Kurz&knapp: Geschichte und Geschichten

Drei Bücher, drei Neuerscheinungen, drei Autoren, eine Gemeinsamkeit: Alle haben ihre Wurzeln rund um Augsburg. Literaturstadt! – man sehe mir diesen kurzen lokalpatriotischen Ausbruch nach.

Die schriftstellerische Arbeit von Michael Lichtwarck-Aschoff verfolge ich seit längerem mit Begeisterung. Ob er nun über das Vivarium in Wien schreibt oder Louis Pasteur – immer gelingt es dem Arzt und Autor, Wissenschaft und Literatur zu einem intellektuellen Lesevergnügen zu verbinden. Sein jüngstes Sujet: „Robert Kochs Affe“, nun erschienen im Hirzel Verlag.

Michael Lichtwarck-Aschoff sagt selbst dazu: „Das Buch war fertig, lange bevor die Corona-Pandemie über uns kam. Es kann und es will deshalb auch kein Kommentar zum Umgang mit der Pandemie sein. Trotzdem mag es nützlich sein, die Erbschaft, die der Seuchenmediziner Robert Koch uns hinterlassen hat, genauer anzuschauen.“

Seine Wissenschaft von den Bakterien hat Robert Koch als totalen Krieg gegen das Unsaubere erfunden. Unsauber ist alles, was fremd ist. Und das unsaubere Fremde ist ansteckend. In drei Episoden wird erzählt, wie eine solche Haltung zu Beginn des 20. Jahrhunderts im sauberen Berlin entsteht, und zu welch unmenschlichen Folgen sie zwangsläufig führt. Was treibt ein Affe in Husarenuniform in der Berliner Villa Kochs? Hilft Rattengift gegen die Schlafkrankheit, und was spricht dagegen, an den Eingeborenen Ostafrikas damit zu experimentieren? Wo dem Professor doch jedes Mittel recht sein muss, Afrika zur Sauberkeit zu erziehen? Zu welch weitergehenden Erkenntnissen gelangt Koch, als er im hochsommerlichen New York erkrankt und täglich einer gründlichen Darmreinigung unterzogen wird? Wir beobachten Koch dabei, wie er auszieht, um für Kaiserdeutschland die Welt von Erregern zu säubern. Sein Gewehr ist die Wissenschaft – und so sieht die auch aus. Wie in der Wirklichkeit kommt die Grausamkeit in der Affenmaske des Grotesken daher – und die Verachtung kostümiert sich als Zivilisation …  

Lichtwarck-Aschoff, Michael
Robert Kochs Affe
Der grandiose Irrtum des berühmten Seuchenarztes
S. Hirzel Verlag, 2021, Gebunden, 284 Seiten
ISBN 978-3-7776-2917-9

www.hirzel.de

Bleiben wir beim Thema unserer Tage, das alles dominiert. Mit einer Seuche und ihren Folgen setzt sich auch Klaus Wolf, Professor für Deutsche Literatur und Sprache des Mittelalters und der Frühen Neuzeit mit dem Schwerpunkt Bayern an der Universität Augsburg auseinander. In seinem Essay „Passionsspiel und Pesttraktat. Die Pest im Mittelalterund in der Frühen Neuzeit aus dem Blickwinkel der bayerischen Literaturgeschichte“ zeigt er auf, wie die Pest quasi zum Motor der literarischen Produktion wurde:

„Es ist eindeutig, dass dieser Seuchenkomplex literaturhistorisch im Bereich des Fachschrifttums Ursache einer ‚Literaturexplosion‘ in den Volkssprachen wurde: Die Pestepi-demien seit der Mitte des 14. Jahrhunderts zogen eine Fülle von deutschen Pestschriften nach sich; sämtliche Universitäten im deutschen Sprachgebiet, zahlreiche Stadtärzte, Bader, auch Geistliche, Handwerker und Schulmeister verbreiteten Regimina, Consilia und Einzelrezepte gegen die Pest (…)“.

Zwar sind heute literaturgeschichtlich Gattungen wie das Passionsspiel, wie man es aus Oberammergau kennt, bekannter, doch die Seuche führte auch zu einer vermehrten Produktion medizinischer Schriften, die volkssprachlich gefasst waren und sich an die gesamte Bevölkerung, die des Lesens mächtig war, richteten.

„Insgesamt zeigen die Traktate nicht nur eine scharfe Beobachtung der Symptome, sondern auch selbständiges Denken statt sklavisches Festhalten an den Prinzipien und Lehren der Altvorderen. Auch das Phänomen der Immunität wurde bei einigen Autoren angedacht. Not und Bedrängnis durch die Seuche setzten somit Kompetenz und Kreativität frei“, so Klaus Wolf.

Der Beitrag erschien in dem neuen Buch „Dekameron 21.0 – Zehn Schlaglichter auf eine Krise“, herausgegeben von Dr. Peter Czoik, Literaturwissenschaftler und Redaktionsleiter beim Literaturportal Bayern an der Bayerischen Staatsbibliothek. Anlass war: Drei Frauen und sieben Männer aus München und Umgebung entschließen sich, mitten im Wüten eines neuen Virus, der im Frühjahr 2020 um die Welt geht, ein Krisenbuch für Kulturinteressierte zu schreiben.
Was sie alle vereint, ist ihre jeweilige häusliche Isolation und ihre phänomenologische Sicht auf das gemeinsame Thema: In zehn Essays, die sich zahlenmäßig an Giovanni Boccaccios ›Zehn- Tage-Werk‹ Decamerone von 1349/53 orientieren, knüpfen sie an die aktuelle ›Corona-Krise‹ an und beleuchten damit zusammenhängende Erscheinungen. Die aus verschiedenen vornehmlich geisteswissenschaftlichen Disziplinen stammenden Beiträge werfen Schlaglichter auf die Krise innerhalb des Spektrums von Philosophie, Religion, Literatur, Film, Geschichte und Gesellschaft – angefangen vom alten Pesttraktat im Mittelalter bis hin zum modernen Virenausbruchsfilm im 20. Jahrhundert. Neben Klaus Wolf und Peter Czoik stammen die weiteren Beiträge von Peter Czoik, Ursula Haas, Martin Hielscher, Krisha Kops, Uwe Kullnick, Franz-Josef Rigo, Stephan Seidelmann, Gunna Wendt und Sophie Wiederroth.

Czoik, Peter (Hrsg.)
Dekameron 21.0 – Zehn Schlaglichter auf eine Krise
Verlag Königshausen & Neumann,
2021, 162 Seiten
ISBN 978-3-8260-7295-6

www.verlag-koenigshausen-neumann.de


Wer sich beim Lesen nun etwas von Pest und Colera erholen möchte, der findet mit Armin Strohmeyrs „Ferdinandea“ einen wunderbaren Lesestoff. Aber Achtung! Auch dieser historische Roman hat es in sich. Tatsächlich gab beziehungsweise gibt es sie, diese „Insel der verlorenen Träume“, wie es im Untertitel heißt. Die Isola Ferdinandea tauchte plötzlich am 10. Juli 1831 kurz vor der Küste Siziliens auf.

Auch Alexander von Humboldt und Charles Earl of Grey, Sir Walter Scott und Johann Wolfgang von Goethe staunen nicht schlecht, als sie von Ferdinandea hören: Eine Sensation! Doch kein Mensch rechnet mit der Eigenwilligkeit der „Dame ohne Mitleid“: So unerwartet ihr Erscheinen gewesen ist, so plötzlich versinkt die vulkanische Insel ein halbes Jahr später wieder in den Meeresfluten. Und lässt viele zerschlagene Hoffnungen und zerbrochene Träume zurück …

Die kurze Zeit ihres Erscheinens genügte, um Forschungsexpeditionen in Gang zu setzen und politische Konflikte auszulösen, beanspruchten doch neben den Sizilianern auch die Engländer und Franzosen das Eiland für sich. Auch bei Armin Strohmeyr setzte die Geschichte der Insel ein Feuerwerk der Fantasie in Gang.

„Die Geschichte von der auf- und wieder abgetauchten Insel ist ein wunderbarer Romanstoff. (…) Die fantastischen und realen Elemente verrührt Strohmeyr gekonnt zu einem unterhaltsamen Geschichtsschmöker„, urteilte Literaturexperte Oswald Burger im Südkurier.

Wie die geheimnisvolle Insel plötzlich bei den Bewohnern des Örtchens Sciacca von Ruhm und Wohlstand träumen lässt, wie die politischen Mächte miteinander ringen und Forscher sich einen Wettlauf liefern, all dies verknüpft Armin Strohmeyr, Schriftsteller mit Augsburger Wurzeln, der in Berlin lebt, zu einem anspruchsvollen und unterhaltsamen Lektürestoff.

Armin Strohmeyr
Ferdinandea. Die Insel der verlorenen Träume
Südverlag, 2021, 376 Seiten,
gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-87800-142-3

www.suedverlag.de

Michael Lichtwarck-Aschoff: Als die Giraffe noch Liebhaber hatte

„Als die Giraffe noch Liebhaber hatte“ ist ein feines und intellektuelles Lesevergnügen: Von Leidenschaften, Zufällen und Irrwegen in der Wissenschaft.

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Bild von Michael Treu auf Pixabay

„Aber sie gab nichts darauf. Maëlis war eine Geschichtenfinderin. Wenn ich heute die verheimlichten, unerzählten Geschichten des Dorfes in den Apothekerschränken sammle, dann stelle ich mir vor, Maëlis schaut mir dabei zu und nickt mit dem Kopf. Während ich meine Geschichten nur entgegennehme und neben Ölsardinendose und Zibartenglas ins Regal stelle, tauchte Maëlis ihre Geschichten in eine Art chemisches Bad. Sie reinigte sie darin bis zur Durchsichtigkeit, ließ die Details auskristallisieren. Durch eine komplizierte chemische Reaktion konnten die Geschichten Farben annehmen wie die Fenster von Sainte Madeleine, wenn die Sonne durchscheint.“

Michael Lichtwarck-Aschoff, „Als die Giraffe noch Liebhaber hatte. Vier Entdeckungen“

Eines ist gewiss: Auch Michael Lichtwarck-Aschoff ist so ein Geschichtenerzähler, einer, der das Material in seinem Schreiblabor dreht, wendet, untersucht, pflegt und poliert, bis die Sätze Farbe annehmen, bis die Geschichten leuchten. Sie nehmen einen gefangen, diese vier Erzählungen um große Wissenschaftler, um ihre Entdeckungen, ihre Irrwege. Vier Erzählungen, vier Entdeckungen – auch in literarischer Hinsicht. Es sind die Sprache, eine Art poetischer Sachlichkeit, und die geschickten Konstruktionen, mit denen Michael Lichtwarck-Aschoff selbst eine Leserin wie mich, deren Hirn beim Stichwort „Naturwissenschaft“ unweigerlich etwas bockt, einnimmt.

Im Labor mit Louis Pasteur

Erzählt werden entscheidende Momente, Wende- und Endpunkte, die mit den Forschungen der gar nicht so fröhlichen Wissenschaftler Étienne Geoffroy Saint-Hilaire, Antoine de Lavoisier, Louis Pasteur und Claude Bernard zusammenhängen. Deutlich wird dabei: Der Dienst im Namen der Menschheit, der Forschungseifer, um tödliche Krankheiten zu bannen und das menschliche Dasein zu verbessern, er ist oft genug auf Zufall gebaut, auf persönlicher Besessenheit, Ehrsucht und Ehrgeiz. Forschungs- und Geltungsdrang gehen – wie bei Lavoisier – Hand in Hand, eine Entdeckung ist – wie bei Pasteur – manchmal auch einfach Glück in einem riskanten Spiel. Die Leidenschaft der Erkenntnis, gedämmt durch die Erfordernisse des Lebens.

„Vier Jahre würde ihm sein Augenlicht bleiben. Der junge Charcot wäre am Ende allerdings nicht mehr da, um ihn in den jardin und seiner Liebe Zarafa zuzuführen. Auf Charcot warteten schon die Hysterikerinnen von Paris.“

Ungewöhnlich sind die Erzählperspektiven, mit denen Einblick in die jeweiligen Laboratorien gewährt wird. Es ist der junge Charcot, der, lange bevor er als Neurologe Berühmtheit erlangt, den erblindenden Zoologen Saint-Hilaire täglich in den Jardin du Roi zu dessen großer Liebe, der Giraffe Zarafa, begleitet. Es ist ein Labordiener auf der Suche nach einem Fasan für Marie Lavoisier, der die Leser in die Regeln chemischer Versuche einführt.

Die Theorie vom äußeren Milieu

Es ist der Sohn einer Blinden, der mit Claude Bernards Theorie vom „inneren Milieu“ konfrontiert wird. Wissenschaft von unten, sozusagen – und Erzählkonstruktionen, die zudem unaufdringlich deutlich machen, wie sehr jede Forschung und deren Ergebnisse jeweils auch mit dem „äußeren Milieu“ zusammenhängt und verknüpft ist. Das Menschen- und Weltbild immer auch geprägt von den politischen Verhältnissen, Französischer Revolution, Julirevolution, Pariser Akademikerstreit, um nur einige Stichworte zu nennen.

„Ein großer Revolutionär ist man heute schnell. (…) Ich bin nur die Beiköchin, ich habe nicht  gewusst, dass man auch ein Revolutionär der Chemie sein kann. Und was man dafür mit der Chemie anstellen muss. Was der große Herr Lavoisier außer Revolutionmachen sonst so macht, das weiß ich allerdings sehr gut: Ein Steuereintreiber ist er und von allen der gnadenloseste. Von uns nimmt er und stellt der königlichen Brut draußen in Versailles ein Schloß hin. Euer Herr Lavoisier, dem vor lauter Revolution der Hals schwillt, hat Paris mit einer dicken Mauer eingeschlossen. Keiner von uns kann heraus oder herein, ohne für jeden Schritt zu zahlen. Eine Mauer, damit wir an unseren eigenen Ausdünstungen ersticken. Wenn er die Chemie so geläufig beherrscht wie das Steuereintreiben, dann muss die Chemie sich wirklich fürchten.“

Stoff- und Ortswechsel: „In diesem Jahr 1940, als der Sommer kein Ende nahm“ ist die längste Erzählung dieses Bandes und jene, die mich an meisten eingenommen hat. Aus mehrstimmiger Perspektive wird wie unter einem Brennglas gebündelt und verdeutlicht, was in jenem kleinen elsässischen Ort Steige im Sommer 1940 geschah – in jenem Ort, in dem Joseph Meister, der erste Mensch der von Pasteur vollständig gegen Tollwut geimpft worden war, geboren wurde. Meister ist für die Menschen dort ein Held der Wissenschaft – aber auch einer, der sich als Symbol eines aufgeklärten Menschenbildes, einer fortschrittlichen Medizin den Hass eines Nazianhängers zuzieht, der vom gesunden Volkskörper predigt, der keine Impfungen benötigt, weil so die Schwächsten von der Natur ausselektiert werden.

Geistige Tollwut greift um sich

Wie sich die geistige Tollwut in das Örtchen einschleicht, wie sehr dieses Jahr die Menschen prägt, das erzählt der Autor feinsinnig, behutsam, in einer zurückhaltenden, ruhigen Sprache, dezent. Und lässt durch seine Erzählweise dem Leser auch eine eigene Deutungsweise offen.

Es sind keine fröhlichen Geschichten von freigeistigen Wissenschaftlern, vielmehr sind sie von feinsinniger Melancholie umhaucht. Und doch: So über die Fortschritte vor allem in der Medizin zu lesen, bereitete mir große Freude.

Michael Lichtwarck-Aschoff ist ein Autor, der in seiner eigenen Vita die beiden Disziplinen der Medizin und der Literatur vereinigt: Der 71jährige arbeitete Jahrzehnte als Intensivmediziner, war für Forschungstätigkeiten in München, Basel und Uppasala, zudem außerplanmäßiger Professor für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Sein Erzähldebüt „Hoffnung ist das Ding mit Federn“ erschien 2016 und wurde mit mehreren Preisen ausgezeichnet. „Als die Giraffe noch Liebhaber hatte“ ist sein zweites veröffentlichtes Buch, ein feines, intelligentes und intellektuelles Lesevergnügen.

Informationen zum Buch:

Michael Lichtwarck-Aschoff
Als die Giraffe noch Liebhaber hatte. Vier Entdeckungen
Hirzel Verlag, 2022
ISBN 978-3777630823