Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen

Mit dem “kunstseidenen Mädchen” brachte Irmgard Keun einen weiblichen Ton in die Literatur, der so gar nicht zum Frauenbild der Nationalsozialisten passte.

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Bild von Sarah Lötscher auf Pixabay

„Tilli sagt: Männer sind nichts als sinnlich und wollen nur das. Aber ich sage: Tilli, Frauen sind auch manchmal sinnlich und wollen auch manchmal nur das. Und das kommt dann auf eins raus“.

Irmgard Keun, „Das kunstseidene Mädchen“


Sie vertrat die falschen Ansichten. Sie hatte eine Meinung. Und: Sie war selbstbewusst und frei. Alles, was eine Frau in Nazi-Deutschland nicht sein durfte. So musste auch Irmgard Keun (1905 – 1982) den Unrechtsstaat verlassen – kurz, nachdem sie mit dem „kunstseidenen Mädchen“, ihrem zweiten Buch, einen Sensationserfolg erzielt hatte. Aber die darin geschilderte Frauenfigur passte eben so gar nicht zum Frauenideal des Dritten Reiches: Zu kess, zu flatterhaft, zu eigenständig – das ist die 18jährige Doris, die Kunst- und Halbseidene, die in der Metropole Berlin unbedingt „ein Glanz“ werden möchte.

Glamour und Götterdämmerung

Das gelingt am Ende nicht – zum einem, weil Doris mit ihrem weichen Herzen und dem Hang zu falschen Männern halt doch nicht ganz zum Glanz taugt, zum anderen, weil die Umstände nicht so sind in der Weimarer Republik. Denn Doris schildert nicht nur das schillernde und glitzernde Berlin der 20er Jahre in ihrem unablässigen monologischen Gedankenfluss – Keun, als Vertreterin der „Neuen Sachlichkeit“ zeigt in diesem Roman, dass auch sie den „stream of consciousness“ perfekt beherrscht – sondern auch die Schattenseiten. Götterdämmerung ist angesagt: Armut, Arbeitslosigkeit, Nationalismus, Antisemitismus, Rassenhass…all das sind die Unter- und Hintergründe, die durch die (nur scheinbar) belanglose Plauderei der kleingroßen Naiven durchschimmern. Und nicht zuletzt ist „Das kunstseidene Mädchen“ auch einer der herausragenden Großstadtromane dieser Zeit. Die pulsierende Metropole, betrachtet aus den großen Augen einer staunenden Frau:

„Und ich kam an auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo sich ungeheures Leben tummelte. Und ich erfuhr, daß große politische Franzosen angekommen sind vor mir, und Berlin hatte seine Massen aufgeboten. Sie heißen Laval und Briand – und als Frau, die öfters wartend in Lokalen sitzt, kennt man ihr Bild aus Zeitschriften. Ich trieb in einem Strom auf der Friedrichstraße, die voll Leben war und bunt und was Kariertes hat. Es herrschte eine Aufregung! Also ich dachte gleich, daß sie eine Ausnahme ist, denn so furchtbare Aufregung halten auch die Nerven von einer so enormen Stadt wie Berlin nicht jeden Tag aus.“

Zeitgemäßes Frauenbild

Doris, die einerseits ein kunstseidenes Mädchen und andererseits doch eine ganz starke Frau ist, scheitert und bleibt allein – als hätte Irmgard Keun ihren eigenen Lebensweg vorgezeichnet. Man mag an dem Frauenbild und Frauentyp zweifeln – trotz ihres Ehrgeizes, aufzusteigen und aus den kleinen Verhältnissen ihrer Familie auszubrechen, verkörpert Doris eben nicht die neue, emanzipierte Frau, sondern das Mädchen, das sich verkauft. Aber auch das ist immer noch zeitgemäß:

“Aktuell sind gerade heute Stoff wie Schreibweise. Junge Mädchen, die als Germanys next Topmodel oder als Schlagersternchen “ein Glanz werden” wollen, sehen, wie Keuns Doris, in einer Krisenzeit keine anderen Möglichkeiten für sozialen Aufstieg.”

Sonja Hilzinger in einem Portrait bei der Deutschen Welle:

„Und so war auch das Buch, so wie das Leben, so wie im Film, schnell und oberflächlich und genau, weltmitschreibend, sich selbst verschenkend an die Welt, spielend mit der Welt, Schritt für Schritt Berlin erobern, die Männer erobern, das Leben erobern. Nicht mit Arbeit. Mit einem Glanz, der von innen kommt, mit einem Magnetismus, der die Welt tanzen lässt, um das kunstseidene Mädchen herum.“

Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“.

Doch der Tanz wird – die Zeitumstände sind schuld daran, zugleich aber auch eine charakterliche Disponierung zum Alles-Verschlingen, zur Sucht, zur Selbstzerstörung – der Tanz also wird zum traurigen Walzer. Denn Irmgard Keun war sicher nicht das, was man eine in sich ruhende Persönlichkeit nennen könnte – zu temperamentvoll, zu sprunghaft, zu lebenslustig und lebenshungrig.

Wenn man Glück mit den Männern haben will, muß man sich für dumm halten lassen.

Und manches Mal auch mutig bis hin zum Übermut: Ihr erster Roman „Gilgi – eine von uns“ (1931) machte sie über Nacht berühmt, 1932 folgt der Bestseller „Das kunstseidene Mädchen“, 1933 werden ihre Bücher von den Nazis beschlagnahmt und verboten. Bevor Keun jedoch ins Exil flüchtet (und dort Joseph Roth, ihrem Schicksalsmann, wie unter anderem auch in Weidermanns „Ostende“ beschrieben, begegnet), legt sie sich mit der Zensur an: Sie erhebt Schadensersatzklage wegen des Verdienstausfalls, den sie durch die Beschlagnahmung ihrer Bücher erlitten habe. Zugleich aber beantragt sie auch die Aufnahme in die Reichschrifttumskammer. Auch das ist ein wenig kunstseidene Doris – die Hin- und Hergerissenheit zwischen den Möglichkeiten und dem Notwendigen. Manches wird später zurechtgebogen von ihr selbst und überhöht – eine Gestapo-Haft erlebte sie nie, auch nicht Folter und Verhöre.

Die Keun-Biografin Hiltrud Häntzschel schreibt in ihrer Monographie (Rowohlt Taschenbuch) über Irmgard Keun:

„Irmgard Keun hatte zur Wahrheit ihrer Lebensumstände ein ganz spezielles Verhältnis: mal aufrichtig, mal leichtsinnig, mal erfinderisch aus Sehnsucht nach Erfolg, mal phantasievoll aus Lust, unehrlich aus Not, mal verschwiegen aus Schonung.“

Ganz so, wie auch das kunstseidene Mädchen war.

In ihrer Heimat kann sie nicht mehr arbeiten, verlassen will sie sie jedoch ebenfalls nicht. 1936 ist es jedoch unumgänglich, Irmgard Keun flieht in das Exil. Es folgen Wanderjahre, Existenzsorgen, zudem ein zunehmender Alkohol- und Tablettenmissbrauch, vor allem aber treibt Irmgard Keun die Sorge um die im Deutschen Reich zurückgebliebene Mutter und das Heimweh um. 1940 kehrt sie heimlich – aber von den Nazis wohl durchaus wahrgenommen – nach Deutschland zurück, überlebt in der Illegalität. Nach Kriegsende fällt es ihr, wie vielen anderen Autoren der Weimarer Republik auch, schwer, im Literaturbetrieb wieder Fuß zu fassen.

Kunstseidene wird Trümmerfrau

Eigentlich wäre „Das kunstseidene Mädchen“ auch eine Frau der zweiten Nachkriegszeit in Deutschland – eine, die sich durchschlagen muss, durchaus selbstbewusst und frech, die aus der Not heraus versucht, das Beste aus ihren Lebensumständen zu machen, eine Frau, die „ihren Mann“ steht. Aber es scheint, als habe die neue Zeit keinen Raum für diese schnodderige Sprache mehr, keinen Sinn mehr für diesen Stil, der doch eng auch mit den „Roaring Twenties“ verknüpft ist. Das Frauenbild der Weimarer Republik hat ausgedient, die Kunstseidene wird zur Trümmerfrau.

Bei Irmgard Keun im wahrsten Sinne des Wortes – sie verarmt immer mehr, lebt kurzfristig in einem zerbombten Haus, immer weiter geplagt von ihren Abhängigkeiten. Kurze Phasen von Produktivität wechseln sich mit Krankenhausaufenthalten ab, 1966 wird sie dann für Jahre in die Psychiatrie eingewiesen. Nach ihrer Entlassung 1972 erlebt sie wenigstens in ihren letzten Lebensjahren als Schriftstellerin neue Beachtung – sie wird als Stimme der Weimarer Republik von Jürgen Serke im Rahmen seiner Recherche für seine verdienstvolle Stern-Serie „Die verbrannten Dichter“ wiederentdeckt, ihre Bücher werden wieder aufgelegt und erfahren erneut größeres Interesse. 1982 stirbt Irmgard Keun in Köln.

Was von ihr bleibt?

Ihre Romane, nicht nur „Das kunstseidene Mädchen“, auch die „Gilgi“ oder das bedrückende Buch „Nach Mitternacht“. Eine Frauenstimme, die klingt zwischen Lebenshunger und Verzweiflung. Die Sehnsucht nach der dunkelblauen Glocke wie im kunstseidenen Mädchen:

„Ich wünsche mir sehr mal die Stimme von einem Mann, die wie eine dunkelblaue Glocke ist und in mir sagt: hör auf mich; was ich sage, ist richtig; und wünsche mir dann ein Blut in mein Herz, was ihm glaubt…“

 

Volker Weidermann: Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft

“Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft”: Ein Stimmungsbild, mit viel literaturwissenschaftlichem Know-how routiniert gepinselt von Volker Weidermann.

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“In Zeiten, die Zeit hatten, hatte man an der Kunst etwas aufzulösen. In einer Zeit, die Zeitungen hat, sind Stoff und Form zu rascherem Verständnis getrennt. Weil wir keine Zeit haben, müssen uns die Autoren umständlich sagen, was sich knapp gestalten ließe.”

Karl Kraus, „Heinrich Heine und die Folgen“


Volker Weidermanns biographischer Roman „Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft“ das wäre wohl so ein Büchlein, an dem Karl Kraus seine spitze Zunge geschärft hätte. Ein Ergebnis „impressionistischen Feuilletonismus“ hätte er es wohl genannt.

Sagen wir mal: Es ist ein Stimmungsbild, mit viel literaturwissenschaftlichem Know-how routiniert gepinselt. Solche Bücher sind geradezu en vogue – man denke nur an den Erfolg des anderen Sommer-Buches eines anderen Journalisten, “1913 – Der Sommer des Jahrhunderts”. Jüngere Geschichte, in anmutige Form verpackt, wohldosiert.

Ostende macht Appetit auf die Originale

Ja, Ostende – man muss es nicht lesen, es schadet aber auch keinem. Gesetzt den Fall, man greift denn doch noch (einmal) zu den Originalen, liest Stefan Zweig, Joseph Roth, neben deren Romanen und Essays auch ihren Briefwechsel, begegnet dem kunstseidenen Mädchen nach Mitternacht und dem rasenden Reporter in deren ECHTEN Büchern. Ostende erfüllt seinen Zweck allenfalls als Appetithäppchen. Dafür jedoch ist es mit viel feuilletonistischer Routine zusammengesetzt.

Weidermann beschreibt die Begegnung einiger Schriftsteller 1936 im Badeort Ostende. Vor allem das Zusammentreffen der beiden so unterschiedlichen Freunde aus Österreich steht im Mittelpunkt: Stefan Zweig, die Welt von gestern noch frisch betrauernd, aber im zweiten Frühling mit einer neuen Liebe, Joseph Roth, haltlos, orientierungslos, bodenlos dem Alkohol verfallen. Mit Irmgard Keun, die die Sommer- und Exilgemeinde aufmischt, kommt noch einmal ein Silberstreif an den Roth`schen Horizont. Dennoch: Alle wissen, es ist Götterdämmerung, das Heil besteht nur noch in der Flucht. Ostende, `36, das ist ein letzter „magischer“ Sommer, in dem persönliche und politische Hoffnungen wie kurze Leuchtfeuer aufflackern und ebenso schnell erlöschen.

Faktenreiches Feuilleton

Ein kurzes Feuer ist auch das wenig mehr als 150 Seiten umfassende Buch. Zwar durchaus: Informativ, sich auf die Quellen stützend, wörtliche Zitate aus Briefen und Aufsätzen einflechtend, faktenreich, dort, wo die Situation der Schriftsteller und Journalisten abgebildet wird, die vor den Nazis flüchten mussten. Dort, wo Weidermann jedoch vom Biographischen verstärkt in das Romanhafte gleitet, erreicht das Buch seine Grenzen.

„Ein paar Tage später sitzen sie noch einmal alle zusammen. Alle braun gebrannt, außer Roth, dem alten Sonnenfeind. Sie sitzen wieder im Flore, mit Blick aufs Meer und die Badehäuschen. Christiane Toller strickt trotzig vor sich hin, Gisela Kisch lacht, wann immer es etwas zu lachen gibt und auch wenn es nichts gibt, Lotte Altmann ist still, und nur wenn sie leise hustet, bemerkt die große Runde, dass sie noch da ist, Schachfuchs schaut aufs Meer, Stefan Zweig sitzt zwischen Lotte und Fuchs, raucht und hört zu, wenn Egon Erwin Kisch von Spanien spricht, vom Krieg der Kommunisten, neuesten Berichten von der Front, und Arthur Koestler von seinen Reiseplänen, die ihn in Francos Hauptquartier führen sollen.“

Es scheint, als habe Weidermann der Ehrgeiz gepackt, das „Who-is-who“ der Ostender Exilgemeinde 1936 in einen Satz zu pressen. Stimmungsvolle Stillleben – die Charaktere werden skizziert und angepinselt, mehr jedoch nicht. Von seinem (vermutlich) insgeheimen Vorbild Stefan Zweig, dem Meister des psychologisierenden biographischen Romans („Maria Stuart“, „Marie Antoinette“), bleibt der FAZ-Feuilletonchef weit entfernt.

Was bleibt von der Lektüre? Hunger nach Zweig und Roth im Original. Die Zeit sollte man sich, gerade in einer Zeit, die keine Zeit hat, etwas aufzulösen, dringend nehmen.


Bibliographische Angaben:

Volker Weidermann
Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft
Kiepenheuer & Witsch, 2015
ISBN: 978-3-442-74891-4

Hanns Heinz Ewers: Lustmord einer Schildkröte

Hanns Heinz Ewers (1871-1943) galt als der deutsche Edgar Allen Poe. Er schreckte vor keinem Thema zurück – Kannibalismus, Voodoo-Kult, Mord und Drogenrausch.

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„Dies ist keine sodomistische Geschichte. Es ist eine ganz einfache, wahre Geschichte, und alles, was dabei wüst ist, ist von oben bis unten von mir dazu gelogen worden. Das wird man gleich sehn – aber nur dadurch wurde eigentlich eine Geschichte daraus.“

Hanns Heinz Ewers, “Lustmord einer Schildkröte”

Eine Warnung vorneweg: Das ist ein Buch für Erwachsene. Aber nicht für Erwachsene, die fürchten, „Michel von Lönneberga“ könnte blonde Schwedenbuben diskriminieren. Bevor aber falsche Erwartungen geweckt werden: Erwachsenenbuch meint nicht Erwachsenenbuch im Sinne Erwachsenenfilmecke. Es geht um Geschichten und nichts anderes als das – Geschichten jedoch, die düster, morbide, lasziv, exzessiv und hintersinnig sind.

„Als ich zwanzig Jahre alt war, wusste ich bestimmt: mir kann keine Frau etwas vormachen.
Als ich dreißig alt war, war ich dessen nicht mehr ganz so sicher.
Heute weiß ich: man lernt nie aus bei den Frauen. Immer neue Kunststücke hecken sie aus, um die männliche Tugend zu Fall zu bringen.“

Würde man politische Unkorrektheit als einen Maßstab anlegen, dann hätte Hanns Heinz Ewers (1871-1943) sein Maß mehr als erfüllt: Der deutsche „Edgar Allen Poe“ – dieser Ruf eilte ihm zu seiner Zeit voraus – schreckte vor nichts zurück. Kannibalismus, Voodoo-Kult, Rachemord und Mundraub, Drogenexzesse und andere Süchte waren seine Themen, degenerierte Adelige, rachsüchtige Halbseidene und weitere sinistre Gestalten sein literarisches Personal, Sodom und Gomorrha seine Zweitadresse.

Schriftsteller-Star und Skandalautor

Im wahren Leben ließ er es ebenfalls krachen – ein schillernder Wanderer zwischen den Milieus und Kontinenten, einer, der sowohl auf Reisen in der Außenwelt als auch in die Innenwelt Grenzen überschritt. Einer, der international berühmt und berüchtigt war für Leben und Werk, und ab 1900 bis zum Ende der Weimarer Republik zu den Schriftsteller-Stars zählte: Ein skandalträchtiger Autor, ein Exot selbst in den „Goldenen Zwanzigern“, in denen es an Exzentrikern nicht mangelte. Freund von Erich Mühsam, Liebhaber von Else Lasker-Schüler, ein Lieblingskind der Boheme. Immer aber auch zwischen den Stühlen, für einen Aufruhr gut – Jünglinge fielen bei seinen Lesungen in Ohnmacht, die Damen der Unter-, Halb- und sonstiger Welt ihm zu Füßen. Und er kostete das alles reichlich aus – um letztendlich diese Lebenserfahrungen in Literatur zu wandeln.

„Meine Herrn, wir stehn in zwei Lagern, zwischen denen es eine Einigung nicht gibt. Sie vertreten den großen Humanitätsglauben, dass das Wohl des gesamten Menschengeschlechtes das einzige Kriterium sei, nach dem alle Dinge gemessen werden sollten. Mir dagegen ist das Wohl und Wehe der Menschheit vollständig gleichgültig.“

Zuletzt überspannte selbst er jedoch den Bogen deutlich, als er sich den Nationalsozialisten andiente, vielleicht auch von deren „esoterischen“ Seite, verkörpert durch Himmler & Co., stark angezogen fühlte – um dann dennoch die Verbrennung seiner „dekadenten“ Schriften miterleben zu müssen.

Einer der Vergessenen der deutschen Literatur

Heute gehört er zu den Vergessenen der deutschen Literatur. Auch der wunderbar aufgemachte Band „Lustmord einer Schildkröte“, der 2014 als Band 356 bei der Anderen Bibliothek erschien, hat noch nicht zu der vielleicht erhofften Ewers-Renaissance geführt – die Rezensionen in den Feuilletons der größeren Zeitungen sind überschaubar, Besprechungen kaum zu finden.

Die abseitig-abgründige Themenwahl, die Kollaboration mit den Nationalsozialisten – sie verstellen heute wahrscheinlich den Blick auf das Werk. Dass HHE im Auftrag Hitlers ein Horst-Wessel-Buch schrieb (das jedoch missfiel und verboten wurde), erscheint heute – auch mit dem Hinweis, dass Ewers streckenweise ein von Drogen verwirrter, schillernder Vogel war – nur schwer entschuldbar.

„Ich möchte im Gegenteil behaupten, dass ich, insbesondere unter Künstlern, das Individuum noch nicht kennengelernt habe, das bis in den letzten Grund psychisch eingeschlechtlich zu nennen gewesen wäre. Unsere Mannheit in allen Ehren, aber sie hindert nicht, dass überall und immer wieder das Weibliche in uns zum Durchbruch kommt.“

Zeitweise sonnte er sich neben Hitler

„Es ist nicht auszuschließen, dass der etwas drogenzerrüttete Ewers die Nationalsozialisten kurzzeitigen mit seinem künstlerischen Ich des Nazi-Draufgängers der 1890er-Jahre kontextualisiert“, schreibt Sven Brömsel in seinem informativen Nachwort zu „Lustmord einer Schildkröte“. 1890 stand das Nazi noch weitaus unverfänglicher für einen lausbubenhaften Typen. Jedenfalls: Ewers, 1932 in die NSDAP eingetreten, wird zwar als NS-Pressereferent für das Ausland eingesetzt, von vielen Nazi-Größen jedoch als suspekt und dekadent betrachtet. Und muss die Mesalliance teuer bezahlen: Verbrennung der Bücher, Veröffentlichungsverbot, durch die Nähe zu Röhm gerät Ewers auf die SS-Todeslisten und muss schließlich untertauchen. Und er bezahlt posthum bis heute – sein schillerndes Auftreten, als er sich noch neben Hitler und Goebbels sonnte, verdeckt seinen Einsatz für Opfer des Regimes, denen er zum Untertauchen und zur Flucht verhalf. Und es verdeckt bis heute den Blick auf sein Werk.

„Bittsteller ist in seiner Eigenschaft als Schulinspektor – in vierzehn Gemeindeschulen, einer Realschule, einer Bürgermädchenschule und einem Lehrerseminar – häufig Zeuge der schamlosesten Vorgänge. Unter Anleitung der Lehrer, die darin nur den vorgeschriebenen Unterrichtsbüchern folgen, werden die jungen Seelen genötigt, das Geschlechtsleben der Pflanzen bis in die kleinste Einzelheit zu studieren. Ohne mit der Wimper zu zucken, führt der Lehrer die reinen Gemüter in einen Pfuhl des Lasters, in ein Sodom der unerhörtesten Perversionen.“

Aber seine Literatur war frei von der nationalsozialistischen volkstümelnden Ideologie, frei von Blut-und-Boden-Romantik, wenn auch nicht frei von rassistischen Anwandlungen. Letztere sind einesteils im Kontext der Zeit zu werten, andererseits gehören sie aber auch zur Kunst der Provokation, die Ewers pflegte. Ein ständiger Tabubrecher, der politische Korrektheit ad absurdum führte und in seinen Texten versuchte, die moralische Basis seiner Leser zu erschüttern. Er war ein Weltbürger und Überschreiter von Grenzen – im Leben schritt er jedoch oftmals leider auf die falsche Seite. Seine letzten Worte an seine Sekretärin waren: „Jennylein, was war ich für ein Esel!“

Zu dekadent die Themenauswahl

Die politischen Verwirrungen, aber auch die Einordnung als „Paradiesvogel“, vielleicht auch als Zeiterscheinung einer dekadent anmutenden Ära sind es, die eventuell bis heute den Zugang erschweren. So meint man auch bei der Hanns-Heinz-Ewers-Gesellschaft, HHE sei vergessen, weil:

Dafür gibt es eine ganze Reihe von ernstzunehmenden Gründen. Schon zu Lebzeiten wurde Ewers mit heftigen Vorwürfen konfrontiert: Zu dekadent war seine Themenwahl, die kaum ein Tabu der damaligen Zeit ausließ. Später kollaborierte er fatalerweise mit dem Dritten Reich, freilich ohne dabei sein Engagement für die Gleichberechtigung der Juden aufzugeben.

Ewers, der seine künstlerische Laufbahn als Kabarettist begann, saß stets zwischen allen Stühlen. Er schrieb erfolgreich satirische Fabeln, in denen er scharfzüngig das Spießbürgertum attackierte, im gleichen Atemzug veröffentlichte er liebevoll gestaltete Märchenbücher für Kinder. Mit der meisterhaften Schilderung der Femme Fatale “Alraune” erlangte er Weltruhm und avancierte zum meistverkauften deutschen Autor seiner Zeit. Außerdem ging Ewers als einer der ersten Filmpioniere in die Geschichte ein, mit “Der Student von Prag” erfand er den Autorenfilm und schrieb Dutzende Drehbücher, bis er schließlich von den Nazis Schreibverbot erhielt und damit bis zu seinem Tode praktisch mundtot gemacht wurde.

Der Einfluss von Hanns Heinz Ewers auf die phantastische Literatur, insbesondere in Frankreich und den USA, darf nicht unterschätzt werden. In Deutschland half er, die Geisteshaltung und die Mentalität der Weimarer Republik und der “Goldenen Zwanziger” zu prägen: Zu auflagenstark waren seine Romane, zu präsent war seine persönliche Erscheinung im öffentlichen Leben, um übersehen zu werden. Selbst Bertolt Brecht sah sich gezwungen, sich mit dem “Fachmann für Entschleierung” auseinanderzusetzen. Dennoch findet Ewers in der herkömmlichen Literaturgeschichtsschreibung nicht mal als Fußnote Erwähnung.

Lässt man alle Vorbehalte beiseite, so kann man mit „Lustmord einer Schildkröte“ tatsächlich eine literarische Welt entdecken, die lustvoll in ein dunkles Fantasia entführt. Aus dem enormen Œvre Ewers, der unheimlich, fast schon magisch produktiv war, haben Marcus Born und Sven Brömsel eine Auswahl aus den Erzählungen getroffen, die die ganze düstere und zugleich kunterbunte Welt abbilden, die diesem herrlich ver-rückten Schriftstellergehirn entsprungen sind.

Ein Blick in die Abgründe der menschlichen Psyche

„Mit seiner Leidenschaft für die Abgründe der menschlichen Psyche, der entgrenzenden Erotik und der Schilderung von Spielarten des Todes provoziert Ewers seine Leser.“ Dies als Zitat aus dem Verlagstext. Zwischen „Schwarzer Romantik“ und „Bildmagischer Avantgarde“ finden sich aber auch kurze Prosastücke, in denen Ewers in der Manier à la Tucholsky und Ringelnatz sowohl Spießbürgertum als auch Hautevolee karikiert, die großes Vergnügen bereiten – sei es die Petitesse „Sie haben meine Mutter gekannt…“, der spielerisch-versponnene „Lustmord einer Schildkröte“ bis hin zu „Die Petition“ und der leise-melancholischen Erzählung vom ehrgeizigen, aber einsamen Briefkasten.

Tatsächlich erreichen es die Erzählungen bis heute noch, dass man als Leser ab und an mit dem Atem stockt, eigene Positionen hinterfragt oder einfach auch voyeuristisch auf die Seiten linst. Es sind Geschichten – abgründig, lebenssatt, grenzüberschreitend, augenblinzelnd, mitreißend. Korrekte, fade, blutleere Geschichten gibt es genug – und deshalb empfehle ich: HHE lesen.

Informationen zum Buch:

Hanns Heinz Ewers
Lustmord einer Schildkröte
Die Andere Bibliothek, 2014
ISBN: 978-3-8477-0356-3

Oskar Maria Graf: Anton Sittinger. Ein satirischer Roman

„Anton Sittinger” erschien 1937, fünf Jahre nach dem „Bolwieser“. Die Romane von Oskar Maria Graf gehören zusammen: Darstellungen des spießigen Kleinbürgers.

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Schnell vorbei ist es mit der bayerischen Gemütlichkeit, wenn im Wirtshaus über Politik palavert wird. Bild von RitaE auf Pixabay

„Menschen wie Sittinger gibt es in allen Ländern. Abertausende. Ihre Zahl ist Legion. Alle Gescheitheit und List, aller Unglaube und alle Erbärmlichkeit einer untergehenden Schicht ist in ihnen vereinigt. In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“. Dennoch wird niemand daran glauben, daß er auch zu ihnen gehört. Er würde sich schämen und belächelt sie verächtlich. Er weiß nicht, daß diese Verachtung ihn selber trifft. Sie erscheinen harmlos, und ihr giftiger Egoismus gibt sich stets bieder. Sie sind die plumpsten und verheerendsten Nihilisten unter der Sonne.

Oskar Maria Graf, “Anton Sittinger”

Nein – dies ist kein Portrait einer dieser Menschen, die derzeit durch deutsche Straßen ziehen und skandieren „Wir sind das Volk“. Aber es könnte einer von ihnen sein, der hier beschrieben ist – so genau, so haarscharf hat Oskar Maria Graf (1894 geboren am Starnberger See, 1967 verstorben in New York) den verbitterten Kleinbürger, den opportunistischen Mitläufer gezeichnet. Ein Typ, den es heute gibt, den es morgen immer noch geben wird, den es zu Zeiten von Oskar Maria Graf en masse gab und der letztendlich in all seiner Banalität das Böse zuließ.

„Anton Sittinger. Ein satirischer Roman“ erschien erstmals 1937, fünf Jahre nach dem „Bolwieser“. Beide Romane können oder sollten in Zusammenhang gelesen werden – es sind seine „Spießer-Romane“, in denen er scheinbar banale Lebensläufe, durchschnittliche Einzelschicksale nimmt, um an ihnen die Mechanismen der Kleinbürgerseele zu zeigen. Und auch, um deutlich zu machen, wie die Politik sich auf den Einzelnen auswirkt und, wie – vive versa- der Einzelne mit seinen Entscheidungen die Politik mitprägt.

Charakterisierung des Spießertums

Beide Romane sind treffende Charakterisierungen der „kleinen Leute“, die mit ihrer Unterwürfigkeit nach „oben“ und dem Treten nach „unten“ letztlich das gemeinschaftliche Zusammenleben prägen. Eine Variation und spätere Fortsetzung der von Heinrich Mann im “Professor Unrat” und dem “Untertan” beschriebenen Typen.

Instinktiv hassen sie den sozial Benachteiligten, den Arbeiter und Armen, und ihr tückischer Haß wird sofort zur unversöhnlichsten Feindschaft, sobald sie merken, daß sie bei einer unsozialen Umwälzung etwas einzubüßen hätten. Deswegen ist ihnen die wirkliche Demokratie ein Greuel. Darum sind sie so schrullig konservativ, so stockreaktionär und meist monarchistisch.“

Fokussiert sich der Bolwieser noch vor allem auf die Szenen einer Ehe, ist „Anton Sittinger“ ein durch und durch politischer Roman: Graf, ab freiwillig 1933 im Exil, nachdem er zuvor von den Nationalsozialisten verlangt hatte, auch seine Bücher zu verbrennen, zeichnet am Werdegang des Sittinger die Entwicklung eines Postinspektors von der Münchner Räterepublik bis zur Wahl Hitlers und der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten nach.

Hitler spaltet auch die Dorfgemeinde

Sittinger verabscheut sie eigentlich alle – die „roten Revoluzzer“ und den braunen Abschaum. Was er vor allem will, ist seine königlich-bayerische Ruhe – auch vor der gut deutsch-hysterischen Ehegattin, die für schmucke blonde Männer in Uniform entbrennt – und das Zusammenhalten seines Geldsäckels. Den Unruhen in München glaubt er entkommen, als er nach der lang ersehnten Pensionierung ein Haus auf dem Lande erwirbt. Doch auch dort holt ihn „die Politik“ wieder ein: Im Wirtshaus werden die Nachrichten debattiert, das Dorf spaltet sich bald in Anhänger und Gegner Hitlers.

Sittinger spürt, er muss sich entscheiden und positionieren, will er an der neuen Zeit teilhaben beziehungsweise nicht der Rachlust des örtlichen Nazis ausgeliefert sein. Da hilft auch sein pseudophilosophisches Spinnisieren nicht, nicht die – freilich meist falsch und für eigene Zwecke mißbrauchte – Inanspruchnahme philosophischer Leitsätze von Seneca über Schopenhauer bis Macchiavelli. Der kleinmütige, eigensüchtige Zögerer, ein Wendehals, springt unter äußerstem Druck letztendlich auf den nationalsozialistischen Zug auf – getrieben vor allem von einem Motiv: Seine Ruhe zu erhalten.

Graf, der kraftvolle Volksschriftsteller

In beiden Romanen zeigt sich Oskar Maria Graf als der kraftvolle Volksschriftsteller, der wie wenig andere das dörfliche und kleinstädtische Leben auf dem bayerischen Lande mit Bildern zu füllen vermochte: Da geht es mitunter durchaus krachledern bis hin zu saukomisch zu, die Figuren sind einerseits satirisch leicht überzeichnet, andererseits lebendig und lebensecht.

“Beim Begräbnis des Toni füllte sich der ganze Friedhof. Grimmig schauten die Bauern drein. Laut weinten Weiber und Kinder, und viele Kränze wurden auf das Grab gelegt. Alle Ehren wurden den Toten erwiesen, doch diesmal kling die Predigt des Pfarrers wehleidig. Der Grimmenmoser hatte eine Grippe vorgeschützt und war nicht zu sehen.
Hernach, in der Postwirtsstube, schimpften die Reitlmooser verdrossen über diese „braune Sauwirtschaft“. Immer wieder hieß es, der Hitler sei nichts für einen Reichskanzler.
„Und überhaupt – Bayern bleibt Bayern! Was wir machen, geht keinen Preußen was an!“ schloß der Pflögl.
Eine mißgünstige Bedrückung machte sich breit.
„Unsere Minister sind auch Hosenscheißer! Wenn`s Männer wären, täten`s einfach vom Reich weggehn und die ganze Hakenkreuzlerschippschaft `nausjagen…Meinetwegen alle zu den Preußen! Alsdann wär` gleich eine Ordnung!“ murrte der Kergler. „Aber mein Gott, wenn nirgends Männer sind!“
Alle nickten und schauten trüb geradeaus.”

Das Zitat zu Eingang des Blogbeitrags ist eher atypisch für den Roman – hier, in der Mitte des Buches, nutzt Graf den Raum, um den beschriebenen Typ zu analysieren, auch um seine eigene Haltung diesem Menschenschlag gegenüber, der sich durch Nichthandeln schuldig macht, zu verdeutlichen. Graf beschreibt die „kleinen Leute“ zwar einerseits voller Empathie – jeder habe einen inneren Kleinbürger und Schweinehund in sich: „In manchen Zeiten heißen sie „du“ und „ich“…“. Andererseits zeigt er sich auch resigniert, glaubt nicht an einen Wandel der Menschheit: „Ich glaube, daß man die Sittingers im besten Falle neutralisieren kann, aber nichts weiter.“

Wie recht er doch hatte, schaut man heute nach Dresden, Leipzig oder anderswo…

Joachim Sartorius: Niemals eine Atempause

Das „Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert“ ist ein lyrischer Atlas der Auseinandersetzungen, aber auch der Ideale und Utopien unserer Zeit.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Und die Geschichte ist auch nicht
der zerstörerische Bulldozer wie behauptet wird.
Sie hinterlässt Unterführungen, Grüfte, Löcher
und Verstecke. Manche überleben.

Aus: „Die Geschichte, II.“ von Eugenio Montale

Das Gedicht des italienischen Nobelpreisträgers für Literatur ist in voller Länge und in der deutschen Übertragung durch Michael von Killisch-Horn dieser Anthologie vorangestellt:

„Niemals eine Atempause“, Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Joachim Sartorius


60 Jahre Grundgesetz, 50 Jahre Vertrag von Rom, 25 Jahre Mauerfall – die Jubiläen der vergangenen Jahre waren stets begleitet vom Hinweis, dass Europa die langanhaltendste friedliche Periode seit Menschengedenken erlebt. Wie fragil das Ganze jedoch ist, das zeigen die Ereignisse an der Peripherie, der Bosnienkrieg, die Auseinandersetzungen in der Ukraine. Und außerhalb des europäischen Kontinents bleibt Frieden immer noch eine ferne Utopie. Es gibt in diesen Tagen auf der Welt so viele Kriege und regionale Konflikte wie lange nicht. Wer jedoch beispielsweise die Auseinandersetzungen in Afrika rein als innerkontinentales Konfliktthema verortet, sollte sich daran erinnern: Viele dieser Auseinandersetzungen, die uns hier wenig (be-)kümmern, sind (auch) späte Früchte europäischer Kolonial- und Eroberungspolitik, Früchte des Zorns, ein Erbe vor allem des 20. Jahrhunderts.

Auf der Insel der europäisch Friedlich-Seligen schadet der Blick zurück freilich niemals: Die Hoffnung, dass aus dem Vergangenen gelernt wird, stirbt zuletzt. Und da ist das 20. Jahrhundert eines, das zweifelsohne und über die beiden Katastrophen der zwei Weltkriege hinaus, Konflikt- und Verarbeitungsstoff ohne Ende bietet. Zumal die Jubelfeiern übertünchen, dass längst nicht alles schwarz-rot-gold ist, was da glänzt. Aus der Geschichte lernen – was wurde gelernt?

Friedensnobelpreisträger Gorbatschow äußerte sich dieser Tage enttäuscht, spricht von einem Zusammenbruch des Vertrauens, einem Neubeginn des Kalten Krieges. Welche Verantwortung übernimmt dabei das Land der Dichter&Denker in der Welt – das Land, das trotz Aufklärung und Sturm&Drang im 20. Jahrhundert zweimal zurück in die tiefste Barbarei steuerte?

Kunst als Tochter der Freiheit?

Und welche Rolle übernehmen die Dichter&Denker? Ist die Kunst, frei nach Schiller, eine Tochter der Freiheit? Sind Kunst und Politik verwandt, verbunden oder getrennte Wesen? Kann man dann, wo die Worte unzureichend erscheinen, Gedichte machen? Oder muss man gerade darum ringen, das Unfassbare in Worte zu fassen?

Hierzu Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“:

„Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ihnen verstattet wird, nicht vielleicht einen besseren Gebrauch machen können, als Ihre Aufmerksamkeit auf dem Schauplatz der schönen Kunst zu beschäftigen? Ist es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein so viel näheres Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?

Ich möchte nicht gern in einem andern Jahrhundert leben und für ein andres gearbeitet haben. Man ist ebenso gut Zeitbürger, als man Staatsbürger ist; und wenn es unschicklich, ja unerlaubt gefunden wird, sich von den Sitten und Gewohnheiten des Zirkels, in dem man lebt, auszuschließen, warum sollte es weniger Pflicht sein, in der Wahl seines Wirkens dem Bedürfnis und dem Geschmack des Jahrhunderts eine Stimme einzuräumen?“

Was also haben die Dichter zum gewalttätigen zurückliegenden Jahrhundert zu sagen?

Krieg ohne Atempause

Eine lange Vorrede zu einem besonderen Buch: In „Niemals eine Atempause“ stellte Joachim Sartorius als Herausgeber ein „Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert“ zusammen. Dieser lyrische Atlas, in dem sich Gewalttätigkeiten, Katastrophen und Morde ebenso wie der Wille zum Aufbruch, zur Veränderung, der Wunsch nach anderen Verhältnissen niederschlagen, lässt die Stimmen von mehr als 100 Poetinnen und Poeten erklingen: Von Wort- und Schriftführern ihrer Ideologie, Mitläufern und willfährigen Hofdichtern bis hin zur „Schreckenskammer“ der dichtenden Diktatoren und Despoten einerseits, von Widerständlern, Mahnern, Moralisten und Kritikern der Macht andererseits. Erfreulicherweise ist das Buch nicht eurozentrisch, greift ebenso Konflikte auf, die das 20. Jahrhundert auch in anderen Teilen der Welt prägten: Die lateinamerikanische Befreiungsbewegung, der Kampf gegen die Apartheid, die Kriege in Asien, Vietnam und chinesische Kulturrevolution bis hin zum Nahen Osten. Großen Raum nehmen aber selbstverständlich die beiden Weltkriege, Holocaust und Todeslager, Kalter Krieg und Wiedervereinigung (siehe dazu der vorhergehende Beitrag) ein. Jedem Kapitel ist eine Einführung zu Politik und Geschichte vorangestellt, zudem werden etliche Gedichte, vor allem die derjenigen Dichter mit hermetischerer Ausdrucksweise, kurz erläutert und interpretiert.

Das Buch ist chronologisch angeordnet und beginnt mit dem Genozid an den Armeniern (1909-1918) und endet nach einem Kapitel über „Die grüne Utopie“, die das Ende des 20. Jahrhunderts prägte, mit einem Epilog durch Bob Dylan: „Masters of War“. Die „Schreckenskammer“ mit „Gedichten der Despoten“, darunter Stalin, Mussolini, Mao Tse-Tung, ist dem Ganzen abseits als Anhang beigestellt.

Geschichtsschreibung ist nie objektiv

Soviel zum Formalen. Zum Inhaltlichen: Geschichtsschreibung ist niemals objektiv. Lyrik sowieso überhaupt nie. Und jede Auswahl wird von einem Subjekt getroffen. So ist dieses Handbuch der politischen Poesie eben auch eng mit der Person des Herausgebers verknüpft, ein Abbild seiner Entscheidungen. Sartorius („Jurist, Diplomat, Theaterintendant, Lyriker und Übersetzer“ in der bei „Wikipedia“ aufgeführten Reihenfolge), scheint dafür die richtige Wahl: Einer, der sich in der Lyrik auskennt wie in seinem eigenen Zuhause, gebildet, kosmopolitisch geprägt, ein Humanist, ja, durchaus ein Poesie-Diplomat, dem man ausgewogene Entscheidung zutraut, auf dessen Auswahl man sich also auch bei diesem Handbuch stützen mag. In seinem Vorwort umreißt Sartorius kurz das Verhältnis von „Poesie und Macht“:

„Es scheint im Rückblick, gerade dieses Jahrhundert war so beschaffen, dass die Intellektuellen, die Künstler, die Schriftsteller Partei ergreifen mussten. Und die Dichter? Sie bewegen sich in einem besonderen Spannungsfeld. Per definitionem ist der Dichter ein Einsamer, auf dem Rückzug, in Betrachtung versunken. Wenn er die Probleme der Epoche nicht aufgreift, scheint sein Werk ohne Nutzen, wie disqualifiziert.“

Sartorius Anliegen war es, unter dem Meer politischer Gedichte – und letztendlich wäre ja jedes Gedicht als Ausdruck einer menschlichen Befindlichkeit per se politisch – jene beiseite zu lassen, die „dem Zeitgeist verpflichtet, ohne Dauer“ sind. Er begrenzt die Auswahl auf jene, die „politisch“ in dem Sinne sind, dass sie ein politisches (geschichtliches) Thema aufgreifen beziehungsweise eine politische Absicht verfolgen. Schwieriger schon die Entscheidung, was ein „gutes politisches“ Gedicht nun sei:

„Fast immer überschneiden sich Ethik und Ästhetik in einem politischen Gedicht.“

Sartorius weiter:

„Im 20. Jahrhundert wurde aber „angesichts des Schreckens, der sich darin abspielte, bald deutlich“, so Matthias Göritz, „dass diese Haltung so nicht mehr einzunehmen ist. Wörter sind nicht unschuldig, gerade die Dichter wissen das.“ So wurde eine Richtung immer stärker, die sich sowohl vom hermetischen Text wie vom lyrischen Subjektivismus abgrenzte und versuchte, Fakten sprechen zu lassen, also zu erzählen und zu argumentieren, ohne den dem Gedicht spezifischen Empfindungsgeist und seine Erregungskunst hinter sich zu lassen. In diesem Rahmen gibt es Gedichte mit guter Botschaft und von zweifelhafter Machart, und es gibt gute Gedichte mit zweifelhafter Botschaft. Das Urteil, ob es sich um ein Kunstwerk handelt, muss ästhetisch gefällt werden und ist letztlich ganz subjektiv. Ich habe versucht, Gedichte aufzunehmen, die sich politische Themen vornehmen, keine einfache Moral haben und imstande sind, Komplexität des Nachdenkens und der Gefühle zu erzeugen.“

Unter dieser Maßgabe ist diese subjektive Auswahl für das Handbuch – Herausgeber und Verlag weisen darauf hin, dass es die erste Gedicht-Anthologie zur politischen Poesie des 20. Jahrhunderts sei – durchaus gelungen. Doch weit mehr als das Anliegen, sich mittels eines Handbuches einen ersten Überblick zu verschaffen, zählt dieser Gedanke:

„Leiden duldet kein Vergessen“

Denn letztlich rufen diese Gedichte, die auch von persönlichem Leid, Verlusten, aber auch Versagen und Ängsten angesichts menschlicher Gewalt erzählen, vor allem in Erinnerung, wie dünn das zivilisatorische Eis bleibt, auf dem wir in scheinbar friedlichen Zeiten dahingleiten. Dass es nach barbarischen Zeiten auch weiterhin Gedichte geben muss, um der Barbarei, wenn möglich, vorzubeugen. Sartorius endet sein Vorwort damit:

„Dieses Handbuch soll zeigen: Es gibt keine Aneignung der Geschichte durch Gedichte. Aber Gedichte kommentieren die Zeitläufte, sie zeigen Entsetzen, sie klagen an oder sie rufen auf, sie können „eine Schule für Güte, Sühne, Reue und Vergebung sein“ (Zbigniew Herbert in seiner Dankesrede für den Preis der Europäischen Poesie, 1997). Vor allem zeigen sie das Vertrauen ihrer Schöpfer, dass die Worte langfristig auf das Bewusstsein wirken und am Ende Wirklichkeit stärker modellieren als Geschichtsbücher oder politische Entscheidungen.“

Nicht aufgenommen in das Handbuch hat der Herausgeber übrigens eines seiner eigenen Gedichte, dessen Titel lautet: „Im Vernichtungsbuch“. Es beginnt mit diesen Zeilen:

Daß die Bäcker ihre weißen Hände ausziehen.
Daß die Metzger vor den Tieren sterben.
Daß die Dichter einen nutzlosen Mund haben,
den sie rund machen und breit ziehen.
Das steht im Vernichtungsbuch geschrieben.


Bibliographische Angaben:

Joachim Sartorius (Hrsg.)
Niemals eine Atempause
Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert
Kiepenheuer & Witsch, 2014
ISBN: 978-3-462-04691-5