THERES ESSMANN: Federico Temperini

Theres Essmann gibt mit dieser Novelle ein Debüt, das von einem musikalischen Gespür für Sprache und Rhythmus zeugt. „Federico Temperini“ entfaltet auf knappen Raum, gekonnt verdichtet, das Leben zweier Männer, erzählt von gescheiterten Lebensentwürfen und vom Neubeginn sowie von einer ungewöhnlichen Freundschaft.

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Bild von Pexels auf Pixabay

„Tagsüber lag der Geigenkasten auf meiner Rückbank, und ich fuhr mit ihm durch Köln. Ich schaute nicht hinein. Ein Fahrgast sagte: „Reicht wohl nicht, um davon zu leben.“ Ich antwortete nicht darauf.
Abends legte ich ihn vor mir auf den Küchentisch. Das schwarze Leder war abgestoßen, mit der flachen Hand strich ich darüber, spürte die Risse. Der Kasten war locker 50 Jahre alt (…)
Warum von dem, was sein Leben gewesen war, nur noch die Schutzhaut übrig war, und wo seine Geige jetzt war, ich konnte es ihn nicht mehr fragen.“

Theres Essmann, „Federico Temperini“


Unterschiedlicher könnten sie nicht sein, diese beide Männer: Der Taxifahrer Jürgen Krause, der sich die einsamen Abende mit einer Eric Clapton-Biographie vertreibt, und der geheimnisvolle ältere Herr, ein profunder Kenner klassischer Musik, von dem Krause eines Tages als Chauffeur zur Kölner Philharmonie gebucht wird. Und doch verbindet die beiden Protagonisten dieser Novelle eine Gemeinsamkeit: Sie sind, zwar auf sehr unterschiedliche Weise, am Leben gescheitert.

Das Erzähldebüt von Theres Essmann gleicht beinahe einem Kammerspiel: Im begrenzten Raum eines Taxis kommen sich die beiden Männer allmählich näher, lernen sich peu à peu, Fahrt für Fahrt zur Philharmonie ein wenig kennen. Die Schriftstellerin wechselt dabei die Erzähltempi wie in einer wohldurchdachten Sinfonie, beginnend mit einer langsamen Annäherung, endend im Rondo, das zumindest für den Taxifahrer von viel Moll in ein sanftes Dur wechselt.

Besessen von Nicolò Paganini

Bei Krause, der nach einem abgebrochenen Studium und einer Scheidung im Grunde immer noch lebt wie ein ewiger Student, wächst nach und nach die Neugier auf den Hintergrund seines zunächst schroff wirkenden, oftmals abweisenden Fahrgast. Dieser scheint seltsam besessen von Nicolò Paganini, dem Teufelsgeiger, dem Franz Liszt in seinem Nachruf ein „düster trauriges Ich“ bescheinigte. Auch Federico Temperini ist keine Frohnatur: Einsam, verschlossen, die einzige Ausdrucksfähigkeit scheint in der Musik zu liegen.

Zunächst herrscht zwischen den beiden Männern, zumindest auf Krauses Seite, eher Befremden, Distanz und leise Abneigung:

„… und sah, dass der Anrufer Temperini gewesen war. Ich hatte ihn längst zu meinen Kontakten hinzugefügt, aber wann immer sein Name auf dem Display meines Handys erschien, ging es mir damit wie mit seinem Büttenpapier-Umschlag auf meinem Beifahrersitz: Er gehörte da nicht hin.“

Für den Fahrer ist der alte Herr einer, der „wie aus der Zeit gefallen scheint“. Und doch lernen  die beiden Männer sich nach und nach kennen und rücken im Taxi förmlich zusammen – Temperini belegt eines Tages statt der Rückbank den Beifahrersitz. Dies ist mit viel erzählerischem Gespür aufgebaut: Auch beim Leser steigt die Neugier auf diesen Wiedergänger Paganinis, ab und an meint man gar, mitten in einer „gothic novel“ zu sein.

Ein Leben in Armut und Einsamkeit

Das Schicksal Temperinis ist jedoch ganz und gar erdgebunden: Das Leben eines begnadeten Musikers, das durch eine Erkrankung aus der Bahn gebracht wurde und in Einsamkeit und Armut endet. Etwas, was sich dem Taxifahrer jedoch zu spät, erst nach Temperinis Tod, vollständig enthüllt.

Ohne es aussprechen zu müssen (oder besser: „ausschreiben“), führt Theres Essmann die Leser so zum Kern der Geschichte: Krause gibt, auch mit Hilfe der lebensklugen Maria, seinem Dasein eine Wende, zwar nicht durch einen spektakulären Neubeginn, sondern eher durch einen neuen Blick auf das, was ist. Er schüttelt seine Traurigkeit, sein Phlegma, seinen Fatalismus ab – und plötzlich sind viele Wege wieder offen.

Theres Essmann gibt mit dieser Novelle ein Debüt, das von einem musikalischen Gespür für Sprache und Rhythmus zeugt. „Federico Temperini“ entfaltet auf knappen Raum, gekonnt verdichtet, das Leben zweier Männer, erzählt von gescheiterten Lebensentwürfen und vom Neubeginn sowie von einer ungewöhnlichen Freundschaft. Und nicht zuletzt macht diese Erzählung Lust auf eine Taxifahrt durch das nächtliche Köln.


Zur Autorin:

Die 1967 im Münsterland geborene Theres Essmann studierte Literaturwissenschaften und Philosophie, lebt und arbeitet in Stuttgart und Köln. Für ihr Erzähldebüt erhielt sie ein Stipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.

Homepage der Autorin: https://theres-essmann.de/


Informationen zum Buch:

Theres Essmann
Federico Temperini
Verlag Klöpfer, Narr, 2020
164 Seiten, Festeinband mit Lesebändchen, 18,00 €
ISBN: 978-3-7496-1026-6

Stefan Zweig: Der Amokläufer & Episode am Genfer See

Ein wunderschön gestalteter Band mit zwei Novellen von Zweig, die verdeutlichen, wie aktuell der große österreichische Schriftsteller immer noch ist.

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Stefan Zweig, portraitiert von Michael Hahn. Foto: Birgit Böllinger

„Die geistige Einheit unserer Welt?? Welch ein absurdes Thema! Spreche ich da nicht über ein Phantom? Existiert sie wirklich? Hat sie je existiert? Wird sie je realisierbar sein?

Leider, ich gestehe es, ist sie nicht sehr sichtbar im gegenwärtigen Augenblick, diese moralische Einheit unserer Welt – im Gegenteil, selten war die Atmosphäre der Welt (insbesondere unseres alten Europas) so vergiftet von Misstrauen, Uneinigkeit und Angst. Mit Unruhe nimmt man jeden Morgen die Zeitung zur Hand, mit einem Seufzer der Erleichterung legt man sie nieder, wenn nichts besonders Gefährliches sich ereignet hat, nur manchmal glaubt man die schwarzen Schwingen des drohenden Kriegs über seinem Schlafe rauschen zu hören.“

Stefan Zweig aus: „Die geistige Einheit Europas“


Wenn man diesen Vortrag von Zweig, 1936 in Rio de Janeiro gehalten, heute liest, muss man sich die Augen reiben: Wort für Wort beschreibt der große österreichische Autor unsere gegenwärtige Situation. Mag man heutzutage auch keine Zeitung mehr lesen, sondern Nachrichten im Internet, mag es die wunderbare Sprache Zweigs sein, die manchem etwas antiquiert erscheinen mag: die Worte verlieren dennoch nicht ihre Gültigkeit und Aktualität.

Zweigs „Welt von gestern“ erscheint wie die „Welt von heute“:

„Woche für Woche, Monat für Monat kamen immer mehr Flüchtlinge, und immer waren sie noch ärmer und verstörter von Woche zu Woche als die vor ihnen gekommenen.“

Zwar spricht Zweig hier, in seinen „Erinnerungen eines Europäers“, von der jüdischen Bevölkerung, die versucht, aus dem nationalistischen Deutschland zu fliehen – doch an dem Kapitel „Sie standen an den Grenzen“ wird deutlich, was Flucht und Heimatverlust bedeuten, damals wie heute.

Der Verlag „Topalian & Milani“, der schon einmal mit „Die unsichtbare Sammlung“ einen wunderbaren bibliophilen Band mit zwei Erzählungen Zweigs herausgab, begeistert nun erneut mit einem absolut schön gestalteten Buch, einem Buchkunstwerk, das zwei Novellen des Autors beinhaltet.

Ein Autor der Moderne

Ergänzt durch die beiden oben zitierten Aufsätze zeigt dieser Band die politische und moralische Aktualität des Österreichers, der sich, verzweifelt über das Leben im erzwungenen Exil, 1942 das Leben nahm, an zwei Erzählungen. Auch die beiden ausgewählten Novellen für das stimmig illustrierte Buch, „Der Amokläufer“ und „Episode am Genfer See“, zeigen, warum Stefan Zweig ein Autor der Moderne ist: Er taucht förmlich in die Psyche seiner Figuren ein, er geht bis an ihren Seelengrund und die gewählten Thematiken, Machtmissbrauch eines Mannes über eine Frau und die Lage eines Flüchtlings, sind nach wie vor aktuell.

Mag „Der Amokläufer“, der allein von der Länge der Erzählung aus schon mehr Raum einnimmt, die spannendere Geschichte sein, an der Zweigs ganze Kunst des erzählerischen Gestaltens deutlich wird, so ist die „Episode am Genfer See“ die deutlich anrührendere Erzählung. Am schweizerischen Ufer des Sees strandet ein nackter, unbekannter Mann, ein Russe, als Soldat in den Krieg gezwungen, der nur noch nach Hause zu seiner Familie möchte. Mit welchen Vorbehalten die Bevölkerung reagiert, wie wenig Bereitschaft da ist, dem Mann über das Notwendigste – Kleidung und Essen – hinaus zu helfen, wie sehr dieser aber wiederum unter seiner „Sprachlosigkeit“, seinem Heimweh und seiner Isolation leidet, dies alles schildert Zweig in wenigen, einprägsamen Szenen. Eine Geschichte, die auch heute noch dazu beizutragen vermag, sich in die Ausnahmesituation eines Flüchtlings hineinzudenken. Dass beide Erzählungen tragisch enden, dies sei an dieser Stelle noch vermerkt.

Zweig zu lesen, ist ein Gewinn

Es ist also auch heute immer noch ein großer Gewinn, Stefan Zweig zu lesen. Und mit diesem vorliegenden Buch liegt auch eine der schönsten Neuausgaben vor, die es von Zweigs Erzählungen gibt: Handwerklich und optisch von der Auswahl der Schriften bis hin zum Papier aufwendig und wunderschön gemacht, wie man es von dem 2015 gegründeten Verlag inzwischen schon erwartet.

Die Illustrationen von Michael Hahn sind überwältigend – sie greifen die jeweilige Atmosphäre der Geschichten auf, arbeiten beispielsweise beim „Amokläufer“ mit Motiven der indonesischen Bilderwelt, aber ebenso bei den Portraits der Kolonialherrschaften mit Elementen des Jugendstils und Art déco. Über die Arbeit Hahns mache man sich am besten selbst ein Bild, direkt hier: www.hahn-illustration.de


Informationen zum Buch:

Stefan Zweig
Der Amokläufer/Episode am Genfer See
Topalian & Milani, 2019
Hardcover, Großformat, 176 Seiten,
durchgehend illustriert von Michael Hahn, 28,00 Euro
ISBN: 978-3-946423-07-2

Mala Laaser: Karl und Manci

Die Novelle “Karl und Manci” ist Auftakt einer neuen Buchreihe zur Literatur der Weimarer Republik. Vergessene Autoren wie Mala Laaser bekommen eine Stimme.

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Bild: (c) Michael Flötotto

Als ich von Jörg Mielczarek gebeten wurde, für seine Veröffentlichung von “Karl und Manci” ein Nachwort zu schreiben, freute ich mich natürlich sehr. Zugleich aber zeigte es mir auch meine Grenzen auf: Nebenberufliches Bloggen über Literatur ermöglicht es häufig nicht, auch in die Tiefe zu gehen. So war ich bei meinen Recherchen zu Mala Laaser auf das Internet angewiesen – und hier sind Angaben zu dieser Autorin ziemlich rar gesät.

ABER: Mein Beitrag bewegte Anke Heimberg, Herausgeberin der Werke von Lili Grün und Victoria Wolff beim AvivA Verlag dazu, in die Tiefe zu gehen, mehr über Mala Laaser herauszufinden. Und so, durch einen Anstoß von Jörg Mielczarek, wird eine Autorin vielleicht doch wieder dem Vergessen entrissen.

“Wir wissen es: Die Zeit setzte ihren Spaten an und grub gewaltig den Boden um. Aus der Fülle der Geschicke, die sich dabei bildeten, herausgegriffen, soll euch jetzt hier die Geschichte von Karl und Manci, das Schicksal zweier Liebender in unseren Tagen, dargelegt werden.”

Mala Laaser, “Karl und Manci”, Hrsg. Jörg Mielczarek

Wenn man sich für die Literatur der Weimarer Republik interessiert, stößt man in der Fachliteratur, in Quellen und Zeitdokumenten immer wieder auf Namen, die auftauchen wie aus dem Nichts – und wieder im Nichts verschwinden. Oft sind es nur Fußnoten, beiläufige Bemerkungen, in denen Autoren erwähnt wird und ihre Talente gewürdigt werden. Menschen, die bereits erste Arbeiten veröffentlicht hatten, die vielleicht am Beginn einer guten Entwicklung standen, die auch von bekannteren Kollegen gefördert wurden. Und dann? Ihre Namen verschwinden ab 1933 aus der Öffentlichkeit und dem Bewusstsein, sie werden vergessen, ihre Träger meist in den Konzentrationslagern ermordet, auf der Flucht getötet, im Exil verschwunden, verloren gegangen.

Einer, der sich seit Jahren mit dieser Literaturepoche beschäftigt und durch seine Arbeit die Erinnerung an Schriftstellerinnen und Schriftsteller dieser „verschollenen“ Generation wach hält, ist Jörg Mielczarek. Der gelernte Buchhändler, Geschäftsführer eines Verlages in Bonn, veröffentlichte bereits 2011 das Buch „Von Untertanen, Zauberbergen, Menschen ohne Eigenschaften“, in dem er 50 Autoren der Weimarer Republik und deren Werke vorstellt. Nun setzt er diese Arbeit mit einer eigenen Buchreihe fort: Unter dem Reihentitel „Fünf.Zwei.Vier.Neun“ – die 5249 Tage der Weimarer Republik – kommen Schriftsteller jener Literaturepoche zu Wort, deren Stimmen allzu früh verklungen sind, die heute allenfalls noch Fachleuten ein Begriff sein dürften. Jörg Mielczarek will diese Stimmen wieder zum Klingen bringen und einem breiteren Publikum zugänglich machen.

Jörg Mielczarek zu seiner Reihe und dem Band zur Auftakt: 

„Seit einigen Jahren beschäftige ich mich intensiv mit der Literatur der Weimarer Republik. Viel Freude macht mir vor allen Dingen die Lektüre der Zeitschriften und Tageszeitungen, die in dieser Zeit erschienen sind. In fast jeder Ausgabe stößt man auf Lyrik, Erzählungen, Novellen und Romane (die in Fortsetzungen erschienen) – und das in einer unglaublichen Qualität.
“Karl und Manci” fand ich in der CV-Zeitung, der Zeitung des Central Verbands deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Gerade das Schlichte der Novelle zog mich an. Sie erschien niemals in einem Buch – jetzt wird das geändert,“ 

Dass ich dazu ein Nachwort schreiben durfte, freut mich sehr (und macht mich auch stolz). „Karl und Manci“ von Mala Laaser wirkt auf den ersten Blick wie eine „sachliche Romanze“, eine gefällige kleine Liebesgeschichte im Ton der Zeit. Sie ist eine jener Erzählungen, die mit jedem Wiederlesen mehr und mehr gewinnt. Keine Liebesgeschichte mit großen Auftritten, Emotionen und Dramatik – sondern im Stil der Neuen Sachlichkeit, beinahe nüchtern, wird von einer unstandesgemäßen Beziehung zwischen zwei jungen Leuten erzählt. Neben der unterschiedlichen Herkunft erschweren auch die gesellschaftlichen Umstände – die Nöte der Wirtschaftskrise sowie die zunehmende Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung – diese Verbindung.

Die besondere Begabung von Mala Laaser zeigt sich in der gelungenen Darstellung vom „kleinen privaten Glück“ unter schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen: Da werden die Nöte der Zeit offengelegt, ohne dass dadurch das literarische Niveau verlassen wird: Mala Laaser beherrschte bereits in dieser Erzählung einen unsentimentalen Ton, der dieser Erzählung einen besonderen Reiz gibt – eine schlechtere Schriftstellerin hätte dieses Thema „verkitscht“.

Über Mala Laaser selbst konnte ich wenig herausfinden – man müsste die Zeit haben, auf Spurensuche zu gehen und intensiv in den einschlägigen Archiven zu forschen, vielleicht ließen sich dann ihre Lebensdaten rekonstruieren. Sie schrieb zunächst Reportagen, später veröffentlichte sie auch Erzählungen und Gedichte, überwiegend in jüdischen Zeitschriften. In Berlin verkehrte sie unter anderem mit Gertrud Kolmar und Jakob Picard. Mit dem wesentlich älteren Schriftsteller war sie kurzzeitig verlobt. 1939 emigrierte sie nach England – und scheint dort, abgeschnitten von Heimat und Sprache, literarisch verstummt zu sein. Umso erfreulicher ist es, dass Verleger Jörg Mielczarek mit dieser Veröffentlichung ihre Stimme, ihr Talent dem Vergessen entreißt. Es ist wie ein Anruf aus der Vergangenheit, ein Brief aus der Geschichte – in der Hoffnung, dass er nun irgendwo angenommen wird, endlich ankommen wird.

Und nun hoffe ich, dass das Buch viele interessierten Leserinnen und Leser findet – es wäre eine späte Anerkennung einer Schriftstellerin, die ihr offensichtliches Talent niemals ausleben durfte. Informationen hier: https://literaturweimar.blog/ueber-mich/

Stefan Zweig: “Die unsichtbare Sammlung” und “Buchmendel”

Zwei Erzählungen Stefan Zweigs in einem Band mit wunderschöner Ausstattung: Buchkunst für Bibliophile.

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Illustration: Joachim Brandenberg, Offenbach. Mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

„Eigentlich schämte ich mich: Da war ich wie der Engel des Märchens in eine Armeleutestube getreten, hatte einen Blinden sehend gemacht für eine Stunde nur dadurch, daß ich einem frommen Betrug Helferdienst bot und unverschämt log, ich, der in Wahrheit doch als ein schäbiger Krämer gekommen war, um ihm ein paar kostbare Stücke abzujagen. Was ich aber mitnahm, war mehr: Ich hatte wieder einmal reine Begeisterung lebendig spüren dürfen in dumpfer, freudloser Zeit, eine Art geistig durchleuchteter ganz auf die Kunst gewandter Ekstase, wie sie unsere Menschen längst verlernt zu haben scheinen. Und mir war – ich kann es nicht anders sagen – ehrfürchtig zumute, obgleich ich mich noch immer schämte, ohne eigentlich zu wissen, warum.“

Stefan Zweig, „Die unsichtbare Sammlung“, 1927.


Zweig nannte diese Novelle „eine Episode aus der deutschen Inflation“: Sie handelt von einem Sammler, der Kunstblätter und Stiche Rembrandts, Dürers und Mantegnas in seinem Besitz glaubt. Was der alte Mann, ein erblindeter Kriegsveteran des deutsch-französischen Krieges, jedoch nicht weiß: All seine Kostbarkeiten wurden von Frau und Tochter verkauft, die wertvollen Blätter durch leeres Papier ersetzt. Die Not der Nachkriegszeit hatte die Frauen dazu gezwungen – doch die galoppierende Geldentwertung in den 1920er Jahren führt dazu, dass der Familie der kostbare Besitz förmlich zwischen den Händen zerschmilzt. Erzählt wird diese anrührende Geschichte aus der Perspektive eines Berliner Kunstantiquars, der sich eigentlich von der Fahrt in die sächsische Provinz erhofft, bei dem Sammler einige Stücke zurückkaufen zu können.

Rund um den alten Sammler versinkt die Welt – doch ihn, den Blinden, hält die Freude an seinen ideellen Reichtümern aufrecht: auch wenn er sie nicht mehr sehen kann, so ist es doch ihr Dasein, das ihn erfüllt.

„Unvergeßlich war mir der Anblick: dies frohe Gesicht des weißhaarigen Greises da oben im Fenster, hoch schwebend über all den mürrischen, gehetzten, geschäftigen Menschen der Straße, sanft aufgehoben aus unserer wirklichen widerlichen Welt von der weißen Wolke eines gütigen Wahns. Und ich mußte wieder an das alte, wahre Wort denken – ich glaube, Goethe hat es gesagt: »Sammler sind glückliche Menschen.«“

Oh ja, und wie glücklich! Denn in den Tagen rund um die Buchmesse, an denen beinahe inflationär Bücher bepriesen werden, an den Tagen der Buch-Inflation also, an denen auch deutlich wird, wie sehr das Buch eben auch Ware ist, erreichte mich ein besonderer Schatz. Man muss es mir nachsehen, wenn ich hier völlig ungehemmt schwärme: Aber in meinen Augen ist dieser Band mit zwei Novellen von Stefan Zweig aus dem erst 2015 gegründeten Verlag Topalian & Milani das schönste Buch des Jahres.

Die beiden Verleger machen ein, zwei Bücher pro Saison – diese aber mit völliger Hingabe und großer Liebe zum Detail. War schon „Die römische Saison“ von Lutz Seiler ein optisches und haptisches Juwel, so ist dieser Zweig-Band noch ansehnlicher und schöner geworden. Mit „Buchmendel“ und „Die unsichtbare Sammlung“ haben Rasmus Schöll und Florian L. Arnold zwei bekannte Novellen des Österreichers herausgegriffen, die in Zweig`scher Manier, melancholisch-menschenfreundlich, Sammler und Buchbesessene zum Inhalt haben.

Buchmendel zeigt die Welt von gestern

Insbesondere im „Buchmendel“ wird von Zweig die Welt von gestern heraufbeschworen: die der ostjüdischen-galizischen Kultur, wie sie Zweig und Joseph Roth so eindrucksvoll beschrieben haben, die der untergegangen Welt des Kaffeehauses der Vorkriegszeit, die sich im Vielvölkerstaat Österreich durch Toleranz, Mehrstimmigkeit, Offenheit auszeichnete. Der Buchmendel, ein wandelndes Literaturlexikon, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, nimmt, als sich die Zeiten langsam zum Schlechteren wenden, ein tragisches Ende. In den Wirren des Ersten Weltkriegs als Spion verdächtigt und interniert, wird er später im Kaffeehaus, seiner Lebensbasis, nicht mehr geduldet, stirbt an Auszehrung. Der Erzähler, der Jahre später auf Spurensuche geht, erinnert sich an diesen tragisch-komischen Menschen so:

„In diesem kleinen galizischen Büchertrödler Jakob Mendel hatte ich zum ersten Mal als junger Mensch das große Geheimnis der restlosen Konzentration gesehen, das den Künstler macht wie den Gelehrten, den wahrhaft Weisen wie den vollkommen Irrwitzigen, dieses tragische Glück und Unglück vollkommener Besessenheit.“

Zu Buchkunst wird diese Ausgabe durch die schwarz-weiß-Illustrationen, die Zweigs Novellen nicht nur kongenial interpretieren, sondern auch eigenständige Kunstwerke sind. Florian L. Arnold nähert sich der unsichtbaren Sammlung mittels einer grotesken Zeichensprache an – kleine Vignetten, großformatige Bilder, die beinahe an anatomische Studien angelehnt sind. Immer wieder schauen den Betrachter Augen an, so beispielsweise auf dem Titelbild. Als wolle der Illustrator Einblick in das menschliche Gehirn geben, aufzeigen, dass man eben nicht nur durch das Auge sieht. Der Blinde, der durch seine Bildersammlung blättert – eine tragisch-komische Erscheinung, die Arnold als Drama mit Tuschfeder und Elementen der Kupferstichtechnik, wie sie auch für die Novelle Zweigs prägend sind, umsetzt.

Direkter, aber nicht weniger eindrücklich in seinem Ausdruck ist Joachim Brandenberg, der „Buchmendel“ illustriert hat. Ein mit Stacheldraht umwickeltes Notizbuch, ein Portrait, bei dem Buchfetzen aus den Augen quillen, eine zerbrochene Brille – melancholische Bilder, die den Ton der Zweig-Novelle treffen, aufnehmen, weiterführen. Einen Eindruck von den Arbeiten des Illustrators und Buchkünstlers gewinnt man hier: http://joachimbrandenberg.de/

Abgerundet wird dieser Buchschatz durch ein Nachwort zu Stefan Zweig, einen Überblick über seine Veröffentlichungen sowie einen Abdruck seines Abschiedsbriefes vor dem Freitod am 22. Februar 1942.


 Bibliographische Angaben:

Stefan Zweig
Buchmendel & Die unsichtbare Sammlung
Topalian & Milani Verlag, 2018
ISBN: 978-3946423058

 

John von Düffel: “Hotel Angst” und “Wassererzählungen”

Wenn John von Düffel von Familien schreibt, von Vätern und Söhnen wie in „Houwelandt“ und „Vom Wasser“, dann ist er am stärksten. So auch im Hotel Angst.

“Das Hotel Angst war ihre Titanic, es war die Herrlichkeit und Weihe ihres Untergangs, es war das Wrack, mit dem sie langsam, aber unausweichlich in die Tiefe sanken, auf den Grund der Vergangenheit, von dem es heute noch aufragt bis in unsre Zeit, eine Titanic des Festlands, erhaben in ihrem Unheil, glamourös in ihrem Verfall. Und so steht das Hotel heute noch immer da, der untergegangene Traum einer Epoche, und macht dem Namen Angst heute vielleicht mehr Ehre denn je.“ 

John von Düffel, “Hotel Angst”

Ein Mann stirbt und mit ihm seine Träume. Ein Sohn begibt sich auf Spurensuche: Er reist an den Urlaubsort seiner Kindheit, nach Bordighera an der italienischen Riviera. Dort steht, mittlerweile eine verwunschene Ruine, das „Hotel Angst“, das legendäre Grand Hotel der Belle Époque. Ein Traumhotel im wahrsten Sinne – ein Lebenstraum des Vaters war es, dieses mondäne Haus mit neuem Glanz zu erfüllen. Wie zäh und nachhaltig der sonst so verschwiegene Mann diesem Traum nachhing, dies wird dem Sohn erst allmählich an der Riviera klar. Eine feingesponnene Novelle, deren melancholisch-leiser Grundton die passenden Bilder von einer untergegangenen Epoche, einer vergangenen Zeit evoziert.  

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Doch was für diese Gesellschaft sprach, für all die gekrönten und ungekrönten Häupter Europas, die sich im Hotel Angst ein letztes Mal hochleben ließen, war ihre Vergänglichkeit. Sie feierten ihre Ballnächte und Diners am Abgrund der Zeit und schienen insgeheim darum zu wissen, so wie sie sich in Positur warfen vor dem Kameraauge der Ewigkeit. Sie wußten schon damals, daß sie eigentlich nicht mehr existierten, sondern so etwas waren wie Gespenster zu Lebzeiten, die sich noch einmal versammelt hatten für einen letzten körperlosen Tanz im Spiegel des Verschwindens.” 

Die der Geschichte innewohnende Traurigkeit – Trauer um Verluste, Verluste von Menschen, Verluste von Orten, Verluste von Träumen – kontrastiert mit der blendenden Sonne, dem Touristenrummel dieser Tage, den Anflügen von „dolce vita“, denen der Erzähler bei Speis und Trank nachgibt. Elegant verwebt John von Düffel mehrere Erzählstränge in seinem Stoff – er erzählt von jenen Männern, die die feine Welt nach Bordighera brachten, am Ende aber an ihren Träumen scheiterten. Er erzählt von einem italienischen Schriftsteller und Freiheitskämpfer, der im Exil im nebeligen England die italienische Luft und Sonne nicht vergessen kann. Und mit einem etwas kitschigen Roman seinem Heimweh Ausdruck verleiht – ein Roman, der bei anderen die Sehnsucht nach dieser Landschaft wachruft. Und John von Düffel erzählt von dem trockenen Statiker, der so nüchtern in seinen Handlungen wirkt und dabei insgeheim das Träumen nicht lassen kann: Als sich kein Weg findet, dem Hotel Angst wieder Leben einzuhauchen, macht sich der Mann selbst an ein Romanprojekt, in der Hoffnung, Geschichte ließe sich wiederholen.

Eine Erzählung vom Abschiednehmen

Vor allem aber ist dies eine Erzählung vom langsamen Abschiednehmen und dem Näherkommen, das dabei dennoch ermöglicht wird: Je mehr der Sohn von den Träumen seines Vaters erfährt, desto mehr beginnt er ihn zu verstehen – und kann sich so dem Verstorbenen nochmals annähern. Wenn John von Düffel von Familien schreibt, von Vätern und Söhnen wie in „Houwelandt“ und „Vom Wasser“, dann ist er am stärksten – und so birgt auch diese schmale Erzählung wunderbare Sätze, gerade dann, wenn der Sohn den Aufenthalt seines Vaters in der „fünften Dimension“, dem Reich der reinen Möglichkeit, umreißt:

„Er war ein Träumer, aber kein Erfinder, seine Inspiration war die Vergangenheit und das Gefühl, ihr zugehörig zu sein – mehr als allem anderen auf der Welt. (…) Es ging ihm nicht um sich, um seine Phantasie, sondern um das Phantastische, das dem Vergangenen innewohnte, und seine größte Sehnsucht war, ein Teil davon zu sein.“ 

Ein schmales, nostalgisch anmutendes Stück Literatur – eines, das vermag, auch beim Lesen Sehnsüchte zu wecken: Und so ist das „Hotel Angst“ auch für mich zu einem Sehnsuchtsort geworden – einer, der wahrscheinlich nur in der Phantasie weiterbestehen wird.

„Das Wasser an einem Wintertag. Der Himmel über der See ist hauchblau. Eine Bläue, die allen Dunst und Nebel, die Wolken und Schwaden in sich aufgesogen und verwandelt hat in einen Reifatem, der die Sonne blass macht, eine gefrorene Scheibe aus Licht.“

John von Düffel, „Wassererzählungen“

John von Düffel ist also nicht nur ein Langstreckenschwimmer. Seit „Vom Wasser“, sein erster Roman 1998 erschien, bin ich einer der vielen Fische, die ab und an in seinen Fan-Schwarm mit eintauchen. Kein gegenwärtiger deutscher Autor schreibt eben so schön, aber auch so viel über das Element Wasser und die Leidenschaft des Schwimmens wie er. In seine guten Romane kann man einsinken, abtauchen, für einige Stunden untergehen. Dazu zähle ich auch „Houwelandt“, diese Familiengeschichte, in der ebenfalls das Meer eigentlich die Hauptrolle spielt. Oder die Novelle „Hotel Angst“. Aber auf die Ebbe folgt auch die Flut beziehungsweise nach der Flut die Ebbe: „Ego“, die Geschichte eines fitnessbesessenen, karrieregetriebenen Egomanen – sie trieb mich als Leserin dann wieder eine Weile weg von der Düffel-Fangemeinde, ließ mich eher ratlos zurück.

Nun also die Kurzstrecke – Erzählungen. Natürlich drehen auch sie sich bei diesem Autoren, der schon einmal in der Presse auch als „amphibischer Schriftsteller“ bezeichnet wird, um das nasse Element. Und mir erging es beim Lesen der „Wassererzählungen“ ähnlich wie mit den oben genannten Langwerken – ein Auf und Ab, eine Wellenbewegung zwischen abtauchen, sinken lassen, mittreiben und dann wieder ein abebben der Begeisterung bis hin zum – naja, Untergang wäre übertrieben. Soll heißen: Die Mehrzahl der Erzählungen sind „von Düffels“, das heißt, schön zu lesen, dort wo eine leichte Melancholie mitschwingt, wo der Seegrund so tief ist wie die Trauer in manchen Herzen, wo das Meer so blau leuchtet wie die Hoffnung in einem Menschen. „Das Spiel ohne auf die Erde zu kommen“, „Der schwarze Pool“, „Ostsee“ – ein sprachlich eleganter Erzählfluss. Schöne Bilder:

„Als sie den schmalen, geschlängelten Weg hügelan fuhren, erhob sich der Wald vor ihnen wie eine Wand. Die Dämmerung stand zwischen den schwarzen Tannen, während der Himmel noch licht war, hell und stufenlos grau. Die ungemähte Wiese zum Wald hin sah aus, als hätte sich eine Herde von Nebeltieren darin gewälzt. Bleiches, verblühtes Gras lag nass und regenschwer in Wellen darnieder.“

Ab und an meint John von Düffel jedoch, er müsse in die Tiefen der Ironie eintauchen, der Satire oder Kritik am Zeitgeist, wo auch immer er da schriftstellerisch dahinschwimmt. „Die Vorschwimmerin“ und „Das permanente Wanken und Schwanken von eigentlich allem“ sind Beispiele dafür, Erzählungen als Monolog und Dialog verfasst. Hier kommt der Theatermann durch. Wo von Düffel jedoch mit spitzer Feder schreibt, kommt bei mir als Leserin eher Geplätscher an, seichte Wellenausläufer.

So lautet mein Fazit der „Wassererzählungen“: Flut und Ebbe.

Informationen zu den Büchern:

John von Düffel
Hotel Angst
dtv Verlag, 2007
ISBN: 978-3423135719

Wassererzählungen
dtv Verlag, 2017
ISBN: 978-3-423-14554-1