MeinKlassiker (39): Kommunikatives Lesen mit Max Frisch

Alexander Carmele von “Kommunikatives Lesen” stellt in der Reihe “Mein Klassiker” einen Roman von Max Frisch vor. “Was macht ihr mit der Liebe” war zunächst der Arbeitstitel, als “Stiller” wurde das Buch zu einem Publikumserfolg und brachte Frisch den Durchbruch als Schriftsteller.

Seit 2021 bloggt Alexander Carmele bei “Kommunikatives Lesen über Literatur. Was seine Beiträge ausszeichnet, ist die tiefgehende Auseinandersetzung mit den einzelnen Werken, die durchaus auch manchmal zu mehrteiligen Interpretationen führen kann, siehe zuletzt der “Dreiteiler” zu “Unendlicher Spaß” von David Forster Wallace.
Über sich selbst sagt Alexander: “Ich blogge, um die Lesefreude mit anderen zu teilen und, so es geht, meine eigene und die der anderen durch Querverweise zu vertiefen. Ich blogge also aus reinem Privatvergnügen und bin erstaunt und auch beglückt, über die schöne Wechselwirkung und friedlich-freundliche Umgangsweise in der Literatur-Bloggerwelt.”
Sein Klassiker ist “Stiller” von Max Frisch: “In Stiller wirft er alles, was ihm als Schriftsteller zur Verfügung steht, in die Waagschale.”


Ein Gastbeitrag von Alexander Carmele

Mit Stiller gelang Max Frisch 1954 der Durchbruch als Schriftsteller, nachdem er bereits einige Prosatexte (u.a. Jürg Reinhart, Antwort aus der Stille) und Theaterstücke (u.a. Santa Cruz, Nun singen sie wieder, Die Chinesische Mauer) veröffentlicht hatte, die zwar allesamt vom Fachpublikum positiv aufgenommen, von der größeren Öffentlichkeit aber eher ignoriert wurden. Stiller dagegen wurde auf Anhieb ein Erfolg und war Suhrkamps erster Roman mit Millionenauflage. Er verhandelt die zentrale Frage, wie sich Individuen in einer ausdifferenzierten Gesellschaft gegenübertreten, wie sie kommunizieren, lieben, zu lieben versuchen, dabei scheitern oder erfolgreich sind, und beleuchtet damit literarisch das von Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre aufgeworfene Problem von Essenz und Existenz:

Ja; – wer denn soll lesen, was ich in diese Hefte schreibe! Und doch, glaube ich, gibt es kein Schreiben ohne die Vorstellung, daß jemand es lese, und wäre dieser Jemand nur der Schreiber selbst. Dann frage ich mich auch: Kann man schreiben, ohne eine Rolle zu spielen? Man will sich selbst ein Fremder sein. Nicht in der Rolle, wohl aber in der unbewußten Entscheidung, welche Art von Rolle ich mir zuschreibe, liegt meine Wirklichkeit. Zuweilen habe ich das Gefühl, man gehe aus dem Geschriebenen hervor wie eine Schlange aus ihrer Haut. Das ist es; man kann sich nicht niederschreiben, man kann sich nur häuten.
[Max Frisch aus: „Stiller“]

Inhalt/Plot:

Ein Ich-Erzähler findet sich in Untersuchungshaft wieder. Er, ein James Larkin White, wird für Anatol Ludwig Stiller gehalten, ein bekannter Zürcher Bildhauer und Ehemann von der Ballerina Frau Julika Stiller-Tschudy, der plötzlich und verdächtigerweise im Zusammenhang mit einer gewissen Smyrnow-Affäre vor sechs Jahren spurlos verschwunden ist. Der Ich-Erzähler bestreitet vehement mit Stiller identisch zu sein:

Ich bin nicht Stiller! – Tag für Tag, seit meiner Einlieferung in dieses Gefängnis, das noch zu beschreiben sein wird, sage ich es, schwöre ich es und fordere Whisky, ansonst ich jede weitere Aussage verweigere. Denn ohne Whisky, ich hab’s ja erfahren, bin ich nicht ich selbst, sondern neige dazu, allen möglichen guten Einflüssen zu erliegen und eine Rolle zu spielen, die ihnen so passen möchte, aber nichts mit mir zu tun hat […]

So beginnt der Roman. Der Ich-Erzähler schreibt Hefte mit seiner Geschichte und seinen Erlebnissen voll, die während der Untersuchungshaft stattfinden, und versucht sich gegen die Vorwürfe und Vorstellungen seiner Mitmenschen zu wehren, die in ihm besagten Stiller sehen und Erklärungen, Entschuldigungen und auch Geld erwarten. Vordergründig wird der Ich-Erzähler wegen seiner zweifelhaften Papiere festgehalten, hintergründig wegen der staatsgefährdenden Smyrnow-Affäre, im Grunde aber spielt sich ein Ehedrama im Züricher Gefängnis ab, als nämlich Julika aus Paris eintrifft und dem Ich-Erzähler Ausgang gewährt wird:

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Sie glaubte wohl, sie könnte mich wie ihren Stiller behandeln, und einen Augenblick lang hatte ich Lust, aus purem Trotz einen weiteren Whisky zu trinken. Ich tat es nicht. Denn Trotz ist das Gegenteil von wirklicher Unabhängigkeit. Ich lächelte. Sie tat mir leid. Ich begriff: ihr ganzes Verhalten bezieht sich nicht auf mich, sondern auf ein Phantom, und einmal mit ihrem Phantom verwechselt (denn wahrscheinlich hat es den Mann, den sie sucht, gar nicht gegeben!), ist man einfach wehrlos; sie kann mich nicht wahrnehmen. Schade! dachte ich.

Einerseits hingerissen, andererseits von Julika abgestoßen beginnt ein Wechsel- und Versteckspiel zwischen dem, was der Ich-Erzähler sein will, und dem, was seinen Mitmenschen und insbesondere Julika in ihm sehen, denn die Fußstapfen Stillers, in die er treten soll, sind alles andere als angenehm:

Irgendwie muß es mit diesem kleinen, geradezu winzigen und von Julika längst vergessenen Ausspruch [dass Sex sie etwas ekle] zusammenhängen, daß Stiller sich als ein stinkiger Fischer mit einer kristallenen Fee vorkam. Der Ausspruch fiel in ihrer ersten gemeinsamen Nacht. Offenbar war Stiller nicht nur eine Mimose, ein Mann von krankhafter Ich-Bezogenheit und entsprechender Empfindlichkeit, so daß er Worte, die Julika möglicherweise jedem Mann hätte sagen können, ganz und gar auf sich bezog; er war obendrein auch noch ein Wiederkäuer, und das war für die arme Julika oft einfach unerträglich.

Vor allem wegen einer sich ankündigenden Tuberkulose entzieht sich Julika Stillers Liebeswünschen. Sie schiebt den Arztbesuch Monate auf, aus Angst, krankgeschrieben und aufs Sanatorium geschickt zu werden, was ihre Karriere als Tänzerin gefährden würde. Stiller fühlt sich übergangen, trinkt, ist frustriert und beginnt eine Affäre mit Sibylle, die er auf einem Maskenball und durch den Architekten Sturzenegger kennenlernt. Julika beginnt nach mehreren Wochen seine Untreue zu ahnen. Als sie irgendwann doch zum Arzt und nach Davos ins Sanatorium muss, schreibt Stiller weder Briefe noch kommt er zu Besuch. Er plant mit seiner Geliebten, Sibylle, nach Paris zu ziehen, was aber daran scheitert, dass Stiller bei seinem ersten Besuch auf Davos es nicht schafft, sich von Julika, die ihrerseits über ihr Karriereende trauert, zu trennen, obwohl diese ihn direkt auf seine Affäre anspricht:

»Wie geht es deiner – Dame?« fragte sie.
»Wen meinst du?« fragte er.
»Bist du noch immer verliebt in sie?«
In der Tat, Julika machte es ihm so leicht wie möglich, doch Stiller war ein fertiger Feigling; kein Wort davon, daß er die Dame [Sibylle] (wie sich später einmal herausstellen sollte) fast täglich traf. Er blickte Julika bloß an, schwieg.

Stiller enttäuscht Julika und auch Sibylle, die ihrem Ehemann Rolf bereits alles gestanden und für die Reise nach Paris alles vorbereitet hat. Rolf fährt daraufhin einige Tage nach Genua, kehrt aber zurück und entscheidet sich, wie Julika, die Affäre von Stiller und Sibylle auszusitzen. Als Stiller kurz darauf aus beruflichen Gründen doch in Paris weilt und Sibylle einlädt, platzt dieser der Kragen und lässt das Kind, das sie von Stiller erwartet heimlich abtreiben. Statt aber gemeinsam mit ihrem Ehemann in das neue, von Stillers Freund Sturzenegger geplante und gebaute Haus, umzuziehen, reist sie nach Pontresina, wo sie sich mit Stiller trifft und ihn ob seiner Armut und seiner Unmännlichkeit vor allen Leuten lächerlich macht:

Und dann, nachdem [Sibylle] fast nur mit einem Blick ›ihr‹ Filet Mignon bestellt hatte, nötigte sie den hilflosen Stiller, Schnecken zu essen, worauf Stiller ein wenig zweifelte, ob Schnecken und Châteauneuf-du-Pape zusammenpaßten; Stiller hatte noch nie Schnecken gegessen, wie er gestehen mußte, und kam sich minderwertig vor, also zu einer widersprechenden Meinung kaum berechtigt. […]  Stiller blickte sie an wie ein Hund, der die menschliche Sprache nicht versteht, und es fehlte wenig, daß Sibylle ihn gestreichelt hätte wie einen Hund. Sie tat es nicht, um keine Hoffnungen zu stiften.

Nachdem Treffen in Pontresina reist Stiller, ohne Sibylle Bescheid zu geben, kurzerhand nach Davos, gibt Julika seine Trennung von Sibylle bekannt und trennt sich auch von ihr, kehrt nach Pontresina zurück, übergibt Sibylle ein Geschenk aus Paris, aber ihre Beziehung lässt sich nicht mehr retten, zumal Sibylle ihm während seiner Abwesenheit untreu gewesen ist. Stiller verschwindet, und Sibylle beschließt in die USA zu ziehen und auf eigenen Füßen zu stehen, indes Julika völlig genest und mit einem Kollegen eine Tanzschule in Paris eröffnet. All dies wird dem Ich-Erzähler durch Julika, Rolf, den Staatsanwalt, und Sibylle zugetragen und von diesem nacherzählt. Doch der Ich-Erzähler besteht immer noch darauf, nicht Stiller zu sein:

Es ist schwer, nicht müde zu werden gegen die Welt, gegen ihre Mehrheit, gegen ihre Überlegenheit, die ich zugeben muß. Es ist schwer, allein und ohne Zeugen zu wissen, was man in einsamer Stunde glaubt erfahren zu haben, schwer, ein Wissen zu tragen, das ich nimmer beweisen oder auch nur sagen kann. Ich weiß, daß ich nicht der verschollene Stiller bin. Und ich bin es auch nie gewesen. Ich schwöre es, auch wenn ich nicht weiß, wer ich sonst bin. Vielleicht bin ich niemand.

Aber sechs Jahre, so schreibt Max Frisch in Stiller, reichen nicht aus, um sich völlig von seiner Vergangenheit zu befreien, und so holt sie ihn unverändert ein.

Stil/Sprache/Form:

Max Frischs Stil strebt keine Besonderheit an. Seine Erzählweise lebt mehr von Rhythmus, von Themenwahl und von der Behandlung derselben, von den Akzenten, die er setzt, von der Komposition, mit der er zwischenmenschlichen Problemen nachspürt, von diesem zirkelnden, sich wiederholenden, sich immer tiefer bohrenden Bestreben zu erkennen, was sich hinter den Masken der Menschen verbirgt. In Stiller wirft er alles, was ihm als Schriftsteller zur Verfügung steht, in die Waagschale. In anderen Romanen und Texten kehren einzelne Momente wieder. In Stiller sind sie alle miteinander vereint und verknüpft. Auch lässt er sich in seinem längsten Roman Zeit für panoramahafte Beschreibungen, wie Rolfs Blick aus der Rainbow Bar im Rockefeller Center:

Manchmal jagen Schwaden von buntem Nebel vorbei, als sitze man auf einem Berggipfel, und eine Weile lang gibt es kein Neuyork mehr; der Atlantik hat es überschwemmt. Dann ist es noch einmal da, halb Ordnung wie auf einem Schachbrett, halb Wirrwarr, als wäre die Milchstraße vom Himmel gestürzt. Sibylle zeigte ihm die Bezirke, deren Namen er kannte: Brooklyn hinter einem Gehänge von Brücken, Staten Island, Harlem. Später wird alles noch farbiger; die Wolkenkratzer ragen nicht mehr als schwarze Türme vor der gelben Dämmerung, nun hat die Nacht gleichsam ihre Körper verschluckt, und was bleibt, sind die Lichter darin, die hunderttausend Glühbirnen, ein Raster von weißlichen und gelblichen Fenstern, nichts weiter, so ragen oder schweben sie über dem bunten Dunst, der etwa die Farbe von Aprikosen hat, und in den Straßen, wie in Schluchten, rinnt es wie glitzendes Quecksilber.

Der größtenteils psychologisch schreibende Frisch hält in Stiller viele solcher pittoresken Szenen bereit: In Mexiko auf dem Friedhof zum Totentag und auf dem Marktplatz, die Wüsteszene, der Brand im Sägebergwerk, die Alpen, Pontresina, der sanfte Kampf um Aufmerksamkeit mit der Katze Little Grey. In vielen Szenen, aus verschiedenen Perspektiven wird die Welt von Stiller und Julika, von Sibylle und Rolf lebendig. Vor allem trägt dazu bei, dass die Welt je aus den Augen der handelnden Figuren beschrieben wird, sowohl die Gefühle, wie die Gespräche, wie die Umgebung bekommen eine eigene Färbung und Wirklichkeit.

Die unselige Begegnung in seinem Büro – nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus – wurde von seiner Frau natürlich etwas anders erlebt, als Rolf, mein Staatsanwalt, sie dargestellt hat; nicht von ihr (so versicherte Sibylle) ging das verstockte Schweigen aus, sondern von ihm. […] Es war nicht Rolf, es war eine Maske, die ihr lächerlich vorkam. »Du mußt tun, was du für richtig hältst«, sagte er nochmals, öffnete die Türe und ließ sie durchs Vorzimmer gehen, begleitete sie höflich zum Lift – Nun mußte sie also nach Pontresina.

Die Eheprobleme der vier Personen, die sich verwickeln, sich gegenseitig voller Misstrauen, aber auch voller Liebe und Freundschaft begegnen, das Auf und Ab, das niemand versteht, niemand begreift, bildet das literarische Zentrum des Romans. Sie wollen sich im Grunde nichts Böses. Sie neiden sich nicht einmal viel, bleiben nicht lange eifersüchtig. Stiller, die Figur, spricht zwar nie, aber auch für ihn, den eifersüchtigsten von allen, gilt, dass er lieber Frieden als Streit will, lieber zurücksteht, als auf ein vermeintliches Recht bestehen würde. Das ausgeklügelte Acht-Augen-Gespräch führt eine Utopie vor Augen, wie nachsichtig, geduldig sich Menschen begegnen könnten. Es kreiert ein vollständiges Bild, gerade indem es Lücken und Leerstellen, Pausen lässt. Die Beziehungen werden lebendig, durch den Freiraum, den der Ich-Erzähler den Figuren schafft, ohne jedoch narrativ gewollte Unklarheiten, vermeintliche Spannungsbögen zu erzeugen. Alles ist klar. Nur nichts ist einfach. Um dies zu unterstreichen, unterbricht Frisch die Erzählfragmente noch mit Phantastereien.

Ich sitze in meiner Zelle, Blick gegen die Mauer, und sehe die Wüste. Beispielsweise die Wüste von Chihuahua. Ich sehe ihre große Öde voll blühender Farben, wo sonst nichts anderes mehr blüht, Farben des glühenden Mittags, Farben der Dämmerung, Farben der unsäglichen Nacht. Ich liebe die Wüste. Kein Vogel in der Luft, kein Wasser, das rinnt, kein Insekt, ringsum nichts als Stille, ringsum nichts als Sand und Sand und wieder Sand, der nicht glatt ist, sondern vom Winde gekämmt und gewellt, in der Sonne wie mattes Gold oder auch wie Knochenmehl, Mulden voll Schatten dazwischen, die bläulich sind wie diese Tinte, ja wie mit Tinte gefüllt, und nie eine Wolke, nie auch nur ein Dunst, nie das Geräusch eines fliehenden Tieres […]

Die Abwechslung von Dialog, Phantasien, von Nacherzählung, Erinnerung, Reflexion erzeugt ein sinnerfülltes lockeres Gefüge, das allen Elementen Luft und Entfaltungsraum gibt. Hinzukommt der Wechsel vom Präsenz ins Präteritum, der Wechsel zwischen den Orten in der Schweiz und zwischen den Kontinenten, zwischen den Erzählperspektiven der einzelnen Beteiligten und das offizielle Auge des schweizerischen Rechtsstaates verkörpert durch den bemühten, aber verzweifelten Verteidiger Dr. Bohnenblust, der zwischen allen Instanzen vermittelt, aber am Ende nicht so recht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Es fehlt die Identität, die Eineindeutigkeit, die einfach gestrickte Kausalkette, die erst ein standesgemäßes Urteil ermöglicht.

Kommunikativ-literarisches Resümee:

Max Frischs Stiller kommuniziert vor allem mit den existenzialistischen Romanen seiner Zeit. Die Sprache, zumeist kühl, die Beschreibungen sehr auf das Verhalten gerichtet, der Blick in die Bewegungen des Gefühlslebens, das Aufbrechen alter Rollenmuster, die Vision einer freien Liebe, die nackte Selbsterkenntnis als Ziel teilt Frisch mit den anderen, explizit existenzialistischen Autoren und Autorinnen. Spezifisch für diese Romane ist die Beschreibung einer existenzialistischen, das ganze Leben umkrempelnde Krise. In Stiller übernimmt diese Aufgabe die immer wieder, von allen Personen im Roman nacherzählte Anekdote aus dem Spanischen Bürgerkrieg:

Der junge Stiller hatte eine kleine Fähre am Tajo zu bewachen, infolge Männermangel sogar allein. Drei Tage lang geschah nichts. Dann aber, als im Morgengrauen endlich vier Franco-Spanier sich am andern Ufer zeigten, ließ Stiller sie die Fähre benutzen, ohne zu schießen, wiewohl es für ihn, der in tadelloser Deckung lag, eine Leichtigkeit gewesen wäre, die vier Feinde auf der Fähre abzuschießen. Er hatte acht Minuten lang Zeit. Stattdessen ließ er sie an sein Ufer kommen, trat aus seiner Deckung, schussbereit, sowie die andern ihrerseits das Feuer eröffnen würden, und also bereit, erschossen zu werden.

Stiller, voller Männlichkeitsallüren, will sich beweisen. Es gelingt ihm nicht. Er will nicht töten. Er will nicht schießen. Er will sich am Morden und Schlachten nicht beteiligen und ergibt sich. Dass Nicht-Schießen-Können wird immer wieder aufgegriffen. Es steht für die Unfähigkeit, erfolgreich in der Gesellschaft teilzunehmen, erfolgreich die Rollen und Masken zu übernehmen, also die Befehle zu befolgen, die die Autoritäten ihm erteilen. Kontrastierend steht hier Jean-Paul Sartres Held Mathieu in Der Pfahl im Fleische aus seiner Tetralogie Wege der Freiheit:

[Mathieu] trat an die Brüstung und fing stehend an zu schießen. Es war eine ungeheure Revanche; jeder Schuss rächte ihn für einen früheren Skrupel […] Er schoss auf den Menschen, auf die Tugend, auf die Welt […] er schoss auf den schönen Offizier, auf alle Schönheit der Erde, auf die Straße, auf die Blumen, auf die Gärten, auf alles, was er geliebt hatte. Die Schönheit machte einen obszönen Kopfsprung, und Mathieu schoss weiter. Er schoss: er war rein, er war allmächtig, er war frei.
[Jean-Paul Sartre aus: „Pfahl im Fleische“]

Max Frisch schlägt ganz andere Töne an. Weniger ein Ernest Hemingway, weniger ein Jean-Paul Sartre, eher ein Albert Camus aus Der Fremde, aber vor allem ein Ernesto Sabato in seinem Erstlingswerk Der Tunnel, das sechs Jahre zuvor erschien. Dieser beginnt wie Stiller in einer Gefängniszelle. Der Maler Juan Pablo Castel hat den Mord an seiner Geliebten Maria gestanden und wartet auf den Prozess:

Und obwohl ich mir keine großen Illusionen mache über die Menschheit im Allgemeinen und die Leser dieser Seiten im Besonderen, ermutigt mich die schwache Hoffnung, dass mich vielleicht doch ein Mensch versteht. Auch wenn es nur ein Einziger ist. […] Ich kann bis zur Erschöpfung und brüllend vor einer Versammlung von hunderttausend Russen sprechen. Niemand würde mich verstehen. Sehen Sie, was ich damit sagen will? Es gab einen Menschen, der mich hätte verstehen können. Aber das war gerade der Mensch, den ich umgebracht habe.
[Ernesto Sabato aus: „Der Tunnel“]

Castel wie Stiller suchen eine innige Liebe, eine Verbindung, die ein tieferes, friedlicheres Empfindungsleben ermöglichen würde. Sie suchen nicht einfach nur Lust. Sie wollen nicht ‚einfach schießen‘. Sie streben danach ihre Person, die Welt, die Rollen und Masken zu transzendieren und projizieren diese Sehnsucht auf ihre Partnerinnen, die aber vor einer solchen Aufgabe gestellt nicht genügen, nie genügen können. Sowohl Julika wie Maria bezahlen mit ihrem Leben dafür. Hier konvergiert Stiller mit Ingeborg Bachmanns Malina, wenn Sibylle, nachdem Stiller ihr seine Trennung von Julika eröffnet hat, während diese wegen Tuberkulose in Davos um ihr Leben kämpft:

»Das ist doch Wahnsinn, Stiller, das ist doch Mord …«

Ingeborg Bachmann beendet ihren einzig vollendeten 1971 erschienen Roman Malina bekanntlich mit der Klarstellung: Es war Mord.
[Ingeborg Bachmann aus: „Malina“]

Stiller und Castel, im Gegensatz zu Mathieu, sagen sich zwar von der physischen Gewalt ab. Sie schießen nicht. Sie verzweifeln am Morden und Schlachten, aber lieben können sie deshalb noch lange nicht. Stiller versagt in den entscheidenden Momenten für Julika da zu sein. Er bleibt feige, flieht, flüchtet sich in Schweigen, in den Alkohol, in die Kunst. Er begeht keinen mörderischen Akt wie Castel, aber er zerstört Julikas Leben nichtsdestotrotz, wie er seinem Wärter Knobel darlegt:

»Es gibt allerlei Arten, einen Menschen zu morden oder wenigstens seine Seele, und das merkt keine Polizei der Welt. Dazu genügt ein Wort, eine Offenheit im rechten Augenblick. Dazu genügt ein Lächeln. Ich möchte den Menschen sehen, der nicht durch Lächeln umzubringen ist oder durch Schweigen. Alle diese Morde, versteht sich, vollziehen sich langsam.«

Max Frischs Stiller besitzt den Verdienst, auf diese Verletzungen und Wunden Aufmerksamkeit zu lenken, auf die vielen kleinen und großen Schändlichkeiten, die sich Menschen antun, ohne Böses im Sinn zu haben, auf die Qualen und Brutalitäten, sobald ein Mensch einen anderen für eine Selbstverständlichkeit nimmt und ihn nur zur Befriedigung der eigenen Eitelkeiten benutzt. Es endet meist für alle schlimm. So auch bei Frisch. Stiller bleibt allein.

Alexander Carmele
https://kommunikativeslesen.com/

MeinKlassiker (38): Warum Transit für Sibylle Schleicher immer noch aktuell ist

Für die Schriftstellerin Sibylle Schleicher ist “Transit” ein Roman, den sie immer wieder liest. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen. Ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt. Ein Beitrag in der Reihe #MeinKlassiker.

Die Schauspielerin, Sängerin, Lyrikerin, Theater- und Romanautorin Sibylle Schleicher nennt sich selbst eine Fünfkämpferin, ist sie doch in Schielleiten, in einer Bundessportschule Österreichs, geboren.

Zuletzt erschien von ihr im Chronos Verlag das Stück: ‚In einem kühlen Grunde‘ – eine schwarze Komödie, die im Theater im Turm in Regensburg im April uraufgeführt wurde. Ihr letzter Roman „Die Puppenspielerin“, der im Alfred Kröner Verlag im Herbst 2021 erschienen ist, wurde im Dezember 2022 als Bühnenadaption in der Theaterei Herrlingen uraufgeführt. Mit Olivera Stosic-Rakic hat sie die künstlerische Leitung des Literaturprogramms beim Internationalen Donaufest 2024 inne.

Und trotz ihrer zahlreichen kreativen Verpflichtungen ist Sibylle Schleicher, die bei Ulm lebt, immer auch gesellschaftlich engagiert. So ist sie als Ehrenmitglied des Stiftungsrats: ‚Stiftung Erinnerung‘ kreativ für das Dokumentationszentrum Ulm tätig, aktiv für Theaterprojekte im professionell integrativen Theater Heyoka (Ulm) und engagiert sich ehrenamtlich für Asylsuchende.

Ihr Klassiker hat mit letzterem zu tun: „Transit“ von Anna Seghers – dies zeigt auch die Verfilmung durch Christian Petzold aus dem Jahr 2018 – ist (leider) zeitlos und aktuell. Denn „Transit“ beschreibt eindringlich wie kaum ein anderer Roman das Schicksal heimat- und ziellos herumirrender Menschen – ein Buch, das zurecht als Meisterwerk der Exilliteratur gilt.


Ein Gastbeitrag von Sibylle Schleicher

Fort, nur fort aus diesem zusammengebrochenen Land, fort aus diesem zusammengebrochenen Leben, fort von diesem Stern.“

Juni 2023. Griechenland. Am frühen Mittwochmorgen kentert ein hoffnungslos überladenes Flüchtlingsboot westlich der Halbinsel Peloponnes. Hunderte Männer auf dem Deck, Frauen und Kinder unter Deck – an die 750 Insassen. Menschen wurden gerettet, Leichen wurden geborgen. Es war das bisher schwerste Bootsunglück vor der griechischen Küste, sagt die Internationale Organisation für Migration. Einmal mehr geht der Streit um Schuld und Verantwortung los. Einmal mehr in diesen vergangenen Jahren. Und die, die gerettet worden sind, werden erfahren, wie wenig Chancen sie auf Asyl haben.

In der Woche davor höre ich im Radio Diskussionen um das Screening-Verfahren an den Außengrenzen. Nach wie vor geht es um Grenzsicherung und nicht um die Menschenrechte der schutzsuchenden Menschen. Das Screening bestimmt, welches Asylverfahren die geflüchteten Menschen bekommen. Sie selbst haben keine Rechtsmittel zur Verfügung. Sie zählen als ‚nicht eingereist‘, obwohl sie bereits eingereist sind. Sie sind gezwungen, in den Massenlagern an den Außengrenzen auf weitere Verfügungen zu warten. Illegale Pushbacks, bei denen die Schutzsuchenden gewaltsam an den Grenzen abgewiesen werden, sind an der Tagesordnung. Hinter all den statistischen Fakten und politischen Diskussionen stehen individuelle Schicksale, steht eine eigene Geschichte. Oft bleibt sie unerzählt. Nicht nur, weil die Betroffenen nicht fähig sind, darüber zu reden, auch, weil es an Zuhörern fehlt. Dabei würden uns diese Geschichten helfen, mehr zu verstehen, auch zu begreifen, wo unser Handeln ansetzen kann. Und immer wieder denke ich an Anna Seghers‘ ‚Transit‘.  

„Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, dass man nicht bleiben will.“

Winter 1940/41. Marseille. Flüchtlinge aus allen Ländern Europas treffen zu Tausenden in dieser Hafenstadt ein, um eine Schiffspassage irgendwohin zu ergattern, auf einem Schiff, das sie aus dem brennenden Europa der Nazis wegbringt. Unter ihnen der Ich-Erzähler, dessen wirklichen Namen wir nicht erfahren.

„Transit“ beginnt mit dem Ausgang der Geschichte. Der Ich-Erzähler hat erfahren, dass die „Montreal“ auf eine Mine lief und zwischen Dakar und Martinique untergegangen ist. Er sitzt in einer Pizzeria und lädt einen Gast auf Pizza und Rosé ein, um sich dessen Zuhörerschaft zu sichern. Er möchte „alles einmal von Anfang an erzählen.“ Wie er 1937 aus dem Konzentrationslager geflohen und über den Rhein geschwommen ist, wie ihn die Franzosen ohne Papiere in ein Arbeitslager bei Rouen internierten, wie er wieder entkommen konnte und 1940 in Paris landete. Die Deutschen marschierten gerade in Frankreich ein. Er lebt vorübergehend bei Freunden, der Familie Binnet. Durch einen Zufall gelangt er an den Koffer des toten Schriftstellers Weidel und verspricht, diese karge Hinterlassenschaft bei den Verwandten des Toten abzugeben. Das gelingt nicht und ehe er eine Lösung dafür findet, ist er wieder auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Mit einem auf den Namen Seidler gefälschten Pass verschlägt es ihn mitsamt Koffer, dessen Inhalt er mittlerweile genau kennt, nach Marseille.

Dort hat er Verbindung zur weiteren Binnet-Verwandtschaft und dort lernt andere Emigranten kennen, die alle nur so schnell wie möglich auswandern wollen. Es ist ein Hetzen nach den richtigen Papieren durch ein Labyrinth von Behörden. Dem neuen Seidler jedoch gefällt es in Marseille. Er würde gerne bleiben. Aber auch das ist nicht so einfach erlaubt. Bei einem weiteren Versuch, Weidels Koffer auf dem mexikanischen Konsulat abzugeben, hält man ihn selbst für Weidel, der um eine Ausreisegenehmigung ansucht. Er klärt den Irrtum nicht auf. Nimmt vielmehr Weidels Identität an. Während der eisigen Wintertage, in denen er seine Abreise vorbereitet, lernt er Marie kennen. Eine Frau, die mit einem Arzt zusammenlebt, gleichzeitig aber auf der Suche nach ihrem Mann rastlos durch die Cafés der Stadt streift. Seidler, mittlerweile Weidel, verliebt sich in sie und auch als er begreift, dass sie die Frau des Toten ist, zögert er zu lange, sie über das Schicksal ihres Mannes aufzuklären. Durch glückliche Fügungen erhält er eine Passage nach Übersee. Doch er gibt sie zurück. Er bleibt im Land. Marie hingegen kann er zur Ausreise mit dem Arzt auf der „Montreal“ bewegen. Die beiden kommen auf dem Weg in die erhoffte Freiheit ums Leben.

Transit steht bei Anna Seghers nicht nur für das Durchreisevisum. Transit steht für ein ganzes Durchgangsstadium verbunden mit einem ständigen Auf und Ab zwischen Hoffnung und Todesangst, verbunden mit dem Verlust von Würde und Solidarität. Die Flüchtlinge werden zu namenlosem Gesindel, das jederzeit herumgeschoben werden darf. Ihr Wert misst sich an ihren Papieren und ihrem Geld.

Anna Seghers, die selbst 1940 als jüdische Kommunistin mit ihren Kindern aus Paris flüchtet und 1941 in Mexiko landet, beschreibt nicht nur das einzelne Schicksal von Flucht und Exil des Ich-Erzählers. Sie greift viele Geschichten auf, flicht sie in den Roman ein, indem sie dem Protagonisten erzählt werden. Er, der in dieser Durchgangsphase keine eigene Identität mehr hat, sondern nur eine gefälschte und eine geliehene/gestohlene, bleibt dadurch trotzdem authentisch, auf dem Boden der Tatsachen, bei sich und gleichzeitig mitfühlend bei den anderen, noch fähig zu zuhören und mit zu leiden. Er hat Glück, dass er so etwas wie einen Familienanschluss bei den Binnets hat. Die soziale Wärme erdet ihn, lässt ihn seine Flucht reflektieren. Seghers bezieht mit der Familie Binnet das gewöhnliche Leben inmitten dieses chaotischen Treibens ein, lässt ahnen, wie es sein könnte, wenn alle Flüchtlinge Anschluss zu ansässigen Familien hätten. Sie beschreibt aber gerade durch diese beinahe freundschaftliche Vertrautheit auch die Einsamkeit und Fremdheit derer, die nur auswandern wollen, sich an nichts binden, weil sie ohnehin nicht bleiben. Es ist eine Welt, in der es keinen richtigen oder falschen Weg gibt. Nichts ist im Voraus berechenbar. Die rettende Schiffspassage kann einen auch in den Tod führen.

Anna Seghers mit Leserinnen. Bundesarchiv, Bild 183-47613-0003 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en, via Wikimedia Commons

Mit ihrer direkten und klaren Sprache nimmt Anna Seghers uns unmittelbar mit in eine starke Bilderwelt. Der Leser ist quasi Gast des Erzählers in der Pizzeria, erlebt seine zermürbende Odyssee durch Städte und Ämter mit, friert mit ihm im kalten Regen und Wind, bangt mit ihm, dass er seine Papiere zur rechten Zeit bekommt – die Lagerentlassungspapiere, den Pass, das polizeiliche Führungszeugnis, das Ausreisevisum, das Transitvisum, das Einreisevisum usw.­– alles in der richtigen Reihenfolge, selbst wenn er weiß, dass es Papiere für einen Toten sind. Und schließlich hofft der Gast auf einen guten Ausgang, nicht nur für den Protagonisten, auch für alle anderen, die durch ihre einzigartigen Lebensgeschichten nahegerückt sind.  

„Welchen Zweck sollte das haben, Menschen zurückzuhalten, die sich doch nichts sehnlicher wünschen, als ein Land zu verlassen, in dem man sie einsperrt, wenn sie bleiben?“  

Herbst 2017. In einem Dorf bei Ulm. Im Asyl-Café. Die Asylsuchenden aus Afghanistan ducken sich, wenn ein Unbekannter ins Café kommt. Das zermürbende Warten auf endgültige Entscheidungen über ihren Asylantrag, lässt sie nicht schlafen. Sie trauen keinem mehr, reden über Suizid.  

Winter 2017. In einem Dorf bei Ulm. Neue Asylsuchende sind angekommen. Aber nicht aus einem anderen Land, nur aus einem Heim in der größeren Stadt. Ein junger Mann aus Ghana erzählt mir seine Geschichte. Seit zweieinhalb Jahren ist er im Land und immer noch ohne Papiere. Sein Haus in Ghana ist drei Mal abgebrannt. Auf dem Weg nach Europa ist das Schlauchboot untergegangen. Er ist einer der wenigen Überlebenden. Das Leben gerettet, die Papiere nicht. „Wer weiß, was an der Geschichte wahr ist“, sagen sie um ihn herum. Er kann nicht beweisen, dass er aus Ghana ist, wird dem Senegal zugeordnet. Er wartet auf den Übersetzer, der seine Sprache für die Ämter bestätigten soll. Inzwischen bewegt sich nichts. Junge Menschen ohne Perspektive, ‚verwarten‘ ihre lebendigsten Jahre.

Warten spielt auch in „Transit“ die nahezu größte Rolle. Warten vor dem Konsulat, in den Cafés, am Kai, im kargen Hotelzimmer. Ein zehrendes Warten, das alle Lebensenergie aus einem herausziehen kann. Warten, in das sich bisweilen Langeweile mischt, vor allem aber Angst und Ungeduld.

„Transit“ ist eine von vielen vergleichbaren Geschichten, die unsere Vergangenheit prägen und sich in das kollektive Gedächtnis eingeschrieben haben. Eine Geschichte, die zeitlich im Zweiten Weltkrieg verankert ist, mit ihm und seinen politischen Auswirkungen zu tun hat, so gesehen eine unzeitgemäße Variante dieses Themas sein könnte. Denn dass das Thema Emigration selbst hochaktuell ist, muss man nicht weiter ausführen. Dass auch heute viel darüber geschrieben wird und wir mit den Schicksalen der Flüchtlinge in allen Medien konfrontiert werden, ist nicht zu bestreiten. Warum also so eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert ausgraben? Einerseits, weil Anna Seghers Sprache uns noch ganz direkt erreicht und ohne Larmoyanz oder Härte zu berühren vermag. Und anderseits, vielleicht gerade weil der Blickwinkel ein anderer ist, weil man sich durch die zeitliche Distanz viel eher Vergleiche anzustellen traut. Man wähnt sich in sicherem Abstand und kann plötzlich die Realität anders zulassen. Man hält es aus, die Nahaufnahmen anzuschauen. Und wie der Ich-Erzähler zu Mitgefühl findet, indem er zuhört, können auch wir zu einer größeren Durchlässigkeit und Empathie den aktuellen Geschehnissen gegenüber gelangen, sie in unser Leben einbeziehen und nicht außen vorlassen.  

„Alles war auf der Flucht, alles war nur vorübergehend, aber wir wussten noch nicht, ob dieser Zustand bis morgen dauern würde oder noch ein paar Wochen oder Jahre oder unser ganzes Leben.“  

Mai 2023. Andau. An der Brücke. Es regnet, leichter Nebel liegt über dem Wasser. Außer uns ist heute keiner da. Das Wetter zu unwirtlich. Die Kälte kriecht unter unsere Jacken. Ich gehe langsam über die Brücke. Unter ihr der Einser Kanal. Im Hinterkopf eine leichte Ahnung, wie es 1956 gewesen sein könnte. Es ist nicht mehr die Brücke, über die mehr als 70.000 Flüchtlinge von Ungarn nach Österreich gekommen sind, weil diese Brücke damals von den sowjetischen Truppen gesprengt wurde, aber viele Zeichen erinnern rundum an die Zeit. Internationale Künstler und Künstlerinnen säumen hier mit ihren Werken im Sinne des historischen Geschehens das Gelände mit ihren Objekten und Skulpturen. Vor und hinter der Brücke stehen Informations– und Gedenktafeln, Grenzsteine, Landesschilder. Im Regen nimmt man all die Zeichen nicht so genau wahr, denkt nur daran, wie sich die Menschenmengen über die Brücke geschoben haben, nachdem sie zuvor schon tagelang auf der Flucht waren. Warten, Chaos und Angst vor der Grenze zum Burgenland. Wie in Anna Seghers ‚Transit‘, denke ich wieder. Nur ganz anders. Aber dann doch nicht anders. Flucht und Migration, ein zeitloses Thema. Menschen fliehen, weil ihr Leben in Gefahr ist, sie fliehen vor Willkür, Gewalt und Zerstörung. Sie fliehen, weil sie Ihre Kinder nicht mehr ernähren können, weil sie Hoffnung haben auf ein besseres Leben. Niemand verlässt ohne einen wichtigen Grund sein zu Hause.

Über das Burgenland wurden die Flüchtlinge unter anderem weiter in die Steiermark gebracht und auf Flüchtlingslager verteilt. 116 Flüchtlingslager verschiedener Größen gab es 1956/57 in der Steiermark. Eines davon war Schloss Schielleiten im Bezirk Hartberg, eine der Bundessportschulen Österreichs. 105 Flüchtlinge fanden dort im Winter 1956 vorübergehend eine Bleibe. Mein Vater war zu dieser Zeit Verwalter dieses Betriebs. Damals sind Freundschaften entstanden, die unser aller Leben bis heute begleiten. Darüber will ich unter anderem in meinem neuen Roman: ‚Die Kinder von Schielleiten‘ (Arbeitstitel) erzählen.

Sibylle Schleicher
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Buchausgaben:

Die Werke von Anna Seghers erscheinen im Aufbau Verlag.
Transit ist als Hardcover innerhalb der Werkausgabe erhältlich,
als Taschenbuch und Ebook.

Taschenbuch:
Anna Seghers
Transit
Aufbau Verlag, 2018
ISBN: 978-3-7466-3501-9