörfunkpreis der Bayrischen Landeszentrale für neue Medien für den besten Beitrag in der Sparte Kultur.

Homepage: www.flo-job.de