Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts

„Die Insel des zweiten Gesichts“ von Albert Vigoleis Thelen: Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, welches Buch ich auf einen Inselaufenthalt mitnehmen dürfte, dann wäre es ohne Zweifel dieses.

„Wenn ein Deutscher sich an einer historischen Stätte niederläßt, schöpft er tief Atem, krempelt die Hemdärmel hoch, falls er nicht schon hemdärmelig die Stätte betreten hat, zückt seine Bleifeder und schreibt eine Ansichtskarte. Das ist schon so, seit es auf der Welt Deutsche und Ansichtskarten gibt, zwei Schöpfungen, die sich ergänzen.“

Albert Vigoleis Thelen, „Die Insel des zweiten Gesichts“


Mal abgesehen davon, dass es heute eher Selfies und Whatsapp-Fotos sind, die verschickt werden: Manche Dinge ändern sich nie. Und so pilgern wie in den 1930er-Jahren, als sich der in Süchteln am Niederrhein geborene Schriftsteller Albert Thelen (den Vigoleis eignet er sich als Pseudonym und Alter Ego im Laufe seines abenteuerlichen Lebens später an, in Anlehnung an das mittelalterliche Versepos Wigalois des Wirnt von Grafenberg) auf Mallorca zeitweise auch als Reiseführer durchschlug, auch heute noch Scharen von Touristen nach Valldemossa, um dort ihr Mallorca-Bildungsprogramm zu absolvieren.

Ein Mallorca-Roman sondersgleichen

Die Besichtigung der Klause, wo George Sand mit Frédéric Chopin einen Winter lang fröstelte und das unverheiratete Paar unter der Ablehnung der erzkatholischen Mallorquiner litt, gehört zum literarischen Bildungsprogramm eines Aufenthalts auf der Balearen-Insel. Wenn auch die wenigsten von ihnen „Un Hiver à Majorque“ gelesen haben dürften. Und unter uns: Es lohnt das Lesen nicht. Sowieso nicht im Vergleich zur Insel des zweiten Gesichts, dem eigentlichen Mallorca-Buch, „das größte Buch dieses Jahrhunderts“, wie Maarten ‘t Hart, ein Thelen-Aficionado, bekannte. Wer des Holländischen mächtig ist, lausche und schaue hier.

In Gefahr, ob der Begeisterung über diesen barocken Brocken von Buch in den „Kaktusstil“ seines Verfassers zu verfallen (dazu später noch eine Anmerkung), zurück zum Vergleich George Sand und Albert „Don Vigo“ Thelen: Es ist jedenfalls eine schreiende Ungerechtigkeit der Literatur, dass die kalte Kartause in jedem Reiseführer zu finden ist, aber kaum einer an die Calle del General Barceló No. 23 erinnert. Oder gar an den „Turm der Uhr“, ein Horst für eine kriminelle Schmugglerbande und Bordell zugleich – gut, diesen zu verorten, dürfte auch schwierig sein, schrieb Thelen doch später selbst darüber: „der Witz ist nur der, daß ich selbst tarnend hatte schreiben müssen, und ich verschleierte die katasteramtliche Örtlichkeit, denn schließlich deckte ich Dinge auf, mit denen sich Behörden auch nach Jahren noch beschäftigen können…. So griff ich zum Schleier der Maja in einem Buch, das von der Wahrheit lebt und worin alles der Wirklichkeit nachgebildet ist…” (AV Thelen: Brief an die Redaktion, MERIAN Mallorca, Heft 3 März 1960).
Quelle: http://www.vigoleis.de/content/insel/0/67.htm

In der Altstadt von Palma. Bild von seth0s auf Pixabay

Doch hier kommen Don Vigo und seine Herzensdame Beatrice zeitweilig unter, als sie völlig abgebrannt und ohne einen Peso sind, freilich ohne sich an den Machenschaften im Turm zu beteiligen. Als sie sich mit Gelegenheitsarbeiten – sie als Sprachlehrerin, er als Reiseführer und Sekretär für andere prominente Mallorca-Exilanten, darunter Harry Graf Kessler und Hermann Graf Keyserling – etwas besser durchschlagen, wenn auch nach wie vor kaum für täglich Brot, geschweige denn einen zweiten Tisch oder Stuhl sorgen können, folgt der Umzug in die Straße des Generals. Doch zurück zum Anfang: Wie gelangen Albert Vigoleis und Beatrice (die über dies ungleich länger als George und Frédéric miteinander verbunden blieben, nämlich bis zum Rest ihres langen Lebens) überhaupt auf diese Insel?

1931 kommt das Paar auf die spanische Insel

Das Buch in nüchternen Worten beschrieben: 1931 erreicht Beatrice, die ihren Albert Vigoleis in Köln kennengelernt hatte, ein Telegramm ihres Bruders. „Liege im Sterben, Zwingli“, schreibt der Luftikus, der als Hotelmanager auf Mallorca tätig ist. Das damals noch unverheiratete Paar eilt stante pede zur Hilfe – um den Bruder zwar etwas mitgenommen, aber durchaus leibhaftig anzutreffen. Seine lebensbedrohliche Erkrankung ist die Liebe zur Hure Pilar, die ihn nicht nur nach Strich und Faden ausnimmt, sondern regelmäßig auch mit fliegendem Geschirr, Mobiliar und einem Messer bedroht.

Zwar gelingt es Beatrice, den Bruder aus den Klauen Pilars zu befreien und alle Schulden zu begleichen, aber der Preis ist heiß und hoch: Danach sitzen Beatrice und ihr Don Vigo auf dem Trockenen, nicht einmal mehr Geld zur Rückreise bleibt. Aus dem geplanten Besuch wird ein Daueraufenthalt, der bis 1936 währt.

Auf der Flucht vor den Faschisten

Auch deshalb, weil die Machtergreifung der Nationalsozialisten alles in der ehemaligen Heimat verändert: Albert Vigoleis Thelen macht aus seiner Abscheu keinen Hehl, bricht mit seiner katholischen Familie am Niederrhein, die sich bereitwillig anschließen lässt und mit seinen Wurzeln. Als der Spanische Bürgerkrieg beginnt, muss sich das Paar unter abenteuerlichen Umständen dem Zugriff der Faschisten entziehen, ihre Flucht führt sie durch halb Europa bis nach Portugal, wo Thelen als Gutsverwalter und Übersetzer des von ihm hoch geschätzten Mystikers und Dichters Texeira de Pascoaes überlebt.

„Die Insel des zweiten Gesichts“ umspannt diesen Mallorca-Aufenthalt, endet, finis operis, 1936:
„Die Natur sorgte für einen letzten Effekt, der bei allem Gleisen doch nicht zu theatralisch genommen sein will. Wieder heulten die Sirenen auf, und im selben Augenblick schloß sich die Wolke. Wer hatte sie fallen sehen? Ein weißlicher Schein umhüllte uns, starr war die Planke, lautlos die Welt. Unsichtbar über uns blaute der glühende Meertag, und unten wallte die Nacht, die das Ziel verhüllt.
Das Ziel hieß: Freiheit.“

Die Kurzzusammenfassung erfasst nicht einmal annähernd, was dieses fast 1000-seitige Werk an Leben und Literatur in sich birgt. „Thelen brennt ein Sprachfeuerwerk ab, das in der Literaturgeschichte seinesgleichen sucht. Mit Hilfe eines Wortschatzes, der der umfangreichste in der gesamten deutschen Literatur sein dürfte“, schreibt der Thelen-Kenner und Germanist Jürgen Pütz. Inzwischen dürfte es mehr literatur- und sprachwissenschaftliche Arbeiten über die Verwendung neuer Wortschöpfungen, Wiederbelebung altdeutscher Worte und dem artistischen Umgang damit bei Thelen geben, als aktive Leser seines Werks. Was jammerschade wäre. Jürgen Pütz nennt in seinem Nachwort zur Ausgabe im Claasen Verlag einige Beispiele:

„Alleine für Zwinglis Freundin Pilar hält Thelen zahlreiche Synonyme bereit: Schlunte, Zaupe, Zauche, Lunze, Schindkracke, Bettunzel, Schöke, Hehre, Strunze.“

Wer so mit Wörtern umzugehen vermag, der braucht Raum. Doch nicht nur dieses führt dazu, dass „Die Insel des zweiten Gesichts“ zum ausufernden Leseerlebnis wird, von dem man sich wünscht, es möge nicht so schnell enden (was es in der Tat auch nicht tut – es ist eines dieser Bücher, die man immer wieder lesen kann und dabei immer wieder Neues entdecken wird). Es ist auch dieser mäandernde, digressive Erzählstil, den Thelen pflegt, der zum Volumen beiträgt. Immer wieder schießt er bei seinen Anekdoten vom Inselleben vor und zurück, führt uns in die Welt seiner niederrheinischen Familie oder auf das portugiesische Gut, integriert kunstvoll Abschweifungen und Ablenkungen von der eigentlichen Inselerzählung. Thelen selbst nennt das „Kaktusstil“:

„(…) es bilden sich Ableger, ins Wilde hinein, wie beim Kaktus, der gerade da Augen setzt, wo man sie nicht erwartet.“

Es braucht fast zwanzig Jahre, bis Albert Vigoleis Thelen, der bis dahin nur einen Gedichtband veröffentlichen konnte, die Mallorquiner Ereignisse in diese Mischung aus Autobiographie und romanhafter Erzählung goss. Ein Beispiel autofiktionaler Literatur, die heute wieder so en vogue ist – doch an Thelen reicht keiner heran, so funkensprühend, lebensprall, ausufernd, exorbitant ist dieses Buch.

Ein Solitär der deutschen Literatur

Ein Solitär, aber leider auch ein „One-Hit-Wonder“: Wiewohl die 1953 zugleich in den Niederlanden und Deutschland erschienene „Insel“ ein Jahr später mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde, obgleich Thomas Mann, Paul Celan und Siegfried Lenz das Buch über die Maßen lobten, der große Erfolg blieb Thelen versagt. Mit ausschlaggebend dafür war, dass das Buch nicht in den Zeitgeist der Nachkriegs-Autoren passte, wie auch Agnes Steinbauer in einem Beitrag für den Deutschlandfunk hervorhob:

„Sein ausladend-verästelter Erzählstil, den er selbstironisch Kaktusstil nannte, passte nicht ins literarische Profil der frühen Nachkriegsjahre. Bei einer Lesung 1954 in Bebenhausen kam es zu einem Eklat, den Thelen nie verwand. Noch Jahrzehnte später erinnerte er sich: „Ich wurde von Hans Werner Richter sehr unfreundlich empfangen, ja ich darf es wohl sagen und ich muss es ja auch schließlich sagen, denn es entspricht der Tatsache und der Wahrheit: es war ungezogen.“ Richter – Vorsitzender der Gruppe 47 – hatte sich mit sarkastischen Bemerkungen über Thelens altertümelndes „Emigrantendeutsch“ mokiert.“

Oder, wie Jürgen Pütz es formuliert: „Regentropfen hätten sie toleriert, aber es kam ein Wolkenbruch.“

Diesem Wolkenbruch sind einige der schönsten, komischsten, tragischkomischen und gescheiterten Figuren zu verdanken, die man sich in der deutschsprachigen Literatur erlesen kann: Angefangen vom Autor selbst, der in mir das Bild eines melancholischen und zugleich witzigen Pierrots hervorruft, der vor Fantasie und Sehnsucht sprüht. Saludos a Don Vigo! Aber daneben auch die Beatrice mit ihren Inka-Wurzeln, der frustrierte ehemalige Kampfflieger Martenstein, der an einem Roman schreibt, in dem er eine Affenarmee aufmarschieren lässt, die anarchistischen Uruguayer, die regelmäßig mit ihren selbstgebastelten Bomben scheitern, die angebliche amerikanische Backpulver-Millionärin, von der sich Don Vigo adoptieren lassen will und der pornosüchtige jüdische Exilant Silberstein, um nur einige zu nennen: Was für ein köstliches Welttheater sich da entfaltet!

„Die Insel des zweiten Gesichts“: Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, welches Buch ich auf einen Inselaufenthalt mitnehmen dürfte, dann wäre es ohne Zweifel dieses.


Bibliographische Angaben:

Albert Vigoleis Thelen
Die Insel des zweiten Gesichts
List Verlag, 2005
ISBN: 978-3548605142

Ein Gastbeitrag von Theo Breuer zu “Was wir scheinen” von Hildegard E. Keller und seiner Literatour 2022

Der Schriftsteller Theo Breuer ging 2022 auf eine umfassende Literatour, die zunächst in der Literaturzeitschrift Matrix veröffentlicht wurde. Wie er selbst zu den 88 Büchern sagt, die darin besprochen werden, galt das Hauptaugenmerk dabei der Sprache: »Ohne den Schall der Sprache geht gar nichts«.

Seit einiger Zeit freue ich mich über einen regelmäßigen Austausch mit dem Schriftsteller Theo Breuer, der im Zuge meiner Pressearbeit für Literaturverlage entstand. Schon früh in diesem Jahr informierte mich Theo Breuer über sein Vorhaben, sein erstaunliches jährliches Lesepensum als Essayzyklus 2022 in der Literaturzeitschrift Matrix zu veröffentlichen und gab mir, mit der Bitte um Einschätzung, die Texte zu lesen. Auch hier nochmals vielen Dank für dieses wunderbare Vertrauen und dass ich diese Literatour begleiten durfte. Ich war von der Idee, die Lektüren mit dem eigenen Alltag zu verknüpfen und dadurch ein Lesetagebuch zu erschaffen, begeistert, ebenso wie von der poetischen Sprache, die den Lyriker durchklingen lässt.
Im Dialog entstand die Idee, diesem Zyklus nach der Veröffentlichung in Matrix noch ein weiteres Forum zu geben. Neben einem Newsletter, den Theo Breuer nun in der Adventszeit verschickt, stellte er mir seinen Text zum Download auf meinem Blog zur Verfügung. Sein Wunsch war es, seine Gedanken zu “Was wir scheinen” von Hildegard E. Keller als Beispiel zu veröffentlichen, die gesamte Lesereise findet sich zum Download hier:


Ein Gastbeitrag von Theo Breuer

Ich betrachte das Buch Was wir scheinen, blicke der Frau in die Augen, lese Titel, Untertitel : Hannah Arendt ∙ Poetische Denkerin, mache mir Gedanken über die Wörter ›lyrisch‹ / ›poetisch‹, ›Lyrik‹ / ›Poesie‹, auch im Zusammenhang mit essayistischem Schreiben, das mich, zum Beispiel, das Mäandern gelehrt hat, das auch für Harald Gröhler längst schon selbstverständlich ist beim Verfassen literarischer Texte : Sie mäandern manchmal und steuern dann nicht schnurstracks auf ein Ende zu, sondern sie nehmen manches mit auf. Vorläufig versteh ich die Wörter gewiß keinesfalls als unmittelbare Synonyme. Sinnverwandt mögen sie sein, aber Vorsicht, lieber noch ein bißchen weitergrübeln. Warum denk ich da jetzt dran? Deshalb: Ich frage mich, ob lyrisch denken, poetisch sinnieren etwa eine Art Sinnestäuschung, Chimäre, Trugbild sei, gar eine Flucht aus Raum, aus Zeit, hinein in Traum – und weit, oder sind das Lyrische, das Poetische wirklicher als die Wirklichkeit, die das lyrische Luftbild, die poetische Phantasie gleichsam zurückholen ins ›reale‹, ›tatsächliche‹ Tagesgeschehen – und somit das Sehen verändern, die menschlichen Beziehungen, das Verhältnis zur Welt. Ob Gedicht oder Roman : Wo diese Fragen nicht mitschwingen im komplexen Geflecht der Wörter – handelt es sich da möglicherweise nicht um literarische Texte im engeren Sinne? Poems, including stories and songs, are more capable of forming, formulating, expressing and communicating care, carefulness, and caringness, and doing so more honestly, truthfully, intensely, fully and profoundly, than any other linguistic expression. (Richard Berengarten) Unmittelbar nach diesem Gedankenschub les ich in Harald Gröhlers Erzählung Eine Selbstmörderin : Dank Goethe ist die Ilm hier nicht begradigt. Das macht mir den Herrn von Goethe schon sehr real. Na also. Also was? Was wir scheinen. Auf dieses Buch hab ich, ohne es zu ahnen, seit Jahren gewartet. Vielleicht schon, seit ich Arendts Vita activa oder Vom tätigen Leben las *, spätestens jedoch, seit ich den Film Hannah Arendt mit Barbara Sukova sah. Was ich nicht wußte : Hannah Arendt, die mir die Banalität des Bösen begreifbar machte, schrieb auch Gedichte. Alles, wirklich alles dreht sich um Sprache, les ich auf Seite 17. Ein Satz, sieben Wörter, und die poetische Existenz dieser Frau scheint auf : zielklar, sichtbar, wahr. Hildegard E. Keller gelingt mit dem romanesken Sprachkunstwerk Was wir scheinen die kongeniale Nachempfindung von Wesen, Wirken und Wollen der worttollen Hannah Arendt. Eine poetische Liebesgabe. Lesen!


* Die drei Grundtätigkeiten Arbeit, Herstellen, Handeln sind nun nochmals in der allgemeinsten Bedingtheit menschlichen Lebens verankert, daß es nämlich durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihm wieder verschwindet. Was die Mortalität anlangt, so sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung; das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte.

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Hannah Arendt · Poetische Denkerin. Roman. 574 Seiten. Broschur. Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln 2022.


Theo Breuer, Jahrgang 1956, schreibt in erster Linie Gedichte und Essays. Seit 1988 veröffentlicht er Ge­dichtbücher (auch visueller Art) sowie essayistische Monographien zur zeitgenössischen Literatur. Breuers Bücher erscheinen seit 2012 im Pop Verlag: Das gewonnene Alphabet (2012); Zischender Zustand ∙ Mayröcker Time (2017); Scherben saufen (2019); Winterbienen im Urftland Empfundene/erfundene Welten in Norbert Scheuers Gedichten und Geschichten (2019), nicht weniger nicht mehr (2021) sowie Vorschlag zur Blüte (2023). Im siebenteiligen Essayzyklus L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22«, in dem rund 88 – fast ausschließlich 2022 erschienene – Bücher vorstellt werden, hat Theo Breuer es in erster Linie auf die Sprache abgesehen, die er in den jeweiligen Büchern vorfindet: »Ohne den Schall der Sprache geht gar nichts«, heißt es bereits im Vorwort.


MANFRED WINKLER: Noch hör ich deine Schritte

In “Noch hör ich deine Schritte” wird erstmals die deutsch- und hebräischsprachige Lyrik von Manfred Winkler in einem Band zusammengefasst. Das Buch erscheint zum Geburtstag des Dichters vor 100 Jahren.


In den tiefen Mulden der Zeit
verflackert einer einmaligen
Kerze Licht.
Es ist schon spät
über Mitternacht hinaus,
viel zu spät zum Briefeschreiben
an dich –
den Farben der Erinnerung
und der Poesie
nur ein Gedanke kommt vielleicht
der aufflackert im Traum
und vergessen wird

“In den tiefen Mulden der Zeit” von Manfred Winkler in: “Noch hör ich deine Schritte”, deutsch- und hebräischsprachige Gedichte, Edition Faust, Oktober 2022, herausgegeben und ausgewählt von Monica Tempian und Jan Kühne


Er wurde vor 100 Jahren in einer Kulturlandschaft geboren, deren Blüte einzigartig ist: Manfred Winkler kam 1922 in der Bukowina zur Welt, dort, wo auch Paul Celan und Rose Ausländer geboren sind. “Als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Rechtsanwaltes erfuhr er die für begabte Landeskinder typische Ausbildung: Mit vierzehn kam er in die Hauptstadt Czernowitz/Cernăuţi, wo er zusammen mit Ukrainern, Polen, Rumänen, Ungarn, Juden und Deutschen aufs Gymnasium ging.

Eine der historisch bewegtesten Landschaften Mittelosteuropas, die von 1775 bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehörte und 1919 durch den Vertrag von Saint-Germain dem Königreich Rumänien zugeteilt wurde, bewahrte die Bukowina zur Zeit von Winklers Schulausbildung noch den Ruf einer multiethnischen Provinz mit einer besonders intensiven Produktivität des schöpferischen Lebens”, schreibt Monica Tempian im Vorwort zu dem Jubiläumsband “Noch hör ich deine Schritte”, der zum 100. Geburtstag des Dichters, Übersetzers und bildenden Künstlers bei der Edition Faust herauskommt.

Erstmals wird dabei die deutsch- und hebräischsprachige Lyrik in einem Band zusammengefasst, ergänzt durch eine Auswahl unveröffentlichter Gedichte aus dem Nachlass. Eine über Länder und Zeiten hinweg Sehnsucht weckende Stimme erklingt in der Lyrik Manfred Winklers, erregt Neugier, wirbt um Verständnis. Winklers Verse schöpfen sowohl aus seiner reichen verinnerlichten Lebenserfahrung als auch aus dem Arsenal zahlreicher Kulturen und Literaturen. Erinnerung und Abwehr des Vergessens, Krieg und politische Wirren, Ortswechsel und das unruhige Suchen nach Orientierung, Nähe und Gemeinsamkeit, menschliche Endlichkeit und immer wieder: die Grenze als kritische Größe des Lebens – das sind Themen, denen sich der Lyriker mit unerbittlicher Aufrichtigkeit stellt.

Wenige Jahre vor seinem Tod hatte er der Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Monica Tempian schriftlich sein plein pouvoir für die Veröffentlichung seines Werks gegeben. Die Herausgabe der deutsch- und hebräischsprachigen Gedichte Manfred Winklers (1922–2014) ist aus einer Zusammenarbeit Dr. Monica Tempians (Victoria University of Wellington) und Dr. Jan Kühnes (Hebrew University of Jerusalem) unter Mitwirkung von Rick Sahar (Victoria University of Wellington) hervorgegangen. Hans-Jürgen Schrader, Yvonne Livay und Hans Bergel (1925–2022) ist es hauptsächlich zu verdanken, dass Winklers Nachlass dem Archiv des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München (IKGS) anvertraut wurde, das den Jubiläumsband unterstützt.


Biographie von Manfred Winkler:

Manfred Winkler war Lyriker, Bildhauer, Maler und Übersetzer Paul Celans ins Hebräische. Am 27. Oktober 1922 in Putila nahe Czernowitz geboren, nach Shoa und Deportation im Zuge der rumänischen Repatriierung der Juden in Israel neu beheimatet, war Winkler bis 1981 als Leiter des „Theodor-Herzl-Archivs“ und Lektor der Herzl-Edition tätig. Danach wirkte er als freier Schriftsteller im Jerusalemer LYRIS-Dichterkreis. Für seine hebräische Lyrik wurde ihm 1999 der große Preis des Israelischen Ministerpräsidenten für Lyrik verliehen. Manfred Winkler starb am 12. Juli 2014 in Tsur Hadassah. Seine bleibende Bedeutung besteht in der Vermittlung zwischen europäischen und orientalischen Sprachen und Kulturen. Sein Werk steht exemplarisch für die Begegnung zwischen dem deutschen und hebräischen Sprachraum: Nebst dem mehrsprachig geprägten deutschen Idiom seiner multikulturellen Herkunftsregion Bukowina und der damit aufgerufenen Sphäre von humanistischer Gesinnung macht es auf beeindruckende Weise die kulturelle Sphäre der orientalischen Welt mit ihrer spezifischen Sprachfärbung vernehmbar.


Stimmen zum Buch:

“Ein seltener Schatz” – Stefan Seidel, Der Sonntag


Bibliographische Angaben:

Manfred Winkler
Noch hör ich deine Schritte
Deutsch- und hebräischsprachige Gedichte
Edition Faust, Oktober 2022
Herausgegeben und ausgewählt von Monica Tempian und Jan Kühne
Gebunden, 272 Seiten, 24,00 €
Mit Zeichnungen und Skizzen von Manfred Winkler
ISBN 978-3-949774-09-6


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag

Ina Hartwig: Wer war Ingeborg Bachmann?

Die “bruchstückhafte” Biographie der Literaturkritikerin Ina Hartwig wirft einen Blick auf die “dunkle” Seite der Bachmann – und lässt viele Fragen offen.

Bachmann_Hartwig
Bild: Birgit Böllinger

„Am Rande der Veranstaltung (Anmerkung: Gemeint ist eine Wahlkampfveranstaltung 1965 in Bayreuth) sind etliche Fotografien entstanden, darunter eine besonders schöne Frontalaufnahme, in der ein ganzes Soziotop sich auf dem Sofa drängelt. Und wen sieht man direkt zur Rechten Willy Brandts sitzen? Niemand anderes als eine über das ganze Gesicht strahlende, fein frisierte, mit Perlenkette umhängte Ingeborg Bachmann.
Alle Krisen wirken wie weggewischt. Sie sitzt, wieder einmal Königin, genau in der Mitte des Bildes – eine demokratische Königin.“

Ina Hartwig, „Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken“


Gleich von vorneweg: Nein, wer Ingeborg Bachmann war, beantwortet auch dieses Buch nicht. Als ob überhaupt eine schriftliche Biographie einen Menschen gänzlich erklären könnte, das sei einmal  dahin gestellt. Doch die österreichische Schriftstellerin beschäftigt über ihr Werk hinaus wie kaum eine andere deutschsprachige Autorin die literaturwissenschaftliche Nachwelt – da wird einerseits ihre hermetische Lyrik nach Lebensspuren untersucht, werden ihre Prosatexte in Zusammenhang mit ihren schmerzhaften Lieben – Paul Celan und Max Frisch – in Zusammenhang gebracht, da wird ihr Nachlass, insofern ihn die Erben der Öffentlichkeit freigegeben haben, penibel durchforscht.

Bruchstückhafte Biographie hinterlässt Fragen

Das Feld der Veröffentlichungen über Bachmann ist weit – es reicht von Erhellendem, das einem als Leser beispielsweise die Gedichte weiter erschließen kann (so das hier erst kürzlich besprochene Buch „Wir sagen uns Dunkles“) bis hin zu Büchern, die eher einen bruchstückhaften Eindruck und das Gefühl, am Ende überwiegt denn doch die Spekulation, hinterlassen. Zu letzterem gehört leider auch das Buch der Literaturkritikerin Ina Hartwig.

 „In Ina Hartwigs Bachmann-Biografie fehlt dieses plausibel aus dem Werk und aus zuverlässigen Quellen erarbeitete Neue. Denn Ingeborg Bachmanns «Fluchtweg nach Süden», die Jahre in Neapel, Ischia und später in Rom sind durch den Briefwechsel mit Hans Werner Henze (2004) bereits gut erschlossen. Auch zu Bachmanns unstetem Leben, ihrem Unglück mit Männern, ihren Abstürzen in wüste Mengen von Alkohol und Psychopharmaka – dazu hat Ina Hartwig keine neuen Fakten zu bieten, weil auch ihr der freie Zugang zum Nachlass nicht gänzlich gewährt wurde“, urteilt Franz Haas in seinem Artikel „Das große Buch Bachmann“ am 7. Januar 2018 in der NZZ.

Ein etwas voyeuristischer Blick auf die Bachmann

Mir bietet dieses Buch nicht nur wenig Erhellendes zu den Schattenseiten im Leben der „Diva“, sondern konzentriert sich viel zu sehr darauf – auch wenn Hartwig, die sich selbst im Buch als „biographische Detektiven“ bezeichnet, ab und an versucht, die „bodenständige“, pragmatische und lebenszugewandte Seite der Ingeborg Bachmann hervorzuheben. Doch sie bedient zugleich den voyeuristischen Blick auf eine zutiefst unglückliche, zerrissene Frau. Dass Ina Hartwig immer wieder darauf zurückgreift, wie sehr das Leben der Dichterin „mystifiziert“ wurde, wie viele ihrer Zeitgenossen über den Drogenkonsum Bachmanns hinwegsahen, erscheint mir dabei fast wie eine Selbstvergewisserung der Biographin, hier müsse man einen Vorhang heben – dabei waren die Abhängigkeiten Bachmanns längst bekannt, in der Deutung des Werks und des Lebens bringt das wenig weiter.

Richard Kämmerlings beurteilt das Buch in der „Welt“ positiver, weil „spannend“ für die Leser, als Franz Haas. Und stellt am Ende doch die Fragen:

„Der Eindruck einer pasolinihaften Seite Ingeborg Bachmanns lässt sich nicht ganz vertreiben“, schreibt Ina Hartwig einmal. Wirklich? Wessen Fantasien sind dies denn eigentlich? Wo sind wir nun da gelandet, in welchem Fassbinder-Film? Haben wir nicht mit Mohnblüten begonnen? Am Ende kann Ina Hartwig die Frage, wer „die Bachmann“ denn nur wirklich war, nicht beantworten. Aber sie fügt dem in vielen Farben schillernden Mosaik einen schmutzig glänzenden Stein hinzu.“

Mag man an der Hinzufügung des schmutzig glänzenden Steins wenig Neues oder Wertvolles für die Bachmann-Lektüre empfinden, so bringt ein weiterer Stein auf dem Weg, den Hartwig hinzufügt, dagegen doch weiter: Das ist ihre Beschäftigung mit der Freundschaft (die Ina Hartwig gerne zur Beziehung ausdeuten würde) zwischen Ingeborg Bachmann und Henry Kissinger, anhand dessen, so Hartwig, „die Zeitgenossenschaft Ingeborg Bachmanns in ihrer vollen, abenteuerlichen Dimension hervortritt.“

Blick auf die politische Seite der Dichterin

Tatsächlich ist dies ein Gewinn bei der Lektüre dieser bruchstückhaften, zum Teil auch sprunghaft wirkenden Biographie: Der Blick auf die philosophisch und politisch denkende Dichterin, die sich mit Heidegger, Wittgenstein und Simone Weil beschäftigte, die sich wach und dezidiert zu Fragen der Nachkriegs- und Europapolitik, der Wiederaufrüstung und anderen brennenden politischen Themen äußerte.

„Um 1960 war noch völlig offen, was aus Europa werden könnte und werden sollte. Ein geeinigtes Europa, das war nicht nur die Antwort auf die Verheerungen des Nationalsozialismus und des Faschismus, sondern zugleich ein attraktives Zukunftsmodell für die zwischen Ost und West aufgeteilte Welt, deren Grenze mitten durch Deutschland lief. Alle politischen Bewegungen erzeugten erhebliches Misstrauen, und Bachmanns Freund Kissinger gehörte, von der anderen Seite des Atlantiks auf Europa schauend, zu den ganz besonders Misstrauischen. Dass Bachmann sich an seiner nordamerikanischen Perspektive abarbeitet und gleichzeitig versucht, eine europäische für sich zu entwickeln, dürfte der politische Nukleus dieser Überlegungen sein.“

Ina Hartwig resümiert am Ende ihres Buches:

„Ingeborg Bachmann war eine geerdete Persönlichkeit, kompliziert und schwierig zwar, gefährdet ohnehin, aber auch witzig, klug, praktisch, dem Alltag zugewandt und schon früh erstaunlich politisch denkend. Ihre sagenhafte Karriere war befeuert worden von den Aufmerksamkeitsströmen und Geldzuwendungen der transatlantischen Kulturpolitik des Kalten Kriegs, von der sie extrem profitierte als Dichterin, als Intellektuelle und nicht zuletzt als Freundin bedeutender Personen der Zeitgeschichte. Sie war ein Medienprofi und eine hellwache Beobachterin ihrer eigenen Epoche, was ihr bis zur Ermüdung besungenes Diventum am Ende doch sehr relativ aussehen lässt.“

Schade eigentlich, dass die Literaturkritikerin durch ihr beinahe zwanghaftes Entblättern der „dunklen Seite“ Bachmanns eher eine neue Note im Lied von der unglücklichen Diva anschlägt und trotz mancher Ansätze die politische, intellektuelle Dichterin wieder einmal dahinter zurücktritt.


Bibliographische Angaben:

Ina Hartwig
Wer war Ingeborg Bachmann?
S. Fischer Verlage, 2018
ISBN: 978-3-596-03270-9

Helmut Böttiger: Wir sagen uns Dunkles

“Wir sagen uns Dunkles” ist die erste umfassende Arbeit über die komplizierte Beziehung von Paul Celan und Ingeborg Bachmann. Ein Stück Literaturgeschichte.

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Bild von Erika Varga auf Pixabay

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Paul Celan, aus „Corona“.

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

(…)

Sie dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann, aus „Die gestundete Zeit“.

„Schon in frühen Versuchen, aus der Zeit mit Celan in Wien und danach, fallen Celan-Anklänge auf, das Aufsaugen seines spezifischen Tons, der schwungvollen Daktylen, des verzaubernden Genitivs, der suggestiven Wie-Vergleiche (…). Aber auch in ihrer berühmten Lyrik aus den fünfziger Jahren greift Bachmann Celan` sche Bilder auf und entwickelt sie in ihrem Sinn weiter. Die gestundete Zeit ist ohne Celan nicht zu denken.“

Helmut Böttiger, „Wir sagen uns Dunkles“

Immer schon bewegte mich die geistige Verwandtschaft, die aus den Gedichten Ingeborg Bachmanns und Paul Celans spricht. Auch ohne viel über ihre Verbundenheit zu wissen – eine Verbindung ist spürbar, eine Seelen-Verwandtschaft zu erlesen, die weit über die Tatsache hinausgeht, dass beide zur selben Zeit zu ihren Worten fanden, dass sie, Kinder ihrer Zeit, versuchten, die Lyrik nach der dunklen Zäsur des Nationalsozialismus  neu zu definieren.

Ihre Sprache: Jeweils einzigartig, solitär, aus dem lyrischen Aufbruch der Nachkriegsdichtung herausragend und doch so miteinander verwandt. Inzwischen meint man viel auch über die komplizierte Liebesbeziehung dieser beiden Sprachkünstler zu wissen. Der 2009 beim Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Herzzeit“ erschienene Briefwechsel gab eine Ahnung.

Wie sehr das Paar, das die meiste Zeit seit dem Kennenlernen im Wiener Frühling 1948 eigentlich kein Paar im klassischen Sinne war, zeitlebens im Denken, Arbeiten und Fühlen miteinander verbunden war, das arbeitet nun der Schriftsteller und Kritiker Helmut Böttiger in seinem jüngsten Buch kongenial heraus.

Der Geheimcode einer Liebe

„Wir sagen uns Dunkles“: Jene Zeile aus Celans Gedicht „Corona“ wird zum Leitmotiv dieser Liebe, die für beide tragisch endet. Sie wurde auch treffend zum Titel von Böttigers Annäherung an „Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan“. Der Autor entziffert diesen „Geheimcode der Liebe“ zwischen den beiden Lyrikern nah an den Quellen, den Gedichten, Texten und Briefen der beiden, an Aussagen von Zeitzeugen und Freunden. Niemals nur im Ungefähren psychologisierend und im Dunkeln stochernd, immer zurückhaltend interpretierend und doch so aufschlussreich gerade auch über Ungesagtes, das sich zuweilen nur über eine enge, sich am Biographischen orientierende Gedichtinterpretation erschließt.

„Im Windschatten, tausendfach: du./Du und der Arm,/mit dem ich nackt zu dir hinwuchs,/Verlorne.“

Paul Celan, aus „Weiß und Leicht“.

Das Gedicht entstand nach einer Wiederbegegnung 1957, beide erlebten und lebten – obwohl Celan, in Paris nicht länger „unbehaust“ und schon längst mit Gisèle Lestrange verheiratet war – eine kurze Zeit der „Liebeseuphorie“. Böttiger schreibt:

„Verbannt“ und „Verloren“: Es war die Vision, dass die beiden Dichter, die sich „aus dämonischen Gründen“, wie Ingeborg Bachmann einige Jahre zuvor erkannt hatte, gegenseitig ausschlossen, dass diese Solitäre zusammengedacht werden konnten. Und dazu gehörte auch eine neue Form von Gelassenheit: Es konnte gesprochen und geschwiegen werden, und „einiges ging seiner Wege“, unbehelligt. Das Gedicht Celans hat einen hymnischen Ton, es zeugt von einem Augenblicksglück. Das so unterschiedliche, aber doch auch gemeinsame Schicksal hatte zwei Versprengte zusammengeführt.“

Helmut Böttiger zeichnet die Verbindung der beiden chronologisch nach, von der ersten Begegnung 1948 über das belastete und belastende Wiedersehen bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf (1952) bis zum Bruch, den Celan, schon gezeichnet von seiner psychischen Erkrankung, herbeiführte. Mit viel Gespür arbeitet Böttiger die Konflikte heraus, die eine erfüllende Liebesbeziehung verhinderten, angefangen von den unterschiedlichen Lebenserfahrungen – Celan, Jude, KZ-Überlebender, ein Flüchtender, Bachmann, aufgewachsen in der sie einengenden Klagenfurter Provinz, Tochter eines Lehrers und NSDAP-Mitglieds – bis hin zu der so unterschiedlichen Aufnahme in der literarischen Welt.

Austausch über die Philosophie Heideggers

Ingeborg Bachmann, in der Gruppe 47 auch als „Fräuleinwunder“ bestaunt, Celan, der nach wie vor Erfahrungen mit einem latenten Antisemitismus in der Literaturwelt machen muss. So sehr die beiden ein intellektueller Austausch, beispielsweise über die Philosophie Heideggers, über die Entwicklung der Literatur und ähnliche Fragen verband, so sehr trennte sie auch der unterschiedliche Erfolg. Die öffentliche Anerkennung der Lyrikerin Bachmann: Paul Celan empfand dies als Verletzung, sah die Konkurrenz, wie Helmut Böttiger herausarbeitet.

Bezüglich der Gruppe 47, der Auseinandersetzungen in der Literatur in jenen Jahren, ihren Tendenzen und Strömungen kann Helmut Böttiger natürlich aus dem Vollen schöpfen: Sein zuletzt veröffentlichtes Buch, „Die Gruppe 47“ warf bereits einen erhellenden Blick auf diese literarischen Netzwerker. Wie sehr sich sowohl Bachmann als auch Celan hier als „Fremde“ fühlen mussten, machen gut platzierte Zitate deutlich.

Anpassungsfähigkeit an den Literaturbetrieb fehlte

Dies macht auch deutlich: „Wir sagen uns Dunkles“ will eben nicht den voyeuristischen Blick auf die Liebesleiden zweier traumatisierter Menschen bedienen. Das Buch ordnet diese Beziehung in eine Literatur- und Personengeschichte ein, die, wenn man sich für diese Lyriker und die Literatur jener Jahre interessiert, ein Stück Literaturgeschichte ist. Zudem gibt das Buch Aufschluss gibt darüber, wie entscheidend auch im Literaturbetrieb Anpassungsfähigkeit und ein Stück Aktivismus sind. Beides brachten Bachmann und Celan nicht mit. Helmut Böttiger schreibt flüssig, einfühlsam, klug und gibt nicht zuletzt auch Interpretationshilfen für die hermetische Lyrik dieser beiden poetischen Sterne.

Zugleich macht das Buch auch offensichtlich, dass vor allem Ingeborg Bachmann jene war, die – obwohl auch sie diese Liebe nicht leben konnte – anhaltend um sie, um Paul Celan rang. Vielleicht war sie unter diesen beiden Menschen, beide nicht besonders „lebenstüchtig“, beide immer auch dem Dunklen, der Schwermut und Melancholie zugeneigt, denn doch die Leidensfähigere, wer weiß?

Helmut Böttiger versucht beiden gerecht zu werden:

„Am 27. September 1961 setzte Ingeborg Bachmann noch einmal zu einem langen Brief an, den sie nicht abgeschickt hat. Es ist ein bewegender Brief, der ihre ganze Verzweiflung über eine Beziehung zu ihm ausdrückt, und gleichzeitig spricht er vollkommen klar aus, dass sie mit Celans psychischem Zustand, seiner Erkrankung überfordert war.“

„weil ich mich nicht schützen kann dagegen, weil mein Gefühl für Dich immer zu stark bleibt und mich wehrlos macht.“

Im April 1970 nimmt Paul Celan sich das Leben. Ingeborg Bachmann stirbt drei Jahre später.

Helmut Böttiger beendet sein Buch mit einer Interpretation von Ingeborg Bachmanns Erzählung „Drei Wege zum See“:

Vor allem aber ist Trotta der unerreichbare, ferne Geliebte – „die einzige und große Liebe“. Sie war nur in der Literatur zu verorten. In der Literatur, in der Legende und im Märchen, wo auch die berühmten zwei Königskinder aufzufinden sind, die nicht zueinanderkommen konnte.

Informationen zum Buch:

Helmut Böttiger
Wir sagen uns Dunkles
Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan
DVA, München 2017
ISBN: 978-3-570-55416-6