
„Moskau? Ich bitte dich, Arnold. Wer braucht in Moskau ein deutschsprachiges Theater? Genau: niemand. Unsere Situation ist absurd. Denk doch mal nach: Zuerst rauben sie uns das Land, die Häuser und das Vieh, dann schieben sie uns mittellos in unwirtliche Gebiete ab, auf ewige Zeiten, ohne Recht auf Wiederkehr. Das heißt Gefängnis, auch wenn sie es nicht so nennen, lebenslang, die Nachgeborenen inbegriffen. Und als wäre das nicht genug, nehmen sie uns auch noch die Sprache weg. Und weißt du warum?“
„Warum?“
„Weil ein Volk, das viele Sprachen kennt, schwerer zu überwachen ist. Zum Abhören von Telefonaten, zur Kontrolle von Zeitungen, für alles brauchst du Übersetzer. Unsere Heimat, vom Ochotskischen Meer bis zur Ostsee – ein einziges großes Babylon. Wenn alle eine aufgezwungene Hauptsprache sprechen, werden sie ihre eigene vernachlässigen. Solche lassen sich einfacher regieren, also klein halten.“
Eleonora Hummel, „Die Wandelbaren“
Nein, klein halten lassen sie sich nicht, die vier jungen Leute, die da 1975 im „Rahmen der Maßnahmen zur Kulturförderung nationaler Minderheiten“ quasi vom Traktor aus der Steppe Kasachstans auf die Bühne einer Moskauer Theaterschule geholt werden. Es sind die Jahre, als in der UdSSR eine neue Verfassung mit föderaler Struktur entsteht. Nationale Minderheiten sollen stärker berücksichtig werden. Es sind Jahre des Aufbruchs, des Träumens und des Ankommens in einer Realität, das Scheitern an einer Mentalität, an einer inneren wie äußeren Verfassung, die sich so schnell nicht ändern wird:
„Pässe lügen nicht. Fahr nach Hause und denk darüber nach, wer du wirklich bist, warum dein Name mehr wiegt als gute Noten, mehr noch als der Zuweisungsschein des Komsomol.“
Roman spannt sich über ein halbes Jahrhundert
Klein halten lassen sie sich nicht, aber sie werden scheitern, an den Verhältnissen und der Tatsache, dass sie hier wie dort nirgends richtig dazugehören. Über vier Jahrzehnte hinweg begleitet Eleonora Hummel ihre vier Hauptfiguren, die „Wandelbaren“. Ein doppeldeutiger Titel: Als Berufsschauspieler müssen Violetta, Emilia, Oskar und Arnold von Haus aus ihre Wandlungsfähigkeit beweisen. Doch schon ihr Lebensschicksal an sich ist dieses von Wandelbaren, ist solchen enormen Wandlungen unterworfen, dass alle Vier sich selbst am Ende irgendwie verlieren und verloren sind: Nirgends dazugehörig, nirgends daheim.
In der alten Heimat misstrauisch aufgrund ihrer deutschen Vorfahren betrachtet, in der neuen Heimat nach der Aussiedlung nicht angenommen, aufgrund ihres Dialekts und ihrer Schauspieltechnik für die westlichen Bühnen nicht gebraucht, Fremde bleibend.
Das deutsche Theater in Termirtau
Eleonora Hummel, die selbst aus Kasachstan stammt und seit 1982 in Dresden lebt und schreibt, hat sich eines spannenden Kapitels der Theater- und Politikgeschichte angenommen. Tatsächlich wurde 1980 in der Industriestadt Termirtau ein deutsches Theater eröffnet, das später nach Alma-Ata verlegt wurde. Für das Theater wurden junge deutschstämmige Russen rekrutiert – Talent und Bühnenpräsenz waren dabei wohl zweitrangig, in erster Linie zählte die Abstammung.
Obwohl sich einige der jungen Schauspieler die deutsche Sprache erst mühsam anlernen müssen – von den Vorfahren kennen sie allenfalls einige schwäbische Brocken und ein Uhland-Gedicht – wird das Theater für sie mehr als eine Bühne. Tatsächlich werden diese Bretter für sie zu einer Welt: Hier sind sie ihresgleichen, werden weder als „Faschisten“ beschimpft noch als Fremde betrachtet. Äußerlich bilden sie eine verschworene Gemeinschaft, die sich in den Tauwetter-Perioden politischen Träumen von einer eigenen, neuen Wolgarepublik ergibt.
Nirgends zuhause, als die UdSSR zerbricht
Zugleich aber verknüpft Eleonora Hummel dies mit den inneren Zerwürfnissen in der Gruppe, mit Eitelkeiten, Ehrgeiz, Eifersucht. Das hält den Spannungsbogen, macht das Buch so lebendig: Vier Persönlichkeiten, deren Entwicklung man lesend miterlebt, deren Scheitern man am Ende bedauert. Ihr Leben ist mit dem Theater in Kasachstan aufs Engste verbunden – eine Zukunft gibt es für die Truppe dort in der sich auflösenden Sowjetunion jedoch nicht. Alle gehen schließlich, als die UdSSR zerbricht, in den Westen – um festzustellen, dass man auch hier fremd bleibt:
„Es heißt, wir ehemaligen Sowjetmenschen erkennten uns gegenseitig auf der Straße. Das stimmt wohl. Die Ahnungslosen spüren nur, dass da unter der Oberfläche etwas lauert, dem sie nicht auf die Spur kommen, deshalb bleiben sie auf Distanz.“
„Die Wandelbaren“ ist ein Roman, der zumindest mir den Blick erweitern konnte auf Menschen, die deutsch und russisch sind. In einer ruhigen, fast schon sachlichen, aber eingängigen Sprache, mit kurzen Kapiteln, die die jeweilige Figur in den Mittelpunkt stellen, erzählt Eleonora Hummel von Menschen, deren Schicksal es ist, „nur“ in der eigenen Sprache eine Heimat finden zu können.
Informationen zum Buch:
Eleonora Hummel
„Die Wandelbaren“
Müry Salzmann Verlag 2019
Gebunden, 464 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-99014-196-0