Thomas Mann mal ganz zuckersüß: Als “hochgezüchteter Marzipan-Mann” aus Lübeck.
Zugegeben: Es gibt in Lübeck bedeutsamere Orte für Literaturliebhaber als das Obergeschoss des Cafés Niederegger. Das Buddenbrookhaus natürlich. Das Günter Grass-Haus beispielsweise. Oder man spaziert mit der entsprechenden Appgemeinsam mit Thomas, Christian und Tony an alle jene Orte in der Hansestadt, die im ersten Roman von Thomas Mann eine bedeutende Rolle spielen.
Aber auch bei diesem Gang durch die Altstadt kommt man an dem Café, dessen Name durch eine Lübecker Spezialität weltberühmt wurde, kaum vorbei. Im 2. Stock wartet das Haus in seinem Marzipan-Museum mit einer besonderen Überraschung auf: Mann in Marzipan. Kaum zu glauben: Der strenge Thomas zuckersüß (aber beileibe nicht zum Anbeißen).
Er befindet sich dort als lebensgroße Marzipanfigur in ungewöhnlicher Gesellschaft, als Marzipan-Liebhaber residierend zwischen Wolfgang Joop und Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen. Freilich, über die künstlerische Ausgestaltung lässt sich streiten. Und auch darüber, ob Thomans Mann tatsächlich ein so großer Liebhaber dieser (und anderer) Süßigkeiten war, wie es der Museumstext suggeriert. Denn Mann beschrieb beispielsweise die weihnachtliche Mandel-Crème der Buddenbrooks als “üppige Magenbelastung aus Mandeln, Zucker und Rosenwasser” und vermutete bei Marzipan, dass das Rezept “zu diesem Haremskonfekt über Venedig an irgendeinen alten Herrn Niederegger nach Lübeck gekommen ist”.
Für was das “Haremskonfekt” nicht alles herhalten musste unter Literaten! 1910 beschimpfte Theodor Lessing seinen Kollegen aus der Hansestadt als “hochgezüchteten Marzipan-Mann”. Thomas Mann soll gelassen reagiert haben.
Wer Lust hat, sich selbst an der Mandel-Crème zu versuchen: Marion von den Blogs “Schiefgelesen” und “Schiefgegessen” hat sich an dem Rezept versucht: Mandel-Crème aus Thomas Mann “Buddenbrooks”.
Anton Tschechow weilte zwar nur wenige Wochen in Badenweiler. Dennoch entwickelte sich der Kurort zur einzigen europäischen Tschechow-Gedenkstätte von Rang.
Nachbildung des 1918 eingeschmolzenen Tschechow-Denkmals. Alle Bilder: Birgit Böllinger
„Badenweiler ist ein sehr origineller Kurort, aber worin seine Originalität besteht, ist mir noch nicht klargeworden. Eine Menge Grün, der Eindruck der Berge, es ist sehr warm, die Häuschen und Hotels, die als Villen im Grünen stehen. Ich wohne in einer kleinen Villen-Pension mit viel Sonne (bis 7 Uhr abends) und einem großartigen Garten, wir zahlen 16 Mark pro Tag für beide (Zimmer, Mittagessen, Abendessen, Kaffee). Wir werden gewissenhaft verpflegt, sehr sogar. Aber ich kann mir vorstellen, welche Langeweile hier im allgemeinen herrscht! Heute übrigens regnet es seit dem frühen Morgen, ich sitze im Zimmer und höre zu, wie unter und über dem Dach der Wind pfeift.“
Anton Pawlowitsch Tschechow an W.M. Sobolewski am 25. Juni 1904
Ebenfalls an einem Sommertag, nur 115 Jahre später, verschlägt mich ein Zufall nach Badenweiler. Der Ort wirkt auch heute noch originell, wenn er auch an denselben Krankheiten wie viele andere Kurorte zu leiden scheint. Das Grandhotel am Schlossplatz liegt verlassen da. Stillstand. Belebt werden die Straßen und Plätze vor allem von den französischen Tagesgästen, die es zur Therme zieht. Ein Hauch gepflegter Langeweile liegt in der Luft. Und dennoch scheint das Städtchen im Südschwarzwald auch heute noch anziehend für die Prominenz: Der Fernsehmann Horst Lichter hat sich hier niedergelassen, ebenso wie Rüdiger Safranski, der seit Jahren dafür sorgt, dass die Badenweiler Literaturtage mit hochkarätigen Namen glänzen können.
Seit 2015 gibt es zudem im Rathaus eine weitere literarische Attraktion: Ein literarisches Museum, kostenfrei zugänglich, sorgfältig aufgemacht und interessant präsentiert. Sein Kern ist ein seit 1998 bestehender „Tschechow-Salon“, das einzige deutsche und westeuropäische Museum, das so umfangreich an den russischen Dramatiker und Schriftsteller erinnert. Durch die Erweiterung des Museums eröffnet sich inzwischen auch der Blick auf die vielen bekannteren Kurgäste, die dem Ort in der Vergangenheit einen Hauch von Mondänität und Intellektualismus verliehen: Unter anderem kurten hier bereits Stephen Crane, Hermann Hesse, Gabriele Wohmann (die in Tschechows Sterbehotel mit dem Roman „Frühherbst in Badenweiler“ begann), Theodor Heuss und Indira Gandhi. Albert Fraenkel ließ sich im Ort als Landarzt nieder und René Schickele, Annette Kolbe sowie Oskar Schlemmer bildeten eine Art Künstlerkolonie, die häufig von Thomas Mann und Hermann Kesten besucht wurde.
Doch aus diesem „name dropping“ ragt ein Name heraus: Tschechow, der eigentlich nur wenige Monate seines Lebens hier verbrachte. Allerdings seine letzten Tage und Wochen: Er war bereits schwer von der Tuberkulose gezeichnet, als er im Juni 1904 auf Anraten eines Arztes mit seiner Frau Olga – die er erst drei Jahre zuvor geheiratet hatte – in den badischen Kurort kam. Nur kurz bekam ihm das milde Klima wirklich gut. Mitte Juli 1904 hatte er mehrere Schwächeanfälle, schließlich starb er am 15. Juli. In ihren Memoiren schrieb Olga Knipper über die letzten Minuten ihres Mannes:
„Kurz nach Mitternacht wachte er auf und bat erstmals in seinem Leben selbst darum, einen Arzt zu holen (…) Es kam der Doktor, verfügte, ein Glas Champagner zu bringen. Anton Pawlowitsch setzte sich auf und sagte irgendwie bedeutungsvoll, laut zu dem Arzt auf deutsch (er konnte nur sehr wenig Deutsch!): ‚Ich sterbe…‘ Dann nahm er das Glas, wandte sich zu mir und sagte: ‚Lange keinen Champagner mehr getrunken …‘, trank in aller Ruhe aus, legte sich still auf die linke Seite und war bald für immer verstummt.“
Das Ehepaar war zunächst im mondänen Hotel Römerbad – jenes Grandhotel, das heute mitten am zentralen Schlossplatz leer steht – abgestiegen, dort aber wollte man Lungenkranke offenbar nicht dulden. Vom Hotel, dass den Tschechows zu pompös war, wechselte man in das Traditionshaus „Sommer“, das als Gasthaus bereits 1620 gegründet worden war. Am Balkon seines ehemaligen Zimmers erinnert eine Plakette an den Schriftsteller, der dort verstorben war.
Das Gedenken an Tschechow hat in Badenweiler durchaus eine wechselhafte Geschichte: Bereits 1909 errichteten Verehrer des Schriftstellers ein Denkmal für ihn in Badenweiler, das erste überhaupt außerhalb Russlands. Die Bronzeskulptur wurde 1918 eingeschmolzen: Der Krieg forderte seine Opfer, auch in dieser Weise. Unter den Nationalsozialisten war die Erinnerung an einen sozialkritischen, russischen Schriftsteller von vornherein verpönt. Im Kalten Krieg gestalteten sich Versuche, erneut ein Tschechow-Denkmal zu errichten, ebenso schwierig.
Badenweiler auch Sitz der deutschen Tschechow-Gesellschaft
So dauerte es Jahrzehnte, bis die Erinnerungsarbeit wieder Schwung aufnehmen konnte – heute ist Badenweiler nicht nur Museumsort, sondern auch Sitz der deutschen Tschechow-Gesellschaft. Auf deren Seiten ist ausführlich nachzulesen, was den Schriftsteller und den badischen Kurort verbindet:
„Seit Anfang der 1970er Jahre hat Badenweiler die Zusammenarbeit mit der deutschen universitären Slavistik wie auch mit russischen Institutionen gesucht. Ein großer Teil des frühen musealen Bildbestandes kam so 1979 als Geschenk des Moskauer Tschechow-Zentralmuseums nach Badenweiler. Seither verging kein Jahr in Badenweiler, ohne dass die moderne internationale Tschechow-Rezeption in Badenweiler ihre Spuren hinterlassen hätte.“
Und es ist gut so, dass die Tschechow-Rezeption dort ihre Spuren hinterlässt und von Badenweiler aus ausstrahlt: Denn Anton Pawlowitsch Tschechow ist weit mehr als der vielgespielte Dramatiker, den man mit der Möwe und dem Kirschgarten in Verbindung bringt. Vor allem ist er ein ausgezeichneter Geschichtenerzähler gewesen: Seine Erzählungen und Novellen wirken bis heute frisch und modern, glänzen durch seinen subtilen Humor, vor allem aber durch Tschechows Menschenliebe. Tschechow, selbst Enkel eines Leibeigenen und aus kleinen Verhältnissen kommend, wurde zwar nie offen politisch in seinem Schreiben, zeigte aber eben auch die Schattenseiten seiner Zeit auf und blieb dadurch sozialkritisch. 2010 schrieb Karla Hielscher zum 150. Geburtstag des Schriftstellers im Deutschlandfunk:
„Es ist spannend zu beobachten, wie Anton Tschechow, ein Schriftsteller, dessen wirkliche Entdeckung in Deutschland erst viele Jahrzehnte nach seinem Tod in den 70er-Jahren ganz zögernd und schrittweise begann, inzwischen zu den unumstrittenen Größen der Weltliteratur geworden ist. Wie Shakespeare ist er von den Bühnen überhaupt nicht mehr wegzudenken, und seine sensible, in ihrem Verzicht auf alles Moralisieren und jede Autorenallwissenheit so moderne Prosa haben auch die Leser des 21. Jahrhunderts lieben gelernt. Der Mensch und Arzt Tschechow mit seiner Bescheidenheit, seinem lebenslangen Engagement für andere, seiner skeptisch melancholischen Lebensfreude und seiner außergewöhnlichen inneren Freiheit ist zur bewunderten Leitfigur geworden.“
20 Jahre, bis zu seinem Tod, lebte Jean Paul in Bayreuth. So lange hatte es ihn noch nie zuvor irgendwo gehalten. Und doch kam er auch hier nicht zur Ruhe.
Alle Bilder: Birgit Böllinger
„Im durchsichtigen Netze seiner Phantasie fing sich jeder vorüberschießende Freuden-Zweifalter – dazu gehörte sogar ein erwachender gelber Schmetterling im Gartenhaus – jeder Stern, der stark funkelte – italienische Blumen, deren deutschen Treibscherben zwischen Schauls er auf der Gasse aufgestoßen – eine bekränzte, zwischen Andacht und Putz glühende Braut – ein schönes Kind – ein Kanarienvogel in der Webergasse, der mitten im deutschen Winter in Kanarieninseln und in Sommergärten hinüberschauen ließ – und alles. Einst an einem Markttage hatt` er halb Italien mit einem ganzen Frühling um sich. Der Tag schien dazu erlesen zu sein. Es war ein sehr kalter und heller Winternachmittag, worin Mücken in den schiefen Strahlen spielen, als er im Hofgarten – den der gute Fürst jeden Winter dem Publikum öffnen ließ – die silbernen Schneeflocken der Bäume unter der blitzenden Sonne in weiße Blüten, die den Frühling überlüden, umdachte und darunter weiterspazierte. So plötzlich auf die Frühlings-Insel ausgesetzt, schlug er in die heitersten Wege ein. Er machte einen nahen an der Bude eines Sämereihändlers vorbei und hielt ein wenig vor dessen Budentisch, nicht um eine Düte zu kaufen – wozu ihm ein Beet fehlte, da alle seine Morgen Lands nur in seinem Morgenland bestanden -, sondern um den Samen von französischen Radiesen, Maienrüben, bunten Feuerbohnen, Zuckererbsen, Kapuzinersalat, gelbem Prinzenkopf zu denken und zu riechen und auf diese Weise (nach Vults Ausdruck, glaub ich) einen Vorfrühling zu schnupfen.“
Jean Paul, „Flegeljahre“, 1804/1805
So wie der selbstgenügsame Walt, der einfach die vielen kleinen Augenblicke lebt, und dem die Welt in seinem fränkischen Paradies genügt, so kann man sich vielleicht auch Jean Paul im Herbst seiner Jahre durch die Bayreuther Gassen flanierend vorstellen: Er, der Rastlose, der Immer-und-ewig-Verliebte, der sprunghaft Assoziierende, der weitschweifige Gedankengänger, hatte lange Lehr-, Wander- und Lebensjahre hinter sich, als er 1804 in die fränkische Kleinstadt übersiedelte. In Bayreuth lebte er dann, bis zum Ende seines Lebens 1825, die längste Zeit. Es waren wohl nicht die glücklichsten Jahre, geprägt von der krisengeschüttelten Ehe mit Karoline Mayer, vom Niedergang des Ruhms und finanziellen Nöten, vom Tod seines Sohnes Max und nicht zuletzt auch von gesundheitlichen Problemen, zu denen wohl auch sein außerordentlicher Bierkonsum beigetragen hatte.
Geboren in Wunsiedel
Und dennoch: Gerade in den „Flegeljahren“ kommt dieses leichte, versponnene, den Tagträumen verhaftete Temperament des Johann Paul Friedrich Richter – unter diesem Namen wird Jean Paul am 21. März 1763 im oberfränkischen Wunsiedel geboren – wunderbar zum Ausdruck. Und man bekommt bei der Lektüre und einem Bummel durch Bayreuth auch heute noch eine Ahnung davon, warum Stadt und Schriftsteller so gut zueinander passten.
Bayreuth, das ist einerseits Provinz, ja. Klein und überschaubar. Und doch atmet hier durch die besondere Architektur und Geschichte, geprägt vor allem vom Markgrafenpaar Friedrich und Wilhelmine, ein besonderer Geist. Da hätte es nicht einmal eines Richard Wagners mit dem alljährlichen Rummel rund um den Hügel gebraucht. Der Bayreuther Rokoko gibt der Stadt rund um das neue Schloss mit seinem Hofgarten, dem Markgräflichen Opernhaus und der Friedrichstraße ein besonderes, ein anmutiges Bild. Und an sonnigen Tagen hat man hier auf dem Marktplatz tatsächlich ein Gefühl von Italien.
Gartenhaus beim Jean Paul-Museum.
Jean Paul hatte es nach zahllosen Lebensstationen – unter anderem wohnte und arbeitete er in Leipzig, Weimar, Berlin und Meiningen – letztlich wieder in das Fränkische gezogen. In Bayreuth hatte er sich schon früh verliebt: Mit 18 Jahren kam er das erste Mal hierher, um eine Prüfung abzulegen – die Reise war mit einer ganz besonderen Erfahrung verbunden.
„In natura sah Jean Paul die Stadt erstmals nach seinem Abitur im Jahr 1781, als er von Schwarzenbach nach Bayreuth reiten mußte. Dort hatte er vor dem Kirchen-Konsistorium eine Prüfung abzulegen, um in Leipzig, d.h. außerhalb des Fürstentums Ansbach-Bayreuth, Theologie studieren zu dürfen. Auch der Ritt gehörte zum Pflichtprogramm und erwies sich für den Prüfling als der schwierigste Teil: Das Pferd wollte partout nicht wie der Reiter – eine Erfahrung von solcher Nachhaltigkeit, daß es Jean Pauls erster und einziger Ritt bleiben sollte.“
Das Zitat stammt aus dem wunderbaren „Jean-Paul-Taschenatlas“, herausgegeben von Bernhard Echte und Michael Mayer, der anlässlich des 250. Geburtstag dieses einzigartigen Schriftstellers im Jahr 2013 erschien. Der Atlas entstand im Zusammenhang mit einer Litfaßsäulenausstellung, die an 25 Orten stattfand – was allein schon die Beweglichkeit dieses literarischen Luftgeistes zeigt. Auf Überbleibsel dieser Ausstellung trifft man in Bayreuth glücklicherweise immer noch und mit dem Atlas (nochmals ein Dank an Herrn Hundfür die Empfehlung) kann man sich auf die Spuren des Dichters machen: Gelegenheit auch für eine wunderbare Rundreise durch Sachsen, Bayern, Baden-Württemberg und Hessen, um in groben Zügen das örtliche Hin und Her Jean Pauls festzuhalten.
Das Leben des Quintus Fixlein
Doch wie gesagt: Dreh- und Angelpunkt der letzten 20 Lebensjahre war und blieb Bayreuth, der Stadt, der er schon zuvor immer wieder ein lobendes literarisches Zeugnis ausgestellt hatte, so im „Leben des Quintus Fixlein“ und im „Siebenkäs“ (1797):
„Die neueste kann erst kommen, nämlich Du selber zu mir nach Baireuth, wenn ich und der Frühling miteinander (denn übermorgen reis ich ihm nach Italien weit entgegen) wiederkehren und wir, ich und der Lenz, gemeinschaftlich die Welt auf eine Art ausschmücken, daß Du gewiß in Baireuth selig sein wirst, so sehr sind dessen Häuser und Berge zu loben.“
Auch wenn die Stadt nach seiner Übersiedlung dorthin Jean Paul bald zu eng wurde und seine Begeisterung merklich abnahm, hielt es in dort. Ausschlaggebend dafür dürfte wohl auch gewesen sein, dass seine zwei längsten, altvertrautesten Freunde dort wohnten: Der Jurist Christian Otto, der fast 30 Jahre lang der Mann war, der Jean Pauls Texte als erster lesen durfte und dessen Kritik er gerne annahm. Und der jüdische Kaufmann Emanuel, „eine Freundschaft auf den ersten Blick“, wie im Atlas zu lesen ist:
„Die Beziehung zu Emanuel gehört zu den erstaunlichsten Seiten von Jean Pauls Leben; es war eine Freundschaft auf den ersten Blick (…) Obwohl Emanuel als jüdischer Händler zu einer rechtlosen Klasse gehörte und keinen Zugang zu höheren Bildungseinrichtungen hatte, war er für Jean Paul von Beginn an ein ebenbürtiger Gesprächspartner – auch in literarischen und philosophisch-theologischen Belangen.“
Dass er dort in Bayreuth seine Vertrauten hatte, zu denen er auch unabhängig von gesellschaftlichen Konventionen und einem gewissen höfischen Protokoll Kontakt haben konnte, dies mag für Jean Paul entscheiden gewesen sein. Hatte er sich doch oft genug schon als Außenseiter fühlen müssen: So beim Studium in Leipzig, das er nach dem frühen Tod seines Vaters nur mit Müh und Not finanzieren konnte. Dem Dünkel mancher Kommilitonen trat er durch auffallende Kleidung und extravagantes Verhalten entgegen.
Kein Anklang bei den Weimarer Klassikern
Und auch in Weimar – da war er schon einer der meistgelesenen Schriftsteller seiner Zeit nach dem Erscheinen des „Siebenkäs“, des „Quintus Fixlein“ und des vergnügten „Schulmeister Wutz“ – traf er auf Vorbehalte: Schiller und Goethe konnten mit diesem Freigeist und seinem mäandernden Stil wenig anfangen, sie lehnten seine Texte eher ab, wie auch Kurt Wölfel als Herausgeber eines Jean Paul-Lesebuchs (eine gute Heranführung an seine Texte) erläutert:
„Jean Pauls kompositorische Extravaganz hatte nicht nur alle Fürsprecher einer rationalistischen Regelpoetik gegen sich, auch die Weimarer Klassiker reagierten auf seine ästhetische Illegitimität mit Verdruß. Unter den „Xenien“, der Sammlung von Epigrammen, mit denen die Weimarer Klassiker ihr ästhetisches Programm polemisch gegen die Zeitgenossen erklärten, gibt es einige, die sich auf Jean Paul beziehen.“
Bayreuth also der Freundschaftshafen, der Ruhepunkt der letzten Jahre, auch wenn es ihn da selten an einem Ort hielt, er immer wieder die Behausung wechselte. Wobei die meisten Reisenden leider nicht wegen des Schriftstellers kommen – während in der benachbarten „Villa Wahnfried“ ein deutlicher Rummel herrscht, kann man sich im 2013 neu eingerichteten Jean-Paul-Museum in aller Ruhe umtun. Schade eigentlich, denn die Ausstellung ist bemerkenswert reichhaltig und sehenswert, gibt einen guten Abriss über Leben und Werk, Einblicke in das Privatleben dieses sensiblen Exzentrikers und bettet dies alles in historische Zusammenhänge ein. Ein Besuch ist sehr zu empfehlen. Und wer dann noch Zeit hat, sollte auf jeden Fall mit Jean Paul zur Rollwenzelei wandern: Hier verkehrte der Dichter fast täglich, dort fand er beim Bier die Ruhe zum Schreiben, oftmals auf der Flucht vor der fordernden Gattin.
Seine letzte Ruhestätte hat der Ruhelose natürlich auch in Bayreuth, ein unscheinbarer Gedenkstein, kaum vergleichbar mit dem Bombast der ebenfalls dort vorhandenen Grabstätten von Franz Liszt und den Wagner-Nachfahren.
Weitere Informationen:
Zum Lesen und Reisen: “Jean Paul-Taschenatlas”, herausgegeben von Bernhard Echte und Michael Mayer, 2013, vergriffen, nur noch antiquarisch erhältlich.
Hans Magnus Enzensberger, Ludwig Ganghofer, Sophie de la Roche: Die Stadt Kaufbeuren hat literarisch einiges zu bieten.
Enzensberger und Ganghofer auf Augenhöhe: Allerdings nur räumlich, bedingt durch den Zufall der Geburt am selben Ort: Beide wurden geboren in Kaufbeuren, ehemals freie Reichsstadt, heute aufstrebendes Oberzentrum im Allgäu.
Das 2013 wiedereröffnete und neukonzipierte Stadtmuseum, für sein multimediales und familienfreundliches Angebot bereits mit mehreren Preisen ausgezeichnet, widmet nicht nur Adel & Bauern, Mönchen & Freiherrn, Fabrikanten & Arbeitern Raum, sondern auch einer ganz besonderen Spezies: Den Schriftstellern. Hans Magnus Enzensberger, Ludwig Ganghofer, Sophie von La Roche und Christian Jacob Wagenseil kamen in Kaufbeuren zur Welt, wenn auch keiner von ihnen, außer Wagenseil, länger dort lebte. Ihnen ist eine ganze Dichterklause, eine eigene Etage im Museum reserviert. Zuviel an literaturgeschichtlicher und wissenschaftlicher Information darf man sich freilich nicht erwarten – es sind kurze Darstellungen der berühmteren Schriftstellerpersönlichkeiten der Stadt, gestalterisch jedoch gut gemacht. Und animiert vielleicht doch den einen oder anderen dazu, (mal wieder) in einem der Werke zu lesen.
Hans Magnus Enzensberger
“Ich bin keiner von uns! Ich bin niemand!”: Mit diesem Zitat aus dem Gedicht “Schaum” (1960) wird man in einer modernen Leselounge empfangen. Tatsächlich verbindet HME (Jahrgang 1929) mit seinem Geburtsort im Allgäu wohl wenig, die Kindheit verbrachte der Sohn eines Fernmeldetechnikers vor allem in Nürnberg. Mehr Biographisches findet sich im Literaturportal Bayern, in der Stadt Kaufbeuren führt eine Spurensuche selbst nicht weit. Im Museum gibt es “das Wort als Hardware”, klingen Enzensberger-Gedichte gegen die virtual reality an, erhebt der “Dichter im Keller” seinen “Bleistiftstummel” gegen die Befindlichkeit der Gesellschaft hoch. Die Haltung, mit der HME gegen Missstände anschrieb, ihr wird eine Stimme gegeben:
“Lab` Dich an Deiner Ohnmacht nicht, sondern vermehre den Zorn.” “Der Tag kommt, da sie wieder Listen ans Tor schlagen.”
Hier spricht der Schriftsteller durch sein Werk – man kann zuhören oder in seinen Büchern lesen, die im Raum verteilt sind. Eine weitere biographische Annäherung an Enzensberger ist als Projektarbeit mit Schülerinnen und Schülern geplant. Eine kluge Entscheidung – denn ob diese für den unmittelbaren Nachbarn zu begeistern wären, ich wage es zu bezweifeln, trotz angeborenen Hang zum Optimismus:
Ludwig Ganghofer
“Ich wurde am 7. Juli 1855 zu Kaufbeuren geboren als unanzweifelbarer Schwabe. Kein Wunder also, daß ich ein Optimist wurde.”
“Der Jäger vom Fall”, “Das Schweigen im Walde”: Ich kenne die Bücher noch aus meiner Kindheit, nebst einigen weiteren bayerischen Originalitäten und der Bibel zählten sie zum überschaubaren Buchbestand der Großeltern. Man las den Ganghofer wie einen bayerischen Karl May, Abenteuergeschichten mit Moral in den Bergen. Punkt. Dass der Volksschriftsteller und Bestsellerautor unter Kitschverdacht noch einige Facetten mehr hatte, wird in der Ausstellung deutlich: So gewinnt man Einblick in ein privates Labor, das Ganghofer, der zunächst Naturwissenschaften studierte, hatte, erfährt von seinen Jahren als Dramaturg und Theaterdichter in Wien, aber natürlich auch von seiner Jagdleidenschaft und seiner patriotischen Hurra!-Begeisterung mit Beginn des Ersten Weltkrieges.
Ganghofer, der zuvor auch mit Frank Wedekind und Karl Valentin befreundet war, sich gegen Zensur und für Demokratisierung einsetzte, tritt mit seinem Freund Ludwig Thoma in die Deutsche Vaterlandspartei ein, die einen Siegfrieden propagiert, schreibt unter dem Titel “Eiserne Zither” heroische Kriegslieder und wird als Freiwilliger als Kriegsberichterstatter eingesetzt.
So unterschiedlich also Lebensläufe und Haltung, vereint Ganghofer und Enzensberger doch eins: Beide wurden eher zufällig in Kaufbeuren geboren. Ludwig Ganghofer kam hier 1855 als Sohn eines Försters zur Welt, die Familie zog bald darauf in die Nähe von Augsburg. Wer ihm dort hin auch noch folgen will, der kann diese auf dem virtuellen “Ganghofer-Weg” tun.
Sophie von La Roche (1730-1807)
Sie schrieb den ersten erfolgreichen “Frauenroman”, gab die erste deutsche Zeitung von Frauen für Frauen heraus, reiste selbständig und schrieb darüber erfolgreiche Romane, ernährte die Familie zeitweise mit ihrem Schreiben mit: Sophie von La Roche, eine Tochter der Aufklärung. Auch sie verbrachte nur wenige Jahre in Kaufbeuren, der Vater, ein Arzt, zog bald nach ihrer Geburt nach Augsburg. Obwohl Sophie eine – für eine Frau seinerzeit – sehr gute Ausbildung erhielt, allzu weit ging die Freiheit dennoch nicht: Ihre erste Verlobung mit einem Italiener (ein Italiener!!! Unvorstellbar!) musste sie lösen, ihre zweite mit ihrem Cousin Christoph Martin Wieland (beide Familien hatten Wurzeln im oberschwäbischen Biberach a. d. Riß, dort empfiehlt sich ein Besuch im Wieland-Museum) löste sie dagegen aus eigenem Antrieb, weil der junge Mann ihr zu unbeständig erschien. Sie und Wieland blieben dennoch ihr Leben lang freundschaftlich verbunden, er erinnerte sich bis zu seinem Tod liebevoll an sie als die Person, die ihn zum Schreiben brachte.
Statt Liebelei mit Wieland eine Vernunftehe mit La Roche
Nach den beiden Verlobungen ging Sophie schließlich eine von Vernunft geprägte Ehe mit Hofrat Georg Michael Frank von Lichtenfels, genannt La Roche, ein. Die vier Männer in ihrem Leben – Vater, die beiden Verlobten und der Gatte – werden im Museum kurz vorgestellt, an einer Hörstation dreht sich zudem ein fiktives Tischgespräch der Autorin mit dem Ehepaar Herder, mit Goethe, Jacobi und Lavater um die Rolle der Frau.
Christian Jakob Wagenseil (1756 – 1839)
Den Kaufbeurer Christian Jakob Wagenseil lernt Sophie von La Roche erst lange nach ihrem Wegzug aus ihrer Geburtsstadt kennen, sie pflegen einen intensiven Briefwechsel, der sich um die Themen der Aufklärung dreht. Wagenseil kehrte nach Studium und Lehr- und Wanderjahren 1779 in seine Geburtsstadt zurück, weil sich ihm hier die Aussicht auf eine städtische Anstellung auftat:
“W. hat sich in dieser Zeit um seine Vaterstadt, namentlich um die Erweiterung der Volksbildung, die Hebung des Schulunterrichts und die Besserung des heruntergekommenen Theaters namhafte Verdienste erworben und durch seine zahlreichen, theils populär-wissenschaftlichen, theils belletristischen Werke selbst zur Bereicherung der Lehrmittel beigetragen. Aber auch auf dem Gebiete der Gemeindeverwaltung hat er, besonders in den Kriegsjahren von 1790 bis 1804, seiner Vaterstadt hervorragende Dienste geleistet, wenn er auch oft genug nur Undank dafür erntete.” Quelle: Deutsche Biographie
Unter anderem führte er die Pockenimpfung in Kaufbeuren ein, ließ den ersten Blitzableiter am Rathaus montieren und Frauen in Frauenrollen auf der Bühne zu. Wer den Film “Daheim sterben die Leut‘” (1985) der Allgäuer Regisseure Leo Hiemer und Klaus Gietinger gesehen hat – der mag vielleicht ermessen, wieviel anstrengender der Kampf gegen Aberglauben und Vorurteile bei den Allgäuern rund zwei Jahrhunderte zuvor gewesen sein mag…
Freilich kann das Stadtmuseum die Lebensläufe der schreibenden Herrschaften nur streifen, neugierig machen, hinführen – wer sich mit dem einen oder anderen der Autoren schon beschäftigt hat, wird hier nichts Neues finden – außer vielleicht dem Anstoß, einmal doch das “Fräulein von Sternheim” zu lesen oder auch einmal wieder einen Lyrikband von Enzensberger herauszukramen. Wer in Kaufbeuren noch mehr sehen will, dem sei insbesondere das Kunsthaus Kaufbeuren empfohlen – so wie ein kleiner Stadtrundgang:
Kennst du das auch, dass manchesmal Inmitten einer lauten Lust, Bei einem Fest, in einem frohen Saal, Du plötzlich schweigen und hinweggehen musst?
1919 fand Hermann Hesse für sich einen Rückzugsort: Montagnola im Tessin. Seit einigen Jahren gibt es nahe bei der Casa Camuzzi, in der Hesse bis 1931 lebte, das Museum, das einen guten Eindruck vermittelt von den Tessiner Jahren Hesses. Hier, nach Montagnola, zog er sich zurück, um seine Depression zu bekämpfen oder zumindest mir ihr Leben zu können, hier entstanden auch einige seiner Hauptwerke, so “Narziß und Goldmund” und “Siddharta”. Und hier lernte er seine engen Freunde Hugo Ball und Emmy Hennings-Ball kennen, trennte sich von seiner ersten Frau Mia, ging eine kurze Ehe mit Ruth Wegner ein, um schließlich bei Ninon Dolbin Halt zu finden.
Trotz literaturtouristischen Trubels (auch Udo Lindenberg und Patti Smith zählten unter anderem zu Besuchern des Museums, wie dieser SPON-Artikelausführt): Man kann noch immer die Ruhe erahnen, die Hesse hier fand und brauchte. Eine literarische Spurensuche durch Hesses Montagnola stellt die Süddeutsche Zeitung hier vor.