Ein Wolkenbruch von einem Buch, ein Jahrhundertwerk: Die Insel des zweiten Gesichts von Albert Vigoleis Thelen

„Wenn ein Deutscher sich an einer historischen Stätte niederläßt, schöpft er tief Atem, krempelt die Hemdärmel hoch, falls er nicht schon hemdärmelig die Stätte betreten hat, zückt seine Bleifeder und schreibt eine Ansichtskarte. Das ist schon so, seit es auf der Welt Deutsche und Ansichtskarten gibt, zwei Schöpfungen, die sich ergänzen.“

Albert Vigoleis Thelen, „Die Insel des zweiten Gesichts“.

Mal abgesehen davon, dass es heute eher Selfies und Whatsapp-Fotos sind, die verschickt werden: Manche Dinge ändern sich nie. Und so pilgern wie in den 1930er-Jahren, als sich der in Süchteln am Niederrhein geborene Schriftsteller Albert Thelen (den Vigoleis eignet er sich als Pseudonym und Alter Ego im Laufe seines abenteuerlichen Lebens später an, in Anlehnung an das mittelalterliche Versepos Wigalois des Wirnt von Grafenberg) auf Mallorca zeitweise auch als Reiseführer durchschlug, auch heute noch Scharen von Touristen nach Valldemossa, um dort ihr Mallorca-Bildungsprogramm zu absolvieren. Die Besichtigung der Klause, wo George Sand mit Frédéric Chopin einen Winter lang fröstelte und das unverheiratete Paar unter der Ablehnung der erzkatholischen Mallorquiner litt, gehört zum literarischen Bildungsprogramm eines Aufenthalts auf der Balearen-Insel. Wenn auch die wenigsten von ihnen „Un Hiver à Majorque“ gelesen haben dürften. Und unter uns: Es lohnt das Lesen nicht. Sowieso nicht im Vergleich zur Insel des zweiten Gesichts, dem eigentlichen Mallorca-Buch, „das größte Buch dieses Jahrhunderts“, wie Maarten ‘t Hart, ein Thelen-Aficionado, bekannte. Wer des Holländischen mächtig ist, lausche und schaue hier.

In Gefahr, ob der Begeisterung über diesen barocken Brocken von Buch in den „Kaktusstil“ seines Verfassers zu verfallen (dazu später noch eine Anmerkung), zurück zum Vergleich George Sand und Albert „Don Vigo“ Thelen: Es ist jedenfalls eine schreiende Ungerechtigkeit der Literatur, dass die kalte Kartause in jedem Reiseführer zu finden ist, aber kaum einer an die Calle del General Barceló No. 23 erinnert. Oder gar an den „Turm der Uhr“, ein Horst für eine kriminelle Schmugglerbande und Bordell zugleich – gut, diesen zu verorten, dürfte auch schwierig sein, schrieb Thelen doch später selbst darüber: „der Witz ist nur der, daß ich selbst tarnend hatte schreiben müssen, und ich verschleierte die katasteramtliche Örtlichkeit, denn schließlich deckte ich Dinge auf, mit denen sich Behörden auch nach Jahren noch beschäftigen können…. So griff ich zum Schleier der Maja in einem Buch, das von der Wahrheit lebt und worin alles der Wirklichkeit nachgebildet ist…” (AV Thelen: Brief an die Redaktion, MERIAN Mallorca, Heft 3 März 1960).
Quelle: http://www.vigoleis.de/content/insel/0/67.htm

Doch hier kommen Don Vigo und seine Herzensdame Beatrice zeitweilig unter, als sie völlig abgebrannt und ohne einen Peso sind, freilich ohne sich an den Machenschaften im Turm zu beteiligen. Als sie sich mit Gelegenheitsarbeiten – sie als Sprachlehrerin, er als Reiseführer und Sekretär für andere prominente Mallorca-Exilanten, darunter Harry Graf Kessler und Hermann Graf Keyserling – etwas besser durchschlagen, wenn auch nach wie vor kaum für täglich Brot, geschweige denn einen zweiten Tisch oder Stuhl sorgen können, folgt der Umzug in die Straße des Generals. Doch zurück zum Anfang: Wie gelangen Albert Vigoleis und Beatrice (die über dies ungleich länger als George und Frédéric miteinander verbunden blieben, nämlich bis zum Rest ihres langen Lebens) überhaupt auf diese Insel?

Das Buch in nüchternen Worten beschrieben: 1931 erreicht Beatrice, die ihren Albert Vigoleis in Köln kennengelernt hatte, ein Telegramm ihres Bruders. „Liege im Sterben, Zwingli“, schreibt der Luftikus, der als Hotelmanager auf Mallorca tätig ist. Das damals noch unverheiratete Paar eilt stante pede zur Hilfe – um den Bruder zwar etwas mitgenommen, aber durchaus leibhaftig anzutreffen. Seine lebensbedrohliche Erkrankung ist die Liebe zur Hure Pilar, die ihn nicht nur nach Strich und Faden ausnimmt, sondern regelmäßig auch mit fliegendem Geschirr, Mobiliar und einem Messer bedroht. Zwar gelingt es Beatrice, den Bruder aus den Klauen Pilars zu befreien und alle Schulden zu begleichen, aber der Preis ist heiß und hoch: Danach sitzen Beatrice und ihr Don Vigo auf dem Trockenen, nicht einmal mehr Geld zur Rückreise bleibt. Aus dem geplanten Besuch wird ein Daueraufenthalt, der bis 1936 währt. Auch deshalb, weil die Machtergreifung der Nationalsozialisten alles in der ehemaligen Heimat verändert: Albert Vigoleis Thelen macht aus seiner Abscheu keinen Hehl, bricht mit seiner katholischen Familie am Niederrhein, die sich bereitwillig anschließen lässt und mit seinen Wurzeln. Als der Spanische Bürgerkrieg beginnt, muss sich das Paar unter abenteuerlichen Umständen dem Zugriff der Faschisten entziehen, ihre Flucht führt sie durch halb Europa bis nach Portugal, wo Thelen als Gutsverwalter und Übersetzer des von ihm hoch geschätzten Mystikers und Dichters Texeira de Pascoaes überlebt.

„Die Insel des zweiten Gesichts“ umspannt diesen Mallorca-Aufenthalt, endet, finis operis, 1936:
„Die Natur sorgte für einen letzten Effekt, der bei allem Gleisen doch nicht zu theatralisch genommen sein will. Wieder heulten die Sirenen auf, und im selben Augenblick schloß sich die Wolke. Wer hatte sie fallen sehen? Ein weißlicher Schein umhüllte uns, starr war die Planke, lautlos die Welt. Unsichtbar über uns blaute der glühende Meertag, und unten wallte die Nacht, die das Ziel verhüllt.
Das Ziel hieß: Freiheit.“

Die Kurzzusammenfassung erfasst nicht einmal annähernd, was dieses fast 1000-seitige Werk an Leben und Literatur in sich birgt. „Thelen brennt ein Sprachfeuerwerk ab, das in der Literaturgeschichte seinesgleichen sucht. Mit Hilfe eines Wortschatzes, der der umfangreichste in der gesamten deutschen Literatur sein dürfte“, schreibt der Thelen-Kenner und Germanist Jürgen Pütz. Inzwischen dürfte es mehr literatur- und sprachwissenschaftliche Arbeiten über die Verwendung neuer Wortschöpfungen, Wiederbelebung altdeutscher Worte und dem artistischen Umgang damit bei Thelen geben, als aktive Leser seines Werks. Was jammerschade wäre. Jürgen Pütz nennt in seinem Nachwort zur Ausgabe im Claasen Verlag einige Beispiele:

„Alleine für Zwinglis Freundin Pilar hält Thelen zahlreiche Synonyme bereit: Schlunte, Zaupe, Zauche, Lunze, Schindkracke, Bettunzel, Schöke, Hehre, Strunze.“

Wer so mit Wörtern umzugehen vermag, der braucht Raum. Doch nicht nur dieses führt dazu, dass „Die Insel des zweiten Gesichts“ zum ausufernden Leseerlebnis wird, von dem man sich wünscht, es möge nicht so schnell enden (was es in der Tat auch nicht tut – es ist eines dieser Bücher, die man immer wieder lesen kann und dabei immer wieder Neues entdecken wird). Es ist auch dieser mäandernde, digressive Erzählstil, den Thelen pflegt, der zum Volumen beiträgt. Immer wieder schießt er bei seinen Anekdoten vom Inselleben vor und zurück, führt uns in die Welt seiner niederrheinischen Familie oder auf das portugiesische Gut, integriert kunstvoll Abschweifungen und Ablenkungen von der eigentlichen Inselerzählung. Thelen selbst nennt das „Kaktusstil“:

„(…) es bilden sich Ableger, ins Wilde hinein, wie beim Kaktus, der gerade da Augen setzt, wo man sie nicht erwartet.“

Es braucht fast zwanzig Jahre, bis Albert Vigoleis Thelen, der bis dahin nur einen Gedichtband veröffentlichen konnte, die Mallorquiner Ereignisse in diese Mischung aus Autobiographie und romanhafter Erzählung goss. Ein Beispiel autofiktionaler Literatur, die heute wieder so en vogue ist – doch an Thelen reicht keiner heran, so funkensprühend, lebensprall, ausufernd, exorbitant ist dieses Buch. Ein Solitär, aber leider auch ein „One-Hit-Wonder“: Wiewohl die 1953 zugleich in den Niederlanden und Deutschland erschienene „Insel“ ein Jahr später mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet wurde, obgleich Thomas Mann, Paul Celan und Siegfried Lenz das Buch über die Maßen lobten, der große Erfolg blieb Thelen versagt. Mit ausschlaggebend dafür war, dass das Buch nicht in den Zeitgeist der Nachkriegs-Autoren passte, wie auch Agnes Steinbauer in einem Beitrag für den Deutschlandfunk hervorhob:

„Sein ausladend-verästelter Erzählstil, den er selbstironisch Kaktusstil nannte, passte nicht ins literarische Profil der frühen Nachkriegsjahre. Bei einer Lesung 1954 in Bebenhausen kam es zu einem Eklat, den Thelen nie verwand. Noch Jahrzehnte später erinnerte er sich: „Ich wurde von Hans Werner Richter sehr unfreundlich empfangen, ja ich darf es wohl sagen und ich muss es ja auch schließlich sagen, denn es entspricht der Tatsache und der Wahrheit: es war ungezogen.“ Richter – Vorsitzender der Gruppe 47 – hatte sich mit sarkastischen Bemerkungen über Thelens altertümelndes „Emigrantendeutsch“ mokiert.“

Oder, wie Jürgen Pütz es formuliert: „Regentropfen hätten sie toleriert, aber es kam ein Wolkenbruch.“

Diesem Wolkenbruch sind einige der schönsten, komischsten, tragischkomischen und gescheiterten Figuren zu verdanken, die man sich in der deutschsprachigen Literatur erlesen kann: Angefangen vom Autor selbst, der in mir das Bild eines melancholischen und zugleich witzigen Pierrots hervorruft, der vor Fantasie und Sehnsucht sprüht. Saludos a Don Vigo! Aber daneben auch die Beatrice mit ihren Inka-Wurzeln, der frustrierte ehemalige Kampfflieger Martenstein, der an einem Roman schreibt, in dem er eine Affenarmee aufmarschieren lässt, die anarchistischen Uruguayer, die regelmäßig mit ihren selbstgebastelten Bomben scheitern, die angebliche amerikanische Backpulver-Millionärin, von der sich Don Vigo adoptieren lassen will und der pornosüchtige jüdische Exilant Silberstein, um nur einige zu nennen: Was für ein köstliches Welttheater sich da entfaltet!

„Die Insel des zweiten Gesichts“: Wenn ich vor die Wahl gestellt würde, welches Buch ich auf einen Inselaufenthalt mitnehmen dürfte, dann wäre es ohne Zweifel dieses.

Ein Gastbeitrag von Theo Breuer zu “Was wir scheinen” von Hildegard E. Keller und seiner Literatour 2022

Seit einiger Zeit freue ich mich über einen regelmäßigen Austausch mit dem Schriftsteller Theo Breuer, der im Zuge meiner Pressearbeit für Literaturverlage entstand. Schon früh in diesem Jahr informierte mich Theo Breuer über sein Vorhaben, sein erstaunliches jährliches Lesepensum als Essayzyklus 2022 in der Literaturzeitschrift Matrix zu veröffentlichen und gab mir, mit der Bitte um Einschätzung, die Texte zu lesen. Auch hier nochmals vielen Dank für dieses wunderbare Vertrauen und dass ich diese Literatour begleiten durfte. Ich war von der Idee, die Lektüren mit dem eigenen Alltag zu verknüpfen und dadurch ein Lesetagebuch zu erschaffen, begeistert, ebenso wie von der poetischen Sprache, die den Lyriker durchklingen lässt.
Im Dialog entstand die Idee, diesem Zyklus nach der Veröffentlichung in Matrix noch ein weiteres Forum zu geben. Neben einem Newsletter, den Theo Breuer nun in der Adventszeit verschickt, stellte er mir seinen Text zum Download auf meinem Blog zur Verfügung. Sein Wunsch war es, seine Gedanken zu “Was wir scheinen” von Hildegard E. Keller als Beispiel zu veröffentlichen, die gesamte Lesereise findet sich zum Download hier:


Ein Gastbeitrag von Theo Breuer

Ich betrachte das Buch Was wir scheinen, blicke der Frau in die Augen, lese Titel, Untertitel : Hannah Arendt ∙ Poetische Denkerin, mache mir Gedanken über die Wörter ›lyrisch‹ / ›poetisch‹, ›Lyrik‹ / ›Poesie‹, auch im Zusammenhang mit essayistischem Schreiben, das mich, zum Beispiel, das Mäandern gelehrt hat, das auch für Harald Gröhler längst schon selbstverständlich ist beim Verfassen literarischer Texte : Sie mäandern manchmal und steuern dann nicht schnurstracks auf ein Ende zu, sondern sie nehmen manches mit auf. Vorläufig versteh ich die Wörter gewiß keinesfalls als unmittelbare Synonyme. Sinnverwandt mögen sie sein, aber Vorsicht, lieber noch ein bißchen weitergrübeln. Warum denk ich da jetzt dran? Deshalb: Ich frage mich, ob lyrisch denken, poetisch sinnieren etwa eine Art Sinnestäuschung, Chimäre, Trugbild sei, gar eine Flucht aus Raum, aus Zeit, hinein in Traum – und weit, oder sind das Lyrische, das Poetische wirklicher als die Wirklichkeit, die das lyrische Luftbild, die poetische Phantasie gleichsam zurückholen ins ›reale‹, ›tatsächliche‹ Tagesgeschehen – und somit das Sehen verändern, die menschlichen Beziehungen, das Verhältnis zur Welt. Ob Gedicht oder Roman : Wo diese Fragen nicht mitschwingen im komplexen Geflecht der Wörter – handelt es sich da möglicherweise nicht um literarische Texte im engeren Sinne? Poems, including stories and songs, are more capable of forming, formulating, expressing and communicating care, carefulness, and caringness, and doing so more honestly, truthfully, intensely, fully and profoundly, than any other linguistic expression. (Richard Berengarten) Unmittelbar nach diesem Gedankenschub les ich in Harald Gröhlers Erzählung Eine Selbstmörderin : Dank Goethe ist die Ilm hier nicht begradigt. Das macht mir den Herrn von Goethe schon sehr real. Na also. Also was? Was wir scheinen. Auf dieses Buch hab ich, ohne es zu ahnen, seit Jahren gewartet. Vielleicht schon, seit ich Arendts Vita activa oder Vom tätigen Leben las *, spätestens jedoch, seit ich den Film Hannah Arendt mit Barbara Sukova sah. Was ich nicht wußte : Hannah Arendt, die mir die Banalität des Bösen begreifbar machte, schrieb auch Gedichte. Alles, wirklich alles dreht sich um Sprache, les ich auf Seite 17. Ein Satz, sieben Wörter, und die poetische Existenz dieser Frau scheint auf : zielklar, sichtbar, wahr. Hildegard E. Keller gelingt mit dem romanesken Sprachkunstwerk Was wir scheinen die kongeniale Nachempfindung von Wesen, Wirken und Wollen der worttollen Hannah Arendt. Eine poetische Liebesgabe. Lesen!


* Die drei Grundtätigkeiten Arbeit, Herstellen, Handeln sind nun nochmals in der allgemeinsten Bedingtheit menschlichen Lebens verankert, daß es nämlich durch Geburt zur Welt kommt und durch Tod aus ihm wieder verschwindet. Was die Mortalität anlangt, so sichert die Arbeit das Am-Leben-Bleiben des Individuums und das Weiterleben der Gattung; das Herstellen errichtet eine künstliche Welt, die von der Sterblichkeit der sie Bewohnenden in gewissem Maße unabhängig ist und so ihrem flüchtigen Dasein so etwas wie Bestand und Dauer entgegenhält; das Handeln schließlich, soweit es der Gründung und Erhaltung politischer Gemeinwesen dient, schafft die Bedingungen für eine Kontinuität der Generationen, für Erinnerung und damit für Geschichte.

Hildegard E. Keller: Was wir scheinen. Hannah Arendt · Poetische Denkerin. Roman. 574 Seiten. Broschur. Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG, Köln 2022.


Theo Breuer, Jahrgang 1956, schreibt in erster Linie Gedichte und Essays. Seit 1988 veröffentlicht er Ge­dichtbücher (auch visueller Art) sowie essayistische Monographien zur zeitgenössischen Literatur. Breuers Bücher erscheinen seit 2012 im Pop Verlag: Das gewonnene Alphabet (2012); Zischender Zustand ∙ Mayröcker Time (2017); Scherben saufen (2019); Winterbienen im Urftland Empfundene/erfundene Welten in Norbert Scheuers Gedichten und Geschichten (2019), nicht weniger nicht mehr (2021) sowie Vorschlag zur Blüte (2023). Im siebenteiligen Essayzyklus L·i·t·e·r·a·t·o·u·r »22«, in dem rund 88 – fast ausschließlich 2022 erschienene – Bücher vorstellt werden, hat Theo Breuer es in erster Linie auf die Sprache abgesehen, die er in den jeweiligen Büchern vorfindet: »Ohne den Schall der Sprache geht gar nichts«, heißt es bereits im Vorwort.


EDITION FAUST: Manfred Winkler – Noch hör ich deine Schritte


In den tiefen Mulden der Zeit
verflackert einer einmaligen
Kerze Licht.
Es ist schon spät
über Mitternacht hinaus,
viel zu spät zum Briefeschreiben
an dich –
den Farben der Erinnerung
und der Poesie
nur ein Gedanke kommt vielleicht
der aufflackert im Traum
und vergessen wird

“In den tiefen Mulden der Zeit” von Manfred Winkler in: “Noch hör ich deine Schritte”, deutsch- und hebräischsprachige Gedichte, Edition Faust, Oktober 2022, herausgegeben und ausgewählt von Monica Tempian und Jan Kühne

Er wurde vor 100 Jahren in einer Kulturlandschaft geboren, deren Blüte einzigartig ist: Manfred Winkler kam 1922 in der Bukowina zur Welt, dort, wo auch Paul Celan und Rose Ausländer geboren sind. “Als Sohn eines wohlhabenden jüdischen Rechtsanwaltes erfuhr er die für begabte Landeskinder typische Ausbildung: Mit vierzehn kam er in die Hauptstadt Czernowitz/Cernăuţi, wo er zusammen mit Ukrainern, Polen, Rumänen, Ungarn, Juden und Deutschen aufs Gymnasium ging. Eine der historisch bewegtesten Landschaften Mittelosteuropas, die von 1775 bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehörte und 1919 durch den Vertrag von Saint-Germain dem Königreich Rumänien zugeteilt wurde, bewahrte die Bukowina zur Zeit von Winklers Schulausbildung noch den Ruf einer multiethnischen Provinz mit einer besonders intensiven Produktivität des schöpferischen Lebens”, schreibt Monica Tempian im Vorwort zu dem Jubiläumsband “Noch hör ich deine Schritte”, der zum 100. Geburtstag des Dichters, Übersetzers und bildenden Künstlers bei der Edition Faust herauskommt.

Erstmals wird dabei die deutsch- und hebräischsprachige Lyrik in einem Band zusammengefasst, ergänzt durch eine Auswahl unveröffentlichter Gedichte aus dem Nachlass. Eine über Länder und Zeiten hinweg Sehnsucht weckende Stimme erklingt in der Lyrik Manfred Winklers, erregt Neugier, wirbt um Verständnis. Winklers Verse schöpfen sowohl aus seiner reichen verinnerlichten Lebenserfahrung als auch aus dem Arsenal zahlreicher Kulturen und Literaturen. Erinnerung und Abwehr des Vergessens, Krieg und politische Wirren, Ortswechsel und das unruhige Suchen nach Orientierung, Nähe und Gemeinsamkeit, menschliche Endlichkeit und immer wieder: die Grenze als kritische
Größe des Lebens – das sind Themen, denen sich der Lyriker mit unerbittlicher Aufrichtigkeit stellt.

Wenige Jahre vor seinem Tod hatte er der Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Monica Tempian schriftlich sein plein pouvoir für die Veröffentlichung seines Werks gegeben. Die Herausgabe der deutsch- und hebräischsprachigen Gedichte Manfred Winklers (1922–2014) ist aus einer Zusammenarbeit Dr. Monica Tempians (Victoria University of Wellington) und Dr. Jan Kühnes (Hebrew University of Jerusalem) unter Mitwirkung von Rick Sahar (Victoria University of Wellington) hervorgegangen. Hans-Jürgen Schrader, Yvonne Livay und Hans Bergel (1925–2022) ist es hauptsächlich zu verdanken, dass Winklers Nachlass dem Archiv des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas an der LMU München (IKGS) anvertraut wurde, das den Jubiläumsband unterstützt.

Manfred Winkler war Lyriker, Bildhauer, Maler und Übersetzer Paul Celans ins Hebräische.
Am 27. Oktober 1922 in Putila nahe Czernowitz geboren, nach Shoa und Deportation im Zuge der rumänischen Repatriierung der Juden in Israel neu beheimatet, war Winkler bis 1981 als Leiter des „Theodor-Herzl-Archivs“ und Lektor der Herzl-Edition tätig. Danach wirkte er als freier Schriftsteller im Jerusalemer LYRIS-Dichterkreis. Für seine hebräische Lyrik wurde ihm 1999 der große Preis des Israelischen Ministerpräsidenten für Lyrik verliehen. Manfred Winkler starb am 12. Juli 2014 in Tsur Hadassah. Seine bleibende Bedeutung besteht in der Vermittlung zwischen europäischen und orientalischen
Sprachen und Kulturen. Sein Werk steht exemplarisch für die Begegnung zwischen
dem deutschen und hebräischen Sprachraum: Nebst dem mehrsprachig geprägten deutschen Idiom seiner multikulturellen Herkunftsregion Bukowina und der damit aufgerufenen Sphäre von humanistischer Gesinnung macht es auf beeindruckende Weise die kulturelle Sphäre der orientalischen Welt mit ihrer spezifischen Sprachfärbung vernehmbar.

Informationen zum Buch:

Manfred Winkler
Noch hör ich deine Schritte
Deutsch- und hebräischsprachige Gedichte

Edition Faust, Oktober 2022
Herausgegeben und ausgewählt von Monica Tempian und Jan Kühne
Gebunden, 272 Seiten, 24,00 €
Mit Zeichnungen und Skizzen von Manfred Winkler
ISBN 978-3-949774-09-6

https://editionfaust.de/

Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Edition Faust.

Ina Hartwig: Wer war Ingeborg Bachmann?

Bachmann_Hartwig

Bild: Birgit Böllinger

„Am Rande der Veranstaltung (Anmerkung: Gemeint ist eine Wahlkampfveranstaltung 1965 in Bayreuth) sind etliche Fotografien entstanden, darunter eine besonders schöne Frontalaufnahme, in der ein ganzes Soziotop sich auf dem Sofa drängelt. Und wen sieht man direkt zur Rechten Willy Brandts sitzen? Niemand anderes als eine über das ganze Gesicht strahlende, fein frisierte, mit Perlenkette umhängte Ingeborg Bachmann.
Alle Krisen wirken wie weggewischt. Sie sitzt, wieder einmal Königin, genau in der Mitte des Bildes – eine demokratische Königin.“

Ina Hartwig, „Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken“, S. Fischer Verlag, 2017.

Gleich von vorneweg: Nein, wer Ingeborg Bachmann war, beantwortet auch dieses Buch nicht. Als ob überhaupt eine schriftliche Biographie einen Menschen gänzlich erklären könnte, das sei einmal  dahin gestellt. Doch die österreichische Schriftstellerin beschäftigt über ihr Werk hinaus wie kaum eine andere deutschsprachige Autorin die literaturwissenschaftliche Nachwelt – da wird einerseits ihre hermetische Lyrik nach Lebensspuren untersucht, werden ihre Prosatexte in Zusammenhang mit ihren schmerzhaften Lieben – Paul Celan und Max Frisch – in Zusammenhang gebracht, da wird ihr Nachlass, insofern ihn die Erben der Öffentlichkeit freigegeben haben, penibel durchforscht. Das Feld der Veröffentlichungen über Bachmann ist weit – es reicht von Erhellendem, das einem als Leser beispielsweise die Gedichte weiter erschließen kann (so das hier erst kürzlich besprochene Buch „Wir sagen uns Dunkles“) bis hin zu Büchern, die eher einen bruchstückhaften Eindruck und das Gefühl, am Ende überwiegt denn doch die Spekulation, hinterlassen. Zu letzterem gehört leider auch das Buch der Literaturkritikerin Ina Hartwig.

 „In Ina Hartwigs Bachmann-Biografie fehlt dieses plausibel aus dem Werk und aus zuverlässigen Quellen erarbeitete Neue. Denn Ingeborg Bachmanns «Fluchtweg nach Süden», die Jahre in Neapel, Ischia und später in Rom sind durch den Briefwechsel mit Hans Werner Henze (2004) bereits gut erschlossen. Auch zu Bachmanns unstetem Leben, ihrem Unglück mit Männern, ihren Abstürzen in wüste Mengen von Alkohol und Psychopharmaka – dazu hat Ina Hartwig keine neuen Fakten zu bieten, weil auch ihr der freie Zugang zum Nachlass nicht gänzlich gewährt wurde“, urteilt Franz Haas in seinem Artikel „Das große Buch Bachmann“ am 7. Januar 2018 in der NZZ.

Mir bietet dieses Buch nicht nur wenig Erhellendes zu den Schattenseiten im Leben der „Diva“, sondern konzentriert sich viel zu sehr darauf – auch wenn Hartwig, die sich selbst im Buch als „biographische Detektiven“ bezeichnet, ab und an versucht, die „bodenständige“, pragmatische und lebenszugewandte Seite der Ingeborg Bachmann hervorzuheben. Doch sie bedient zugleich den voyeuristischen Blick auf eine zutiefst unglückliche, zerrissene Frau. Dass Ina Hartwig immer wieder darauf zurückgreift, wie sehr das Leben der Dichterin „mystifiziert“ wurde, wie viele ihrer Zeitgenossen über den Drogenkonsum Bachmanns hinwegsahen, erscheint mir dabei fast wie eine Selbstvergewisserung der Biographin, hier müsse man einen Vorhang heben – dabei waren die Abhängigkeiten Bachmanns längst bekannt, in der Deutung des Werks und des Lebens bringt das wenig weiter.

Richard Kämmerling beurteilt das Buch in der „Welt“ positiver, weil „spannend“ für die Leser, als Franz Haas. Und stellt am Ende doch die Fragen:

„Der Eindruck einer pasolinihaften Seite Ingeborg Bachmanns lässt sich nicht ganz vertreiben“, schreibt Ina Hartwig einmal. Wirklich? Wessen Fantasien sind dies denn eigentlich? Wo sind wir nun da gelandet, in welchem Fassbinder-Film? Haben wir nicht mit Mohnblüten begonnen? Am Ende kann Ina Hartwig die Frage, wer „die Bachmann“ denn nur wirklich war, nicht beantworten. Aber sie fügt dem in vielen Farben schillernden Mosaik einen schmutzig glänzenden Stein hinzu.“

Quelle: https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article172281980/Ingeborg-Bachmann-und-ihre-vielen-Lieben.html

Mag man an der Hinzufügung des schmutzig glänzenden Steins wenig Neues oder Wertvolles für die Bachmann-Lektüre empfinden, so bringt ein weiterer Stein auf dem Weg, den Hartwig hinzufügt, dagegen doch weiter: Das ist ihre Beschäftigung mit der Freundschaft (die Ina Hartwig gerne zur Beziehung ausdeuten würde) zwischen Ingeborg Bachmann und Henry Kissinger, anhand dessen, so Hartwig, „die Zeitgenossenschaft Ingeborg Bachmanns in ihrer vollen, abenteuerlichen Dimension hervortritt.“

Tatsächlich ist dies ein Gewinn bei der Lektüre dieser bruchstückhaften, zum Teil auch sprunghaft wirkenden Biographie: Der Blick auf die philosophisch und politisch denkende Dichterin, die sich mit Heidegger, Wittgenstein und Simone Weil beschäftigte, die sich wach und dezidiert zu Fragen der Nachkriegs- und Europapolitik, der Wiederaufrüstung und anderen brennenden politischen Themen äußerte.

„Um 1960 war noch völlig offen, was aus Europa werden könnte und werden sollte. Ein geeinigtes Europa, das war nicht nur die Antwort auf die Verheerungen des Nationalsozialismus und des Faschismus, sondern zugleich ein attraktives Zukunftsmodell für die zwischen Ost und West aufgeteilte Welt, deren Grenze mitten durch Deutschland lief. Alle politischen Bewegungen erzeugten erhebliches Misstrauen, und Bachmanns Freund Kissinger gehörte, von der anderen Seite des Atlantiks auf Europa schauend, zu den ganz besonders Misstrauischen. Dass Bachmann sich an seiner nordamerikanischen Perspektive abarbeitet und gleichzeitig versucht, eine europäische für sich zu entwickeln, dürfte der politische Nukleus dieser Überlegungen sein.“

Ina Hartwig resümiert am Ende ihres Buches:

„Ingeborg Bachmann war eine geerdete Persönlichkeit, kompliziert und schwierig zwar, gefährdet ohnehin, aber auch witzig, klug, praktisch, dem Alltag zugewandt und schon früh erstaunlich politisch denkend. Ihre sagenhafte Karriere war befeuert worden von den Aufmerksamkeitsströmen und Geldzuwendungen der transatlantischen Kulturpolitik des Kalten Kriegs, von der sie extrem profitierte als Dichterin, als Intellektuelle und nicht zuletzt als Freundin bedeutender Personen der Zeitgeschichte. Sie war ein Medienprofi und eine hellwache Beobachterin ihrer eigenen Epoche, was ihr bis zur Ermüdung besungenes Diventum am Ende doch sehr relativ aussehen lässt.“

Schade eigentlich, dass die Literaturkritikerin durch ihr beinahe zwanghaftes Entblättern der „dunklen Seite“ Bachmanns eher eine neue Note im Lied von der unglücklichen Diva anschlägt und trotz mancher Ansätze die politische, intellektuelle Dichterin wieder einmal dahinter zurücktritt.

Verlagsinformationen zum Buch:
https://www.fischerverlage.de/buch/wer_war_ingeborg_bachmann/9783100023032

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Helmut Böttiger: Wir sagen uns Dunkles

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Bild von Erika Varga auf Pixabay

Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, daß man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.

Paul Celan, aus „Corona“.

Es kommen härtere Tage.
Die auf Widerruf gestundete Zeit
wird sichtbar am Horizont.

(…)

Sie dich nicht um.
Schnür deinen Schuh.
Jag die Hunde zurück.
Wirf die Fische ins Meer.
Lösch die Lupinen!
Es kommen härtere Tage.

Ingeborg Bachmann, aus „Die gestundete Zeit“.

„Schon in frühen Versuchen, aus der Zeit mit Celan in Wien und danach, fallen Celan-Anklänge auf, das Aufsaugen seines spezifischen Tons, der schwungvollen Daktylen, des verzaubernden Genitivs, der suggestiven Wie-Vergleiche (…). Aber auch in ihrer berühmten Lyrik aus den fünfziger Jahren greift Bachmann Celan` sche Bilder auf und entwickelt sie in ihrem Sinn weiter. Die gestundete Zeit ist ohne Celan nicht zu denken.“

Helmut Böttiger, „Wir sagen uns Dunkles“, Deutsche Verlags-Anstalt, 2017.

Immer schon bewegte mich die geistige Verwandtschaft, die aus den Gedichten Ingeborg Bachmanns und Paul Celans spricht. Auch ohne viel über ihre Verbundenheit zu wissen – eine Verbindung ist spürbar, eine Seelen-Verwandtschaft zu erlesen, die weit über die Tatsache hinausgeht, dass beide zur selben Zeit zu ihren Worten fanden, dass sie, Kinder ihrer Zeit, versuchten, die Lyrik nach der dunklen Zäsur des Nationalsozialismus  neu zu definieren.

Ihre Sprache: Jeweils einzigartig, solitär, aus dem lyrischen Aufbruch der Nachkriegsdichtung herausragend und doch so miteinander verwandt. Inzwischen meint man viel auch über die komplizierte Liebesbeziehung dieser beiden Sprachkünstler zu wissen. Der 2009 beim Suhrkamp Verlag unter dem Titel „Herzzeit“ erschienene Briefwechsel gab eine Ahnung.

Wie sehr das Paar, das die meiste Zeit seit dem Kennenlernen im Wiener Frühling 1948 eigentlich kein Paar im klassischen Sinne war, zeitlebens im Denken, Arbeiten und Fühlen miteinander verbunden war, das arbeitet nun der Schriftsteller und Kritiker Helmut Böttiger in seinem jüngsten Buch kongenial heraus.

„Wir sagen uns Dunkles“: Jene Zeile aus Celans Gedicht „Corona“ wird zum Leitmotiv dieser Liebe, die für beide tragisch endet. Sie wurde auch treffend zum Titel von Böttigers Annäherung an „Die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan“. Der Autor entziffert diesen „Geheimcode der Liebe“ zwischen den beiden Lyrikern nah an den Quellen, den Gedichten, Texten und Briefen der beiden, an Aussagen von Zeitzeugen und Freunden. Niemals nur im Ungefähren psychologisierend und im Dunkeln stochernd, immer zurückhaltend interpretierend und doch so aufschlussreich gerade auch über Ungesagtes, das sich zuweilen nur über eine enge, sich am Biographischen orientierende Gedichtinterpretation erschließt.

„Im Windschatten, tausendfach: du./Du und der Arm,/mit dem ich nackt zu dir hinwuchs,/Verlorne.“

Paul Celan, aus „Weiß und Leicht“.

Das Gedicht entstand nach einer Wiederbegegnung 1957, beide erlebten und lebten – obwohl Celan, in Paris nicht länger „unbehaust“ und schon längst mit Gisèle Lestrange verheiratet war – eine kurze Zeit der „Liebeseuphorie“. Böttiger schreibt:

„Verbannt“ und „Verloren“: Es war die Vision, dass die beiden Dichter, die sich „aus dämonischen Gründen“, wie Ingeborg Bachmann einige Jahre zuvor erkannt hatte, gegenseitig ausschlossen, dass diese Solitäre zusammengedacht werden konnten. Und dazu gehörte auch eine neue Form von Gelassenheit: Es konnte gesprochen und geschwiegen werden, und „einiges ging seiner Wege“, unbehelligt. Das Gedicht Celans hat einen hymnischen Ton, es zeugt von einem Augenblicksglück. Das so unterschiedliche, aber doch auch gemeinsame Schicksal hatte zwei Versprengte zusammengeführt.“

Helmut Böttiger zeichnet die Verbindung der beiden chronologisch nach, von der ersten Begegnung 1948 über das belastete und belastende Wiedersehen bei der Tagung der Gruppe 47 in Niendorf (1952) bis zum Bruch, den Celan, schon gezeichnet von seiner psychischen Erkrankung, herbeiführte. Mit viel Gespür arbeitet Böttiger die Konflikte heraus, die eine erfüllende Liebesbeziehung verhinderten, angefangen von den unterschiedlichen Lebenserfahrungen – Celan, Jude, KZ-Überlebender, ein Flüchtender, Bachmann, aufgewachsen in der sie einengenden Klagenfurter Provinz, Tochter eines Lehrers und NSDAP-Mitglieds – bis hin zu der so unterschiedlichen Aufnahme in der literarischen Welt. Ingeborg Bachmann, in der Gruppe 47 auch als „Fräuleinwunder“ bestaunt, Celan, der nach wie vor Erfahrungen mit einem latenten Antisemitismus in der Literaturwelt machen muss. So sehr die beiden ein intellektueller Austausch, beispielsweise über die Philosophie Heideggers, über die Entwicklung der Literatur und ähnliche Fragen verband, so sehr trennte sie auch der unterschiedliche Erfolg. Die öffentliche Anerkennung der Lyrikerin Bachmann: Paul Celan empfand dies als Verletzung, sah die Konkurrenz, wie Helmut Böttiger herausarbeitet.

Bezüglich der Gruppe 47, der Auseinandersetzungen in der Literatur in jenen Jahren, ihren Tendenzen und Strömungen kann Helmut Böttiger natürlich aus dem Vollen schöpfen: Sein zuletzt veröffentlichtes Buch, „Die Gruppe 47“ warf bereits einen erhellenden Blick auf diese literarischen Netzwerker. Wie sehr sich sowohl Bachmann als auch Celan hier als „Fremde“ fühlen mussten, machen gut platzierte Zitate deutlich.

Dies macht auch deutlich: „Wir sagen uns Dunkles“ will eben nicht den voyeuristischen Blick auf die Liebesleiden zweier traumatisierter Menschen bedienen. Das Buch ordnet diese Beziehung in eine Literatur- und Personengeschichte ein, die, wenn man sich für diese Lyriker und die Literatur jener Jahre interessiert, ein Stück Literaturgeschichte ist. Zudem gibt das Buch Aufschluss gibt darüber, wie entscheidend auch im Literaturbetrieb Anpassungsfähigkeit und ein Stück Aktivismus sind. Beides brachten Bachmann und Celan nicht mit. Helmut Böttiger schreibt flüssig, einfühlsam, klug und gibt nicht zuletzt auch Interpretationshilfen für die hermetische Lyrik dieser beiden poetischen Sterne.

Zugleich macht das Buch auch offensichtlich, dass vor allem Ingeborg Bachmann jene war, die – obwohl auch sie diese Liebe nicht leben konnte – anhaltend um sie, um Paul Celan rang. Vielleicht war sie unter diesen beiden Menschen, beide nicht besonders „lebenstüchtig“, beide immer auch dem Dunklen, der Schwermut und Melancholie zugeneigt, denn doch die Leidensfähigere, wer weiß?

Helmut Böttiger versucht beiden gerecht zu werden:

„Am 27. September 1961 setzte Ingeborg Bachmann noch einmal zu einem langen Brief an, den sie nicht abgeschickt hat. Es ist ein bewegender Brief, der ihre ganze Verzweiflung über eine Beziehung zu ihm ausdrückt, und gleichzeitig spricht er vollkommen klar aus, dass sie mit Celans psychischem Zustand, seiner Erkrankung überfordert war.“

„weil ich mich nicht schützen kann dagegen, weil mein Gefühl für Dich immer zu stark bleibt und mich wehrlos macht.“

Im April 1970 nimmt Paul Celan sich das Leben. Ingeborg Bachmann stirbt drei Jahre später.

Helmut Böttiger beendet sein Buch mit einer Interpretation von Ingeborg Bachmanns Erzählung „Drei Wege zum See“:

Vor allem aber ist Trotta der unerreichbare, ferne Geliebte – „die einzige und große Liebe“. Sie war nur in der Literatur zu verorten. In der Literatur, in der Legende und im Märchen, wo auch die berühmten zwei Königskinder aufzufinden sind, die nicht zueinanderkommen konnte.

Ein Interview mit dem Autor ist hier zu hören:
SWR-Kulturgespräch

Verlagsinformationen zum Buch:
https://www.randomhouse.de/Buch/Wir-sagen-uns-Dunkles/Helmut-Boettiger/DVA-Belletristik/e449945.rhd

Über Ingeborg Bachmann und Max Frisch:
https://saetzeundschaetze.com/2015/07/11/ingeborg-bachmann-drei-herzen-waren-eins-zuviel/

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Ilana Shmueli: Zwischen dem Jetzt und dem Jetzt

es zieht die Hand meiner Schwester die so früh wieder losließ

Ilana Shmueli (1924-2011)

Zwei Frauen, ein Ausgangspunkt: Wie Selma Meerbaum-Eisinger ist auch Ilana Shmueli in Czernowitz geboten, beide 1924. Wie Selma, die 18jährig in einem Arbeitslager starb, kommt Ilana aus einer jüdischen Familie, wächst in dieser rumänischen Stadt auf, denkt, spricht und wächst jedoch in einer deutsch-österreichischen Umfeld heran. Man kann davon ausgehen, dass die beiden sich kannten. Doch während die eine, Selma, früh dichtete und früh starb, kann sich Ilana Shmueli zwar retten, findet aber erst spät zu einer eigenen Sprache: Einer Lyrik, die von Verlusten geprägt ist – dem Verlust einer unbeschwerten Jugend, dem Verlust der Heimat, dem Verlust der Wurzeln, dem Verlust der Heimatsprache. „Ich bin in keiner Sprache wirklich ganz zu Hause“, äußert sie einmal. „Ich begann hebräische Gedichte zu schreiben. Später kam ich wieder aufs Deutsche zurück.“

“In spärlicher Wortlandschaft” – so beginnt ihr Gedicht, das auf Lyrikline nachgelesen und angehört werden kann – hat Ilana Shmueli lange gelebt. Dass die gebürtige Liane Schindler, aus der später Ilana Shmueli wird, doch noch zu dieser Sprache findet, das hat auch mit einer ganz bestimmten Begegnung zu tun: 1965 trifft sie in Paris Paul Celan wieder, inzwischen schon ein berühmter Dichter, für sie ein Jugendfreund, der wie sie in Czernowitz aufgewachsen ist. Die Querverbindungen sind vielfach – Paul Celan ist wiederum mit Selma Meerbaum-Eisinger verwandt. Und erwähnt werden muss auch Rose Ausländer, die ebenfalls aus der Bukowina kam.

Als die Deutschen 1941 Czernowitz besetzen, finden sich diese jungen Menschen im Ghetto zusammen – Gedichte und Musik bilden die Gegenwelt zur grausamen Realität. Sie erleben mit, wie andere deportiert und in die Zwangsarbeit verschleppt werden, sie erleiden täglich Demütigungen, Verfolgung und Brutalität. Sie richten sich gegenseitig auf durch die Kultur, die Literatur. Die Flucht vor der Realität gewähren Gedichte – diese Stimmung nimmt Ilana Shmueli in das Exil mit, bewahrt sie ein Leben lang auf, bis sie endlich wieder zu ihrer eigenen Sprache findet. Ihre Gedichte sind daher auch Ausdruck der Exilerfahrung, der Zerrissenheit zwischen zwei Welten, das Reflektieren auf eine unwiederbringliche Vergangenheit. Anrührend des Gedicht “Neige dich zu deinen Toten”, das auch die Schuldgefühle der Überlebenden, die Zweifel artikuliert:

Ich hab Leben gewählt/mit dem ganzen Ballast.

Ilana Shmueli gelingt mit ihren Eltern 1944 die Flucht nach Palästina. Hier baut sie sich ein neues Leben auf, studiert Musikerziehung und Sozialpädagogik, heiratet den Musikwissenschaftler Herzl Shmueli, arbeitet als Sozialpädagogin in Tel Aviv. Nach außen hin erscheint dies wie ein Leben, das nach einem Bruch seinen erneuten Lauf nimmt. Doch dann die Wiederbegegnung mit Paul Celan 1965 in Paris, 1969 besucht er sie in Israel, es ist seine einzige Reise dorthin. Auch für Celan wird dieser Besuch zu einer Art Heimat- und Sprachsuche, er erlebt, wie seine ureigene deutsche Dichtersprache ihn zum Außenseiter macht – während Ilana Shmueli dabei ist, ihre Muttersprache zu verlieren. Die Exilerfahrung an unterschiedlichen Orten und die gemeinsame Verortung in Czernowitz verbindet sie – Ilana Shmueli wird Paul Celans letzte große Liebesbeziehung.

Für sie führt diese Lebens- und Liebeserfahrung jedoch auch sprachlich wieder in die Heimat zurück: Sie übersetzt später Paul Celans Gedichte in das Hebräische und beginnt dadurch, selber zu schreiben. Fast schon wortkarg anmutende Gedichte, die um diese Themenlandschaften des Exils, des Verlustes, der Konfrontation mit dem Tod, des Entkommens, der Flucht, des Weiterlebens, das Glück und Bürde zugleich ist, kreisen.

Im Jahr 2000 erscheint ihr Buch über Paul Celan „Sag, dass Jerusalem ist“. Der bewegende Briefwechsel, der bis zum Freitod des Dichters 1970 andauert, wird 2004 beim Suhrkamp Verlag veröffentlicht. Ilana Shmueli arbeitet daran als Herausgeberin mit. In der Zwischenzeit sind erste Gedichte von ihr erschienen,  weitere Veröffentlichungen folgen (Rimbaud Verlag).

2009 erhält Ilana Shmueli den Theodor-Kramer-Preis für Schreiben im Widerstand und im Exil. In der Begründung heißt es:

“Spät und tief sind die Gedichte Ilana Shmuelis auf uns gekommen, wie aus einer anderen Zeit und einem anderen Raum. Ortlosigkeit und Wortlosigkeit, die Erfahrung, unbeheimatet und sprachlos zu sein, ist eine der Wurzeln, aus denen ihre Dichtung hervorwächst. Und dennoch verbinden sich ihre Verse in äußerster Verknappung des Ausdrucks mit einem reichen Strom von Vorstellungen. Es ist eine große Lebendigkeit, die hier von sich zeugt, die gegen Enge, Kälte, Vorurteil anrennt. Shmuelis Dichtung ist “Zwischenruf, Einspruch, Widerwort, Aufschrei” (Matthias Fallenstein). Sie bezieht sich vielfältig auf die Poesie des Freundes Paul Celan und widersetzt sich ihr zugleich. In ihren Erinnerungen an eine Jugend im Czernowitz der Zwischenkriegszeit und ihrem Briefwechsel mit Celan öffnet Shmueli zugleich den Blick auf den bedeutenden kulturellen Hintergrund ihres Schreibens im Exil.”

Sie stirbt am 11. November 2011 in Jerusalem.

Reden von Toten:/der Wortbruch am Unmitteilbaren/mit unkluger Zunge

Ihre Bücher erschienen im Rimbaud Verlag.
Verlagsinformationen zum Gedichtband “Zwischen dem Jetzt und dem Jetzt”:
https://www.rimbaud.de/shmueli.html#zwischenjetzt

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Selma Meerbaum-Eisinger: Blütenlese

Selma

Bild: (c) Michael Flötotto

Poem (Auszug)

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein.
Nein…

Selma Meerbaum-Eisinger (1924-1942).

Das Lachen, das Lieben, das Kämpfen, das Hassen – für all dieses blieb Selma Meerbaum-Eisinger nur eine kurze Lebensspanne vergönnt. Gerade einmal 18 Jahre alt durfte diese junge Frau werden, die inzwischen zu den großen Dichtern aus Czernowitz (heute in der Ukraine gelegen) gezählt wird: Wie Paul Celan und Rose Ausländer stammt sie aus dieser multikulturellen, vielsprachigen osteuropäischen, vor allem jüdisch geprägten Gemeinde, die einst Hauptstadt des Kronlandes Bukowina der österreichisch-ungarischen Monarchie war. Anders als Paul Celan, mit dem sie verwandt war, und Rose Ausländer überlebt Selma Meerbaum-Eisinger den Wahnsinn des Zweiten Weltkrieges und der nationalsozialistischen Rassenideologie jedoch nicht. Nach dem Einmarsch rumänischer und deutscher Truppen im Juli 1941 wurde Selmas Familie in das Ghetto von Czernowitz gezwungen und bald darauf ins Arbeitslager Michailovka nach Transnistrien verschleppt. Dort stirbt Selma Meerbaum-Eisinger am 16. Dezember 1942 entkräftet am Flecktyphus. Was von ihr bleibt, sind 58 Gedichte.

Ja (1941)

Du bist so weit.
So weit wie ein Stern, den ich zu fassen geglaubt.
Und doch bist du nah –
nur ein wenig verstaubt
wie vergangene Zeit.
Ja.

Du bist so groß.
So groß wie der Schatten von jenem Baum.
Und doch bist du da –
nur blaß wie ein Traum
in meinem Schoß.
Ja.

Bis 1980 dauerte es, bis dieses literarische Vermächtnis in Deutschland veröffentlicht wird. Der deutsche Literaturhistoriker Jürgen Serke gab 1980 diese Gedichte unter dem Titel “Ich bin in Sehnsucht eingehüllt. Gedichte eines jüdischen Mädchens an seinen Freund” im renommierten Verlag Hoffman und Campe, Hamburg, mit seinem Essay “Geschichte einer Entdeckung” heraus. Zwei von Selmas Freundinnen, die inzwischen in Israel lebten, hatten die Gedichte aufbewahrt. Hersch Segal, einst Klassenlehrer des Mädchens im jüdischen Lyzeum von Czernowitz, brachte die Poeme schließlich 1976 in einer kleinen Auflage im Privatdruck heraus. Diese „Blütenlese“ – so hatte Selma ihr blaues Album, in das sie die Zeilen schrieb, genannt – gelangte schließlich über die Familie Paul Celans an Hilde Domin. Und die große jüdische Lyrikerin sorgte letztlich dafür, dass Serke und andere von diesen Gedichten erfahren.

Fast vier Jahrzehnte benötigte es, bis Selma Meerbaum-Eisinger dem Vergessen entrissen wurde. Unbefangen, unbeeindruckt lesen kann man ihre Zeilen heute nicht – nicht, wenn man weiß, welches Schicksal sie erwartete. Zunächst sind die Gedichte der jungen Frau Natur- und Liebesgedichte – gewidmet ihrem ein Jahr älteren Freund Lejser Fichman, den sie in der zionistischen Jugendbewegung kennengerlernt hatte. Selma, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, träumt mit ihm von einer besseren Welt. Die Auswanderung nach Palästina ist ein Traum, ein Ziel. Doch in allen Zeilen liegt schon diese Ahnung inne, dass das Leben für diese beiden jungen Menschen etwas anderes bereithält.

Lied (1939)

Heute tatest du mir weh.
Rings um uns war Schweigen nur,
Schweigen nur und Schnee.
Himmel war, nicht wie Azur,
blau jedoch und voll mit Sternen.
Windeslied erklang aus fernsten Fernen.

Heute warst du mir ein Schmerz.
Häuser waren da, so weiß verschneit,
alle in des Winters Kleid.
Ein Akkord in tiefer Terz
war in unsrer Schritte Klang.
Bahnsirenen heulten lang…

Heute war es wunderschön.
Schön wie tiefverschneite Höh’n,
eingetaucht im Abendglutenring.

Heute tatest du mir weh.
Heute sagtest du mir: geh!
Und ich – ging.

Czernowitz, einst noch rumänisch, wird an die Sowjetunion abgetreten. Die Hoffnung, dies sei für die jüdische Bevölkerung die Rettung, trügt – bis 1941 werden Tausende nach Sibirien verschleppt. 1941 wird Czernowitz erneut von den Rumänen besetzt – und die Verfolgung der Juden nimmt ihren ganzen grausamen Verlauf: Verlust der Bürgerrechte, Einführung des gelben Judensterns, Zwangsarbeit, Ghettoisierung, Deportation. Lejser Fichman stirbt auf der Flucht, Selma, ihre Mutter und der Stiefvater verlieren im Arbeitslager ihr Leben.

Die Gedichte zeugen von einem hellwachen, aufgeweckten, neugierigen und lebensfrohen Geist, sie zeigen die Handschrift eines Mädchens, das zwar noch jung, aber schon von ungeheurer Sensibilität war. Ihr Einfühlungsvermögen spricht für eine große Reife. Manches wirkt vielleicht sprachlich noch ein wenig aus dem Takt, ein wenig zu schwärmerisch. Doch selbst im Moment des kritischen Lesens spürt man dies große Talent. Und die Frage steht im Raum: „Was hätte aus ihr noch werden können?“

Hilde Domin schrieb über Selma Meerbaum-Eisinger und ihre Begabung:
„Trotz des >Sonderschicksals< ist dies ein Werk, das deutlich ins Gut der deutschen Poesie gehört, nicht der spezifisch jüdischen. Es ist eine Lyrik, die man weinend vor Aufregung liest: so rein, so schön, so hell und so bedroht.“

Poem (1941)

Die Bäume sind von weichem Lichte übergossen,
im Winde zitternd glitzert jedes Blatt.
Der Himmel, seidig-blau und glatt,
ist wie ein Tropfen Tau vom Morgenwind vergossen.
Die Tannen sind in sanfte Röte eingeschlossen
und beugen sich vor seiner Majestät, dem Wind.
Hinter den Pappeln blickt der Mond aufs Kind,
das ihm den Gruß schon zugelächelt hat.

Im Winde sind die Büsche wunderbar:
bald sind sie Silber und bald leuchtend grün
und bald wie Mondschein auf lichtblondem Haar
und dann, als würden sie aufs neue blühn.

Ich möchte leben.
Schau, das Leben ist so bunt.
Es sind so viele schöne Bälle drin.
Und viele Lippen warten, lachen, glühn
und tuen ihre Freude kund.
Sieh nur die Straße, wie sie steigt:
so breit und hell, als warte sie auf mich.
Und ferne, irgendwo, da schluchzt und geigt
die Sehnsucht, die sich zieht durch mich und dich.
Der Wind rauscht rufend durch den Wald,
er sagt mir, daß das Leben singt.
Die Luft ist leise, zart und kalt,
die ferne Pappel winkt und winkt.

Ich möchte leben.
Ich möchte lachen und Lasten heben
und möchte kämpfen und lieben und hassen
und möchte den Himmel mit Händen fassen
und möchte frei sein und atmen und schrein.
Ich will nicht sterben. Nein!
Nein.
Das Leben ist rot,
Das Leben ist mein.
Mein und dein.
Mein.

Warum brüllen die Kanonen?
Warum stirbt das Leben
für glitzernde Kronen?

Dort ist der Mond.
Er ist da.
Nah.
Ganz nah.
Ich muß warten.
Worauf?
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie und nie.
Ich will leben.
Bruder, du auch.
Atemhauch
geht von meinem und deinem Mund.
Das Leben ist bunt.
Du willst mich töten.
Weshalb?
Aus tausend Flöten
weint Wald.

Der Mond ist lichtes Silber im Blau.
Die Pappeln sind grau.
Und Wind braust mich an.
Die Straße ist hell.
Dann…
Sie kommen dann
und würgen mich.
Mich und dich
tot.
Das Leben ist rot,
braust und lacht.
Über Nacht
bin ich
tot.

Ein Schatten von einem Baum
geistert über den Mond.
Man sieht ihn kaum.
Ein Baum.
Ein
Baum.
Ein Leben
kann Schatten werfen
über den
Mond.
Ein
Leben.
Hauf um Hauf
sterben sie.
Stehn nie auf.
Nie
und
nie.

 

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Literarische Orte: Ossip Mandelstam – Wort und Schicksal in Heidelberg.

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Bild von skeeze auf Pixabay

War niemands Zeitgenosse, wars in keiner Weise,
solch Ehre ist zu hoch für mich.
Ein Greul, wer da so heißt, wie sie mich heißen,
das war ein andrer, war nicht ich.

Ossip Mandelstam in der Übertragung von Paul Celan (1959, Quelle: „Gedichte“, Fischer Taschenbuch Verlag, Ausgabe 1983).

Kein Zeitgenosse wollte er sein – und wurde zu einem Zeitlosen der Poesie: Ossip Mandelstam, 1891 – 1938, verstorben in einem Gulag. Die Sprache dieses „modernen Orpheus“ (Joseph Brodsky) sie trifft uns auch heute noch mitten ins Herz, packt den Verstand – einer, der den „ganzen“ Menschen meint.

„Auch unsere Zeit darf Mandelstams Poesie in Anspruch nehmen, deren lyrische Intensität und Klangmagie, die Kraft unerhörter Bilder, das weite Netz der kulturellen Assoziationen, die Tiefe eines Gedächtnisses ebenso wie eine bestürzende Widerständigkeit. Diese Poesie spricht von der Zerbrechlichkeit des Menschen in einer Zeit größter Gefährdung.“

Ralph Dutli, Herausgeber des Ossip-Mandelstam-Lesebuch „Bahnhofskonzert“, Fischer Taschenbuch, 2015.

Celan und Dutli, die beiden Übersetzer des russisch-jüdischen Dichters, auch sie sind in der Ausstellung „Wort und Schicksal“ vertreten, die am 14. Mai in Heidelberg eröffnet wurde. Für Raum und Zeit gibt es zweierlei Anlass: Den 125jährigen Geburtstag des Poeten, an den es zu erinnern gilt und die Bedeutung Heidelbergs für seine Dichtung – hier immatrikulierte sich Mandelstam 1909 für ein Studium der Romanistik und Kunstgeschichte, er blieb bis zum März 1910. In seiner russischen Heimat bestand zu jener Zeit eine Dreiprozentquote für jüdische Studenten – schließlich, 1911, lässt Mandelstam sich christlich taufen, um denn doch an der Petersburger Universität studieren zu können.

Gleichwohl: Diesen Umständen ist es zu „verdanken“, dass die ersten veröffentlichten Gedichte Mandelstams mit in Heidelberg entstanden – „Vom feuchten Stein herunterschauend …“, „Nur sprecht mir nicht von Ewigkeit…“, sie waren Briefen an seinen Freund, den russischen Maler und Dichter Maximilian Woloschin, beigelegt. Kopien des Autographs (das Original wird im Institut für russische Literatur, dem Puschkin-Haus in Moskau, aufbewahrt) sind in der Ausstellung ebenso zu sehen wie das „Studien- und Sittenzeugnis“ der Universität Heidelberg und einige wenige persönliche Gegenstände – ein Reisewecker, eine Dante-Ausgabe aus dem Besitz der Mandelstam-Witwe Nadeschda, ein Sofa, auf dem er ab und an nächtigte.  Wie wenig von einem Leben bliebe – vor allem von einen unter diesem Umständen gelebten Leben, den Umständen der eigenen Rastlosigkeit, des Bewusstseins, ein Reisender zu sein, aber auch den Umständen der Verfolgung, verfolgt, weil Poet, Intellektueller, Seher, Jude, und unter den Umständen der Armut… Wie wenig also von einem Leben bliebe, wäre da nicht das Wort des Dichters, die Worte, die uns bis heute erreichen, obwohl sie teils von der Witwe nur durch Auswendiglernen gerettet werden konnten:

„Wie immer die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts aussehen werden – das Wort der Poesie wird noch lange nicht überflüssig sein“, schreibt dazu Dutli und zitiert Mandelstam: „Das Lied, das selbstlos ist, ist selbst sein Lob, und strahlt – Den Feinden: Teer, den Freunden: Trost, Erkennungsmal.“

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Bild: Birgit Böllinger

Wie man aus wenig viel machen kann – das verdeutlicht die Mandelstam-Ausstellung auf das Feinste. Sie zeichnet mit Originaldokumenten und Kopien (beispielsweise der KGB-Akten) das kurze Leben dieses Dichters nach, er selbst kommt mit einer der wenigen erhaltenen Tonaufnahmen zu Wort, die einzige Filmaufnahme der alten Nadeschda lassen deren ärmliche Lebensumstände in Moskau erahnen, sprechen aber ebenso von einer anhaltenden innigen Verbundenheit zu ihrem früh verstorbenen Mann.

Die Ausstellung „Wort und Schicksal“ ist eine Kooperation des Staatlichen Literaturmuseums Moskau und der Mandelstam-Gesellschaft Moskau in Kooperation mit den UNESCO Cities für Literature Heidelberg und Granada. Für Heidelberg ist es das internationale Auftaktprojekt als UNESCO-Literaturstadt, die Stadt ist seit Dezember 2014 Mitglied im „UNESCO Creative Cities Netzwerk“.  „Wort und Schicksal“ ist in der Stadt mit der ältesten deutschen Universität noch bis zum 17. Juli zu sehen, dann wandert sie nach Granada. Mehr zur Ausstellung unter diesem Link hier.
Der Katalog zur Ausstellung erscheint im Heidelberger Verlag „Das Wunderhorn“.

Auch der Ausstellungsort in Heidelberg ist geschichtsträchtig – sie ist in der „Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte“ zu sehen. Ebert, das erste demokratische gewählte Staatsoberhaupt in Deutschland, wurde am 4. Februar 1871 in Heidelberg geboren. Der Sohn eines Schneidermeisters war das vierte von sechs Kindern. Die Familie lebte in sehr bescheidenen Verhältnissen – einen eigenen Eindruck davon kann man sich im Geburtshaus machen, das öffentlich zugänglich ist. Angeschlossen sind den Wohnräumen eine Ausstellung zu Leben und Werk und eine umfangreiche Bibliothek: Seite der Ebert-Gedenkstätte und Seite der Stadt Heidelberg.

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Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Aharon Appelfeld: Geschichte eines Lebens

„Damals baute das Vergessen sich seine tiefen Keller, und die nahmen wir später mit nach Israel. (…)
Dieses Buch ist keine Zusammenfassung, sondern eher der – wenn man so will – verzweifelte Versuch, die verschiedenen Teile meines Lebens wieder mit einer Wurzel zu verbinden, aus der sie erwachsen sind.“

Aharon Appelfeld, „Geschichte eines Lebens“, 1999

„Für mich endete diese Reise als etwas, das eigentlich niemals in der Freiheit ankam. Ich blieb in jener Metropole, ein Gefangener jener Metropole, dieses unabänderlichen großen Gesetzes, das keinen Platz ließ für eine Rettung, für eine Verletzung dieser fürchterlichen „Gerechtigkeit“, der zufolge Auschwitz immer Auschwitz bleiben muss. So blieb mir das unabänderliche Gesetz erhalten, und ich blieb in ihm gefangen (…).“

Otto Dov Kulka, „Landschaften der Metropole des Todes“, 2013

In einer Zeit, in der es möglich ist, den Überdruss an der Erinnerungsarbeit an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte und des jüdischen Volkes öffentlich zu formulieren, in einer Zeit, in der Gedenken mancherorts zur bloßen Form und Formel erstarrt, in dieser Zeit ringen die Opfer dennoch immer noch um ihre Sprache, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihre Würde.

Mag mancher sich von der scheinbaren „Monotonie des Grauens“ abwenden, uninteressiert oder überdrüssig, so möchte man jenen die Zeugnisse derer geben, die die Hölle der Vernichtung überlebten: Für das Individuum gibt es keine Monotonie im Grauen, die Grausamkeit führte stets zur individuellen Zer- oder Verstörung. Zu den literarischen Zeugnissen trugen Imre Kertész, Jorge Semprun, Louis Begley (Besprechung hier: “Lügen in Zeiten des Krieges”), Primo Levi und viele andere bei. Doch Schreiben ist hier mehr als das Wenden an die Außenwelt, als öffentliche Erinnerungsarbeit– es ist vor allem Schreiben, um die Autonomie über das eigene Leben nach der Versklavung wiederzuerlangen.

Eindrucksvoll deutlich machen dies die Bücher zweier Autoren, die bereits als Kinder in die Maschinerie des Todes gerieten: Aharon Appelfeld und Otto Dov Kulka. Beide konnten entrinnen – um einen hohen Preis.

Elternlos, heimatlos, sprachlos.

Otto Dov Kulka musste fast 80 Jahre alt werden, bis er die Geschichte einer Kindheit, die in Theresienstadt zu Ende ging, in Sprache festhalten konnte. Seine nun erschienenen „Landschaften der Metropole des Todes – Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und Vorstellungskraft“ sind ein eindrückliches Ringen – das Ringen um die Sprache, die das Unsagbare erfassen kann, das Ringen um die eigene Geschichte. „Auf der Suche nach Geschichte und Gedächtnis“ ist ein Kapitel überschrieben: Zentral in seinem Lebenswerk sei die historische, wissenschaftliche Forschung zu Fragen des Holocaust gewesen, ein Mittel, biografische Elemente auszuklammern, die Distanz zu wahren. Aber es gelingt nicht, die Vergangenheit unter Verschluss zu halten, Auszüge aus den Tagebüchern und festgehaltene Träume verdeutlichen dies.

Die Erinnerung bricht sich Bahn – und dabei sind nicht prägend Szenen haltloser Gewalt. Ergreifender ist das, was Kulka aus seinem Gedächtnis als die Erfahrungen eines Kindes herausholt: Der blaue Himmel mit Silberstreifen über dem Todeslager, „die große Stummheit, die entsetzliche Stille“, die über Auschwitz während einer Hinrichtung lastet, der Kinderchor, der unweit der Krematorien die „Ode an die Freude“ einstudiert:

„Wenn ich die Welt von Auschwitz und ihre Realität betrachte – als Junge von zehn Jahren habe ich diese scharfe, brutale, zerstörerische Dissonanz und Pein wohl nicht gespürt, die jeder erwachsene Häftling erlebte, der aus seiner Welt der Kultur mit ihren Normen der Grausamkeit und des Todes geworfen wurde. Diese Konfrontation, die jeder Häftling, der am Leben blieb, durchlebte und die fast immer einen Teil des Schocks ausmachte, der ihn oft schon nach kurzer Zeit niederstreckte – sie existierte für mich nicht. Denn das war die erste Welt und die erste Lebensordnung, die ich kennenlernte: die Ordnung der Selektionen und der Tod als einzige Gewissheit, die die Welt regiert.“

Das Gesetz des „Großen Todes“ als kindliche Urerfahrung – dem zu entkommen, „damit zu ringen, mit der hoffnungslosen Aussichtslosigkeit, und sich dennoch verzweifelt zu bemühen, ihm zu entkommen, wie ich es dort versucht habe, war eine prägende Erfahrung.“ Und dem zu entkommen, einen Abschluss zu finden, dafür scheint auch Kulkas Buch geschrieben worden zu sein.

Aharon Appelfeld klammert die Lagererfahrung in seiner „Geschichte eines Lebens“ dagegen bewusst aus. Ein Entkommen und ein Wiederfinden der Kindheit davor, die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, das Wiederfinden der Sprache als Heimat – das sind die Themen,  mittels derer die beiden Autoren nebst ihrer vergleichbaren Biographie, sich intensiv berühren. Auch Appelfeld, der sich als Literat jahrzehntelang mit der Shoah auseinandersetzte, braucht lange, um zu seiner eigenen Geschichte zu gelangen.

„Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind bereits über fünfzig Jahre vergangen. Vieles habe ich vergessen, vor allem Orte, Daten und die Namen von Menschen, und dennoch spüre ich diese Zeit mit meinem ganzen Körper. Immer wenn es regnet, wenn es kalt wird oder stürmt, kehre ich ins Ghetto zurück, ins Lager oder in die Wälder, in denen ich so lange Zeit verbracht habe. Die Erinnerung hat im Körper anscheinend lange Wurzeln. Manchmal genügt der Geruch von gammeligen Stroh oder ein Vogelschrei, um mich weit weg und tief in mich hineinzuschleudern.“

Appelfeld erzählt in nüchternem, aber deshalb auch umso anrührenderem Ton die Geschichte eines Schriftstellers, der sein Leben lang versucht, eine Sprache zu finden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Sprache der geliebten Mutter ist die Sprache ihrer Mörder. Das Jiddische ist die Sprache der Großeltern, das in Israel als rückständig abgelehnt wird. Ruthenisch, rumänisch, deutsch, jiddisch – die Vielsprachigkeit seiner Heimat, sie droht verloren zu gehen, während das Hebräische ihm nicht zuwächst. Der Verlust der Worte, das Ringen um sie – das ist auch das Ringen um die innere und äußere Heimat. Das Buch endet bezeichnenderweise mit der Auflösung des Clubs „Das neue Leben“, der 1950 von Überlebenden aus Galizien und Bukowina in Jerusalem gegründet worden war. In der neuen Zeit hat das alte Leben keinen Platz mehr – ein melancholischer Fingerzeig auf den Niedergang einer ganz eigenen Kultur. Appelfeld stammte aus Czernowitz – jener rumänischen Stadt, in der das geistige Leben, vor allem aber die jüdische Kultur ein blühendes Leben erlangte. Paul Celan, Rose Ausländer, Klara Blum – nur einige der Schriftsteller, die mit dieser Stadt verbunden sind.

Die Wörter können Vergangenes weder zurückholen noch ungeschehen machen. Appelfeld bleibt skeptisch, was die der Sprache zugeschriebene Heilkraft betrifft. Aber – auch geprägt durch die  Begegnung mit Samuel Agnon (1888-1970) – wird sie nicht nur zum Mittel, um das Stammesgedächtnis zu erhalten, eine für ihn denkbare Definition des Schriftstellers. Sondern auch, um das Schweigen zu überwinden:

„Mein Schreiben begann mit einem starken Hinken. Die Erlebnisse des Krieges lasteten auf mir, und ich wollte sie weiter überwinden. Über meinem bisherigen Leben wollte ich ein neues erbauen. Es brauchte Jahre, bis ich zu mir zurückkehrte, und als es soweit war, hatte ich noch einen langen Weg vor mir. Wie gibt man diesem brennenden Inhalt Form? Wo anfangen? Wie die Teile zusammenfügen? Und mit welchen Worten?“.

Otto Dov Kulka und Aharon Appelfeld: Es ist gut, dass sie ihre Sprache wieder gefunden haben.

Otto Dov Kulka, geb. 1933 in der Tschechoslowakei, kommt mit seiner Mutter zunächst nach Theresienstadt, 1943 in das sogenannte Familienlager nach Auschwitz-Birkenau. Dort trifft er wieder mit seinem Vater Erich zusammen. Die beiden Männer überleben. Seit 1949 lebt Kulka in Israel und widmet sich der Geschichtsforschung. Er ist emeritierter Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er wird am 18. November 2013 mit dem Geschwister-Scholl-Preis in München ausgezeichnet.

„Landschaften der Metropole des Todes“, Deutsche Verlagsanstalt DVA, 192 Seiten, 19,99 Euro, ISBN 978-3-421-04593-5

Aharon Appelfeld, geb. 1932 bei Czernowitz (heute Ukraine), verliert beide Eltern im Holocaust. Ihm gelingt die Flucht aus einem Lager, er schlägt sich auf Bauernhöfen und im Wald durch. Seit 1946 lebt er in Israel. Er ist emeritierter Professor für hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität in Beerscheba.

„Geschichte eines Lebens“, rororo-Taschenbuch, 208 Seiten, 8,99 Euro, ISBN 978-3-499-24247-2

Aufmerksam machen möchte ich noch im Zusammenhang mit der Heimatstadt von Aharon Appelfeld auf das Projekt „Zeitzug“: http://www.zeitzug.com

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Rose Ausländer: Ich spiele noch

Manche haben sich gerettet

Aus der Nacht
krochen Hände
ziegelrot vom Blut
der Ermordeten

(Aus „Schallendes Schweigen“)

Rose Ausländer (1901-1988)

Die Nächte der Rose Ausländer zwischen 1941 und 1944, ich mag mir sie nicht vorstellen. 1941 wird die jüdische Bevölkerung in Czernowitz von den Nationalsozialsten und deren rumänischen Schergen in einem Ghetto zusammengetrieben. Dem Transport in ein Arbeitslager und der Zwangsarbeit, die meist im Tod endete – wie bei der jungen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger – entkommt Rose Ausländer, weil sie im Ghetto in Kellerverstecken untertaucht. Unter den einstmals 60.000 Juden in Czernowitz ist sie eine der wenigen Überlebenden.

Wir feiern das Fest der Abwesenden
mit verschollenen Freunden

(Aus „Das Fest)

Hunger, Arbeit, Todesnot – der Gruppe um Rose Ausländer und Paul Antschel, der sich später Paul Celan nennt, helfen Gedichte, um diese Zeit zu überstehen. Rose Ausländer, die Älteste unter ihnen, hat da bereits veröffentlicht, Lebens- und Welterfahrung gesammelt. „Schreiben war Leben. Überleben!“ notiert sie später.

Sie wird 1901 als Rosalie Beatrice Scherzer im damals noch österreichischen Czernowitz geboren. Schon als Schülerin kommt sie mit ihren Eltern nach Budapest und Wien, kehrt aber immer wieder in ihre multikulturelle, geistig blühende Heimatstadt zurück, wo sie 1919 ein Gaststudium der Literatur und Philosophie an der Universität beginnt.

Die frühen Gedichte beschreiben eine einzigartige Geistesatmosphäre in dieser Stadt, die heute in der immer noch gebeutelten Ukraine liegt:

Der Spiegelkarpfen
in Pfeffer versulzt
schwieg in fünf Sprachen

(Aus „Cernowitz“)

„Warum schreibe ich? Vielleicht weil ich in Czernowitz zur Welt kam, weil die Welt in Czernowitz zu mir kam. Jene besondere Landschaft. Die besonderen Menschen. Märchen und Mythen lagen in der Luft, man atmete sie ein“, so äußert sie sich später über ihre geistige Heimat. Sie erinnerte sich an die jiddischen Dichter Elieser Steinberg und Itzig Manger, die deutschsprachigen Autoren Paul Celan und Alfred Margul-Sperber, der sie entdeckte. Und an eine einmalige Kulturlandschaft, eine blühende, multikulturelle Metropole, die zerschlagen wurde im Wahn des Krieges und des nationalsozialistischen Terrors.

Aus „In jenen Jahren“:

In jenen Jahren
war die Zeit gefroren:
Eis so weit die Seele reichte.

Bereits mit 17 schreibt Rose Ausländer Verse, Ideen in ihr Tagebuch, steht fest, „dass Lyrik mein Lebenselement war“. Doch zunächst kommen die Erfahrungen, dann die Literatur. 1920, nach dem Tod des Vaters wandert sie gemeinsam mit dem Studienkollegen Ignaz Ausländer in die USA aus. Dort arbeitet sie als Redakteurin und veröffentlicht bereits ihre ersten Gedichte. 1926 erhält sie die amerikanische Staatsbürgerschaft – die sie 1937 wegen ihrer langen Abwesenheit von den USA wieder verliert. Ob die Staatsbürgerschaft sie vor dem Ghetto bewahrt hätte? Und schließlich die Frage, die einen seltsamen, beinahe zynischen Unterton hat – was hätte dies für ihre Lyrik später bedeutet, ein Betrachten des Wahnsinns aus der Ferne?

„Wir treffen uns
hinter der Heimat
im Haus mit
gebrochenem Flügel“

(Aus: „Entfremdung“).

„Alle Dichter schöpfen in ihren Texten aus ihrem Erleben. Eine so enge Verknüpfung von Leben und Werk wie bei Rose Ausländer ist aber ungewöhnlich, selten, vielleicht einmalig“, meint Helmut Braun, Herausgeber ihrer Gedichte beim S. Fischer Verlag. Braun macht unter den fast 3.000 Gedichten, die Rose Ausländer in ihrem langen Leben schrieb, mehrere Hauptthemen, Kapitel, aus – Werke über die Kindheit und Jugend in der Bukowina, die Gedichte über das Judentum, über die Shoa-Erfahrung und das Exil, Texte über das Schreiben und die Heimat Sprache sowie Gedichte über wesentliche, existentielle Lebenserfahrungen – die Liebe, das Älterwerden, den Tod. Alles zusammengefasst an Lebenserfahrung findet sich in dem Gedicht „Ich vergesse nicht“, eine Aufzählung dessen, was prägte: Elternhaus, Mutterstimme, die Bukowina, New York, der erste Kuss, das Darben im Keller, das bittersüße Amerika.

Wir suchen
im Hudson eine bleibende Fabel
die Gesetzestafel im Steinreich

(Aus: „Manhattan Am Sonntag“)

Die Liebe zur Mutter, die auch Heimat ist, führt die junge Frau zurück nach Europa, bis 1941 veröffentlicht Rose Ausländer weiter, lehrt Englisch, arbeitet als Übersetzerin, reist nach Paris, New York, wird geschieden, verliebt und trennt sich erneut – das Leben einer jungen, emanzipierten Frau, so erscheint es. Der Krieg, die Rassenverfolgung setzt dem allem ein Ende.

Nach der Shoa-Erfahrung ist auch ihr Schreiben nicht mehr dasselbe. Rose Ausländer überlebt, kehrt zurück in die USA – und verfasst ihre Gedichte bis 1956 ausschließlich in englischer Sprache. Es scheint, als habe sie neben der geographischen Heimat und der Mutter, die 1947 verstorben ist, auch die Heimat der deutschen Sprache verloren. „Warum schreibe ich seit 1956 wieder deutsch? Mysteriös, wie sie erschienen war, verschwand die englische Muse. Kein äußerer Anlass bewirkte die Rückkehr zur Muttersprache. Geheimnis des Unterbewusstseins.“

Mein Vaterland
ist tot
sie haben es begraben
im Feuer

heißt es in dem Gedicht „Mutterland“. Dazu wird nun: Das Wort.

Die Annäherung an das Land der Täter kann nur wieder schrittweise erfolgen. 1957 unternimmt sie eine erste Europareise, Rumänien und Deutschland meidet sie. 1964 übersiedelt sie nach Wien, ein Jahr später dann in die Bundesrepublik. Ab 1972 lebt sie im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf, dem Elternheim der jüdischen Gemeinde, wo sie nach langer Bettlägerigkeit am 3. Januar 1988 stirbt.

Der Dichter
fügt wieder zusammen
das zerstückelte Lied

Trotz ihrer angegriffenen Gesundheit im Alter zählen ihre letzten Jahre mit zu den produktivsten – das Schreiben ist ihr ein Bedürfnis, „ein Trieb“. Helmut Braun, der ihren literarischen Nachlass verwaltet und Rose Ausländer ab den 70er Jahren einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht hat, war fasziniert von der ungeheuren Kreativität und Kraft dieser Dichterin, die auch angesichts des Sterbens dem Tod noch Worte abtrotzte. „Rose Ausländer lebte in der verzweifelten Hoffnung, das Schreiben noch möglich sei“, so Braun, „sie leitete ihre gesamte Identität aus ihrem Schreiben her.“

„Warum schreibe ich?
Weil ich, meine Identität suchend, mit mir deutlicher spreche auf dem wortlosen Bogen.“


Die Werkausgabe erscheint bei den S. Fischer Verlagen: http://www.fischerverlage.de/autor/rose_auslaender/183

Weitere Informationen zur Dichterin bietet die Rose Ausländer-Gesellschaft

Bild zum Download: Weiße Rosen


 

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