Michael Klein: Mark Twain in Bayern

Mark Twain hielt sich mehrmals in seinem Leben in Bayern auf. Erstmals erscheinen alle Texte, die dabei entstanden, in einem Sammelband.

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Mark Twain mochte München. Auch im Winter. Bild von Michael Siebert auf Pixabay

„Eine deutsche Tageszeitung ist die traurigste sämtlicher menschlicher Erfindungen.“ 

Michael Klein (Hg.), „Mark Twain in Bayern“


Mark Twain muss Bayern sehr zu schätzen gewusst haben. Ein Indiz dafür: Obwohl er insgesamt rund ein halbes Jahr seines Lebens unter weißblauem Himmel verbracht hatte, klammerte er den Freistaat (damals Königreich) aus seinem satirischen Reisebericht „Ein Bummel durch Europa“ – den er in München schrieb – weitgehend aus.

Dreimal in seinem 74jährigen Leben hielt sich der amerikanische Schriftsteller in Bayern auf: Mit seiner Familie verbrachte er 1878/79 einen Winter in München, eine zweite Reise führte ihn 1891 nach Nürnberg und Bayreuth und 1893 begleitet er seine Frau Olivia zur Kur nach Bad Tölz. Akribisch hat der Autor und Übersetzer Michael Klein die schriftlichen Spuren dieser Reisen zusammengetragen: Briefe und Reiseberichte, in denen Mark Twain von seinen Erlebnissen erzählt, aber auch die literarischen Erzeugnisse, in die das, was der Schriftsteller in Bayern erlebte, einfloss. Michael Klein, der bereits 2015 das Buch „Mark Twain in München“ (Morio Verlag)  veröffentlicht hat, ist Herausgeber das Bandes „Mark Twain in Bayern“, in dem erstmals alle „bayerischen Texte“ des Schriftstellers erschienen sind, manche davon in deutscher Erstveröffentlichung.

Ein Hoch auf die Bavarian Gemütlichkeit

Mit staunenden Augen blickt Mark Twain auf „Bavarian Gemütlichkeit“, genießt die Weihnachtszeit und Lebkuchenseligkeit in München, versucht seine Deutsch-Kenntnisse aufzupolieren und insbesondere beim ersten Besuch eine veritable Schreibkrise zu überwinden. Was nach anfänglichen Startschwierigkeiten gelingt: Mark Twain kommt in München zur Ruhe, der „Bummel durch Europa“ nimmt zwischen Museums- Ausstellungsbesuchen (München galt auch damals schon als Kunststadt von sehr gutem Ruf) und dem Studium der Bräuche und Sitten langsam Gestalt an.

In seinen Briefen und privaten Texten schildert Twain seine täglichen Erlebnisse – er räsoniert über die Sinnhaftigkeit des Meldewesens für Ausländer, begeistert sich für die Tradition des Schäfflertanzes und mokiert sich aber ebenso auch über das örtliche Zeitungsangebot – für den Journalisten, der Zeit seines Lebens ein eifriger Zeitungsleser blieb, waren die deutschen Newspapers schlichtweg eine große Enttäuschung:

„Wenn man einen Münchner Bürger fragt, welches die beste Münchner Tageszeitung sei, wird er einem unweigerlich antworten, dass es nur eine einzige gute Münchner Tageszeitung gäbe und dass sie in Augsburg erscheine, das in einer Entfernung von etwa siebzig bis achtzig Kilometern liegt. Das ist ungefähr so, als würde man sagen, die beste New Yorker Zeitung erscheine irgendwo draußen in New Jersey. (…) Die gesamte, auseinandergelegte Zeitung ist nicht annähernd so groß wie eine einzige Seite des New York Herold. Natürlich ist sie beidseitig bedruckt, aber die Typen sind derart groß, dass der gesamte Inhalt in der Schriftgröße des Herold auf eine einzige Seite desselben gehen würde (…).“ 

Aber hätte er nicht nur versucht, Deutsch zu lernen, sondern auch das Bayerische, so hätte sein Urteil über alles andere sicher gelautet: „Passt scho!“.  Michael Klein stellt in informativen Einleitungen die Texte Twains aus Bayern in die richtigen biographischen und zeitgeschichtlichen Zusammenhänge. So wird auch verständlich, warum in dieses Buch die beiden Erzählungen Twains „Das Geständnis eines Sterbenden“ und „Der gestohlene weiße Elefant“ Eingang gefunden haben.

Besuch im Leichenschauhaus

In München besuchte Mark Twain 1879 ein Leichenschauhaus, damals durchaus eine selten zu findende Einrichtung. Hintergrund war die verbreitete Angst, scheintot begraben zu werden. Für den phantasievollen Geist Mark Twains die Inspiration zu einer Kriminalgeschichte, die in den Vereinigten Staaten spielt, ihren Ausgang aber in Bayern hat. Und der „weiße Elefant“, eine seiner berühmtesten Erzählungen, ist einfach ein Beispiel dafür, dass Twain in München seine Schreibblockade überwand und zu alter Form zurückfand – entstand die Erzählung doch in jenem ersten Münchner Winter.

Im Grunde hätte „die Weltstadt mit Herz“ auch einen großen Anteil im Reisebuch „Ein Bummel durch Europa“ haben sollen, wie Michael Klein schreibt,

„vergleichbar den Passagen über die Neckarfloßfahrt, Heidelberg oder die Tour durch die Schweiz, die lange Textstrecken in seinem im März 1880 erschienen Buch ausmachen. Mit Entwürfen über München hatte er begonnen, doch blieben seine Schilderungen sehr berichtsartig und während der Arbeit an seinem Buchmanuskript veränderten sich dessen Motive und Tonfall. Mark Twain verstärkte die fiktiven, flunkernden und humoristischen Elemente und am Ende stellte er fest, dass seine München-Texte sich in diesen Stil nicht mehr harmonisch würden einfügen lassen.“ 

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Natürlich darf die Konfrontation mit Wagner-Musik nicht fehlen. Bild von Mikhail Vachtchenk0 auf Pixabay

Dass Mark Twain dann einige Jahre später ausführlich über Franken schreibt, hängt damit zusammen, dass er für die „New York Sun“ von den Bayreuther Festspielen berichten sollte. Der Wagner-Kult: Eine Steilvorlage für den Satiriker, der aber als Privatmann, so Michael Klein, ein durchaus ambivalentes Verhältnis zur Oper und Richard Wagner im Speziellen hatte, das „von entsetztem Spott bis zu echter, leidenschaftlicher Begeisterung“ reichte. Gleichwohl ist „Am Schrein zu St. Wagner“ (in voller Länge auch hier zu finden) einer der unterhaltsamsten Texte zu diesem eigenartigen Phänomen:

„Gestern wurde “Tristan und Isolde” gespielt. Ich habe alle Arten von Zuschauern gesehen – in Theatern, Opern, Konzerten, bei Vorlesungen, Predigten und Trauerfeiern – aber keine war der der Wagnerzuschauer in Bayreuth gleich in Bezug auf konzentrierte, ehrfurchtsvolle Aufmerksamkeit, absolute, versteinerte Aufmerksamkeit bis zum Ende eines Akts, mit der am Anfang des Akts eingenommenen Haltung vollkommen intakt. Man kann keine Bewegung der soliden Masse von Köpfen und Schultern entdecken. Man scheint mit den Toten im Dunkel eines Mausoleums zu sitzen. Man weiß, dass sie zutiefst erschüttert sind; dass es Zeiten gibt, wenn sie aufstehen wollen und ihre Tücher schwenken wollen und ihre Zustimmung hinausschreien wollen, und Zeiten, wenn ihnen Tränen herunterlaufen, und es wäre eine Erlösung, wenn sich ihre angestauten Gefühle in Seufzern oder Schreien entladen könnten; man hört jedoch keinen einzigen Laut bis sich der Vorhang schließt und die letzten Töne verklungen sind; dann erwachen die Toten auf einmal auf und erschüttern das Haus mit ihrem Beifall. Jeder Sitz ist im ersten Akt voll; es gibt keinen leeren im letzten Akt. Falls jemand auffallen will, soll er hierher kommen und sich inmitten eines Akts entfernen. Es würde ihn berühmt machen.“ 

Dass Michael Klein sich die Mühe gemacht hat, die Texte Mark Twains zu und aus Bayern zusammenzutragen und zusammenhängend zu präsentieren, dürfte nicht nur echten Twain-Experten gefallen – der Sammelband ist ein unterhaltsames Kompendium für alle Leser, die Twain UND Bayern mögen und Lust haben, mit liebevollem Spott auf dieses eigenartige Land zu blicken.


Informationen zum Buch:

“Mark Twain in Bayern” erschien in der “edition monacensia” im Allitera Verlag. Seit 2002 bringt Elisabeth Tworek, Leiterin der Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek der Landeshauptstadt München, ausgewählte Werke renommierter Münchner Autorinnen und Autoren des 19., 20. und 21. Jahrhunderts in der »edition monacensia« heraus.


Mark Twain: Post aus Hawaii

1866 wurde Samuel Langhorne Clemens von der “Sacramento Daily Union” in die Südsee geschickt. Das wurde ein Bombenerfolg – und aus Clemens wurde Mark Twain.

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Bild von DawniGirl auf Pixabay

„Wenn man in Honolulu mit einem Fremden ins Gespräch kommt und den natürlichen Wunsch verspürt, herauszufinden, auf welchem Terrain man sich bewegt und welche Art von Mensch der andere ist, dann spricht man ihn am besten zunächst mit „Kapitän“ an. Man beobachte ihn genau, und wenn man an seinem Gesichtsausdruck erkennt, dass man auf der falschen Spur ist, frage man ihn, wo er predigt. Es ist so gut wie sicher, dass er entweder Missionar oder Kapitän auf einem Walfänger ist.“

 Mark Twain, „Post aus Hawaii“, 2010, mareverlag, Hamburg.

Als Mark Twain zu den Sandwich-Inseln reisen darf, ist er bei weitem noch kein etablierter Autor. 1866 wird Samuel Langhorne Clemens im Auftrag der Tageszeitung “Sacramento Daily Union” mit dem Dampfschiff auf Reportage entsandt. Der junge Reporter, geboren 1835 in Florida, soll vor allem über die Zuckerrohrindustrie auf den Sandwich-Inseln berichten.

Auch wenn der junge Journalist alles andere als die bestellten Auftragsarbeiten ablieferte – sowohl für ihn als auch für die Herausgeber des „Sacramento Daily“ wurde die Reise zum Glücksfall. Aus den geplanten vier Wochen wurden vier Monate, aus den journalistischen Berichten wurden lebendige Reportagen, kleine Erzählungen und vor allem Humoresken über das Inselleben. Und aus dem Zeitungsmann Samuel Langhorne Clemens wurde durch den Erfolg dieser Briefe und der anschließenden Vortragsreisen der berühmte „Mark Twain“.

Die Reiseberichte lesen sich auch heute noch so frisch, lebendig und widerborstig wie andere „Reisebücher“ aus der Feder dieses großen amerikanischen Schriftstellers, sei er mit den Arglosen im Ausland unterwegs oder auf einem „Bummel durch Europa“. Bis die Reportagen, die den Grundstein zu Mark Twains Erfolg bildeten, jedoch komplett in Buchform erschienen, sollte es dauern. Er selbst verwertete zu Lebzeiten nur Teile daraus in anderen Büchern. In deutscher Übersetzung durch Alexander Pechmann – der der Ausgabe auch ein lesenswertes Nachwort mit einer Fülle weiterer Informationen angefügt hat – wurden die vollständigen Briefe aus Hawaii erst 2010 veröffentlicht, 100 Jahre nach dem Tod des Schriftstellers.

Die „Post aus Hawaii“ lässt schon die typischen Züge des späteren Schriftstellerstars erkennen: Die Briefe sind humorvoll bis bissig, ab und an gehen ihm die fiktiven Gäule durch (so erfindet er einen tolpatschigen Reisebegleiter, den armen Mr. Brown), sie zeugen zugleich aber auch von seinem journalistischen Spürsinn und seiner genauen Beobachtungsgabe. Was das Werk von späteren unterscheidet: Mark Twain schlägt deutlich patriotische Töne an, Hawaii wird vor allem aus dem Blickwinkel betrachtet, inwieweit die Insel und ihre Nachbarn nützlich für Amerika sein könnten.

Als Twain auf die Sandwich-Inseln kommt, waren diese bereits mehrfach wegen ihrer geographischen Lage und ihrer Naturschätze zum Objekt der Begierde geworden: James Cook gab der Inselkette zu Ehren von Lord Sandwich ihren Namen, dann annektierten die Russen, die Engländer und die Franzosen in abwechselnder Reihenfolge die Inseln, die seit 1810 durch die gewaltsame Eroberung von Kamehameha I. als Königreich geführt wurde. Die Monarchie überlebte den Besuch Twains nur wenige Jahre. Und auch die nachfolgende Republik war nur von kurzer Dauer: 1898 wurde Hawaii von den Amerikanern annektiert und ist seit 1959 der 50. Staat der Vereinigten Staaten.

Die großen Nachbarn hatten schon immer ein lebhaftes Interesse an den Inseln – und dieses sollte auch über die Zeitungsberichte Mark Twains beim Publikum geschürt werden. Immerhin ging es auch um handfeste wirtschaftliche Interessen. So schreibt Mark Twain im April 1866 an seine Leser:

„Der Walfang des nördlichen Pazifiks – der keineswegs unbedeutend ist – hat sein Zentrum in Honolulu. Ohne ihn würde die Stadt eingehen – ihre Geschäftsleute würden fortziehen, und die Grundstücke würden ihren Wert verlieren, zumindest jene, die zur Stadt gehören, obwohl Honolulu womöglich auch weiterhin als hervorragende Zuckerrohrplantage gedeihen würde, denn der Boden ist fruchtbar und braucht nur wenig Bewässerung.
Die Handelskammer von San Francisco wäre gut beraten, wenn sie sich bemühte, das Geschäft mit dem Walfang nach Kalifornien zu holen. Honolulu rüstet dieses Jahr die Mehrheit von sechsundneunzig Walfängern aus und erhält dafür eine ziemlich große Geldsumme.“

Wie Alexander Pechmann in seinem Nachwort ausführt, zeigt Twain in diesen Zeitungsartikeln durchaus eine imperialistische, patriotische Haltung, in dem er sich für eine wirtschaftliche Expansion der Vereinigten Staaten ausspricht – eine Haltung, die er in späteren Texten revidieren wird. Pechmann schreibt dazu:

„Twains politische Haltung ist nicht einfach zu definieren. Er hat anscheinend keine Probleme damit, in vielen seiner Erzählungen die Geldgier seiner Landsleute zu verhöhnen und gleichzeitig in seinen Zeitungsartikeln die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte zu propagieren. (…) Er zeigt immer dann Sympathie für die Bemühungen des Königsreichs von Hawaii, den Status der Unabhängigkeit zu bewahren, wenn damit die Unabhängigkeit von den europäischen Mächten gemeint ist. Die Hawaiianer sind für ihn gewissermaßen bereits Amerikaner (…)“.

„America first“: Und doch kann man Herrn Twain für diese jungenhafte patriotische Haltung nicht allzu böse sein, bringt er einen doch überwiegend mit seiner Südsee-Post zum Schmunzeln und zum Lachen. Neugierig, respektlos, intelligent: So berichtete Mark Twain über das Leben und die Sitten auf den Inseln. Keiner ist vor ihm sicher: Er karikiert das Gehabe der Missionare, die naive bis morbide Wissbegier der Touristen, nimmt Eingewanderte und Einheimische aufs Korn und amüsiert sich insbesondere über die örtliche Politik:

„Dieses Parlament ist wie alle anderen Parlamente. Ein Holzkopf steht auf und macht irgendeinen vollkommen absurden Vorschlag, wonach er und ein halbes Dutzend anderer Holzköpfe die Sache eine Stunde lang mit geschwätziger Leidenschaft durchdebattieren, während die anderen Abgeordneten seelenruhig abwarten, bis ein vernünftiger Mann – ein einflussreicher Mann – eine große Nummer –  sich erhebt und die Torheit der Angelegenheit in fünf Sätzen darlegt.“

Mit bissigem Humor schaut Mark Twain auf den Inselstaat, seine Bewohner und ihre Sitten. Ganz ernst geht er jedoch auch auf die offenkundigen Schattenseiten im Inselparadies ein – die Folgen der Kolonialisierung, die Folgen der Ausbeutung der Ressourcen und Arbeitskräfte. Was ihn, als echten amerikanischen Patrioten, jedoch nicht daran hindert, für die Annexion Hawaiis durch die USA einzutreten.

Auch wenn man manches einfach in der Zeit verorten muss – Lesefreude bereitet der Hula auf Hawaii mit Mark Twain auch heute noch, zudem könnten die Briefe bei einem Inselbesuch auch ganz nützliche, unterhaltsame Reisebegleiter sein.

Das Buch ist auch als Taschenbuch erhältlich:
Post aus Hawaii, Dumont Verlag

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Mark Twain: Bummel durch Europa

Es hätte sicher riesigen Spaß gemacht, mit Mark Twain durch Europa zu bummeln – sein Reisebericht von seinem Aufenthalt 1878/79 spricht Bände.

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Bild von Heidelbergerin auf Pixabay

„Der nächste Morgen brachte uns gute Nachricht – unsere Reisekoffer waren endlich aus Hamburg eingetroffen. Dies möge dem Leser als Warnung dienen. Die Deutschen sind sehr gewissenhaft, und dieser Charakterzug macht sie sehr umständlich. Sagt man daher einem Deutschen, man möchte irgend etwas sofort erledigt haben, nimmt er einen beim Wort; er glaubt, man meint, was man sagt; also erledigt er es sofort – in Übereinstimmung mit seiner Vorstellung von sofort – nämlich in etwa einer Woche; das heißt, sofort bedeutet eine Woche, wenn es sich um die Herstellung eines Kleidungsstückes handelt, oder anderthalb Stunden, wenn es um die Zubereitung einer Forelle geht. Schön; sagt man einem Deutschen, er möge einem den Koffer „nicht als Eilgut“ nachschicken, nimmt er einen beim Wort, er schickt ihn „nicht als Eilgut“ und man kann sich gar nicht vorstellen, wie lange man seine Bewunderung angesichts der Ausdruckskraft dieser Wendung der deutschen Sprache wachsen lassen darf, bevor man seinen Koffer schließlich in Empfang nimmt. Das Fell meiner Seekiste war weich und dicht und jugendfrisch, als ich sie in Hamburg zum Versand aufgab; sie war kahlköpfig, als sie Heidelberg erreichte.“

Mark Twain, „Bummel durch Europa“, 1880.

Der Blick der Amerikaner auf die Alte Welt war ja schon immer von Merkwürdigkeiten geprägt. Wahrscheinlich ist Mark Twain daran schuld (ich denke, das hätte dem Alten Spaß gemacht, diese Schuldzuweisung). Denn in den Jahren 1878 und 1879 bummelte er – einen stattlichen Tross an Familie und Freunden im Anhang – durch Europa.
Soll heißen: Vor allem durch Süddeutschland, die Schweiz, Italien und Frankreich. Der deutsche Norden wurde nur kurz gestreift, Skandinavien fand er auf seiner Landkarte wohl noch nicht, Südosteuropa war gerade in Urlaub und die iberische Halbinsel hatte keine Zeit.
„A Tramp Abroad“ erschien 1880. Und Mark Twains Landsleute erfuhren dadurch von allerhand Merkwürdigkeiten, Sitten und Gebräuchen. Am allermeisten jedoch beschäftigten den Schriftsteller die alten Sagen – herrliche Vorlagen, um fact und fiction zu vermengen, kleine Lügenmärchen zu spinnen und assoziativ abzuschweifen. „Bummel durch Europa“ ist sowieso das Buch eines passionierten Spaziergängers, der seinen Beinen und Gedanken freien Lauf lässt. Mit Mark Twain wäre ich gerne gebummelt – ein netter, schwadronierender Herr an meiner Seite, so stelle ich mir das vor, der mit lustigen Einfällen und bissigen Bemerkungen nicht spart.

Ich kann nur jedem raten, auf diesen „Bummel durch Europa“ mitzugehen – man erfährt so viele Dinge über die eigene Heimat, von denen wohl nie mehr ganz zu klären sein wird, ob sie den Tatsachen entsprachen oder Mark Twains Hirn entsprangen. Zumindest stützte er sich auf eine seriöse Quelle: „Rheinsagen von Basel bis Rotterdam“ von F. J. Kiefer (ein Buch, das es tatsächlich gab, ungelogen). Vielleicht lag es aber auch an „Die schreckliche deutsche Sprache“, dass Mark Twain so manche geschichtliche Fakten durcheinanderwirbelte – der herrliche Sprachaufsatz ist dem „Bummel durch Europa“ angehängt:

„Ich ging oft ins Heidelberger Schloß, um mir das Raritätenkabinett anzusehen, und eines Tages überraschte ich den Leiter mit meinem Deutsch, und zwar redete ich ausschließlich in dieser Sprache. Er zeigte großes Interesse; und nachdem ich eine Weile geredet hatte, sagte er, mein Deutsch sei sehr selten, möglicherweise einzigartig; er wolle es in sein Museum aufnehmen.“

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Bild von Herbert Aust auf Pixabay

In Heidelberg und Baden hielt sich Mark Twain länger auf – und hatte neben Ironie und Spott vor allem wohlwollende Worte für Stadt, Land und Leute übrig:

„Das Schloß blickt auf die dichtgedrängte, braungedachte Stadt hinunter; und von der Stadt aus überspannen zwei malerische alte Brücken den Fluß. Nun weitet sich der Blick; durch das Tor der Schildwache stehenden Vorgebirge schaute man auf die weite Rheinebene hinaus, die sich sanft und vielfarbig ausbreitet, allmählich und traumhaft verschwindet und schließlich im fernen Horizont verschmilzt. Ich habe mich noch nie einer Aussicht erfreut, die solch einen heiteren und befriedigenden Zauber gewährte wie diese.“

So erheitert, kann sich Mark Twain auch den eigenartigen Sitten des Studentenlebens widmen. Er schreibt mit spürbar irritierter Faszination (oder faszinierter Irritation) über die Verbindungen, deren Duellgebräuche und den berühmten Studentenkarzer, der heute noch besichtigt werden kann.

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„Die Decke war vollkommen mit Namen, Daten und Monogrammen bedeckt, die man mit Kerzenrauch daruntergeschrieben hatte. Die Wände waren dicht mit Zeichnungen und Porträts (im Profil) bedeckt, von denen einige mit Tinte, andere mit Ruß, andere mit Bleistift und wieder andere mit roter, blauer oder grüner Kreide angefertigt worden waren; und überall dahin, wo zwischen den Bildern ein Daumenbreit Platz freigeblieben war, hatten die Häftlinge Klageverse oder Namen und Daten geschrieben. Ich glaube nicht, daß ich jemals in einem sorgfältiger ausgemalten Zimmer gewesen bin.“

Im Studentenkarzer der Universität Heidelberg wurden von 1823 bis 1914 Studenten arretiert: Die Universität hatte das Privileg, über ihre Mitglieder selbst Recht sprechen zu dürfen, ab 1886 galt dies jedoch nur noch für Disziplinarverfahren. Bei den Studenten handelte es sich dabei meist um nächtliche Ruhestörungen und ähnliche Verstöße gegen die öffentliche Ordnung. Zwar konnte man während der Karzerzeit seine Vorlesungen besuchen – die meisten „Inhaftierten“ fanden das Karzerleben jedoch recht gemütlich, schwänzten die Uni und malten lieber Bilder an die Wand.

Doch besuchte Mark Twain nicht nur Duelle und das Heidelberger Schloß, sondern widmete sich auch richtiger, ernsthafter Kultur: Mehrmals besuchte er das Nationaltheater in Mannheim. Mit wenig Freude:

„An einem Tag fuhren wir nach Mannheim und hörten uns eine Katzenmusik, will sagen: eine Oper an, und zwar jene, die „Lohengrin“ heißt. Das Knallen und Krachen und Dröhnen und Schmettern war unglaublich. Die mitleidlose Quälerei hat ihren Platz in meiner Erinnerung gleich neben der Erinnerung an die Zeit, da ich mir meine Zähne in Ordnung bringen ließ.“

An Mark Twains Wagner-Antipathie, die sich so herrlich lesen lässt, musste ich dieser Tage in Mannheim denken: Das Nationaltheater, in dem „Die Räuber“ uraufgeführt wurden und Schiller Mannheims erster Theaterdichter war, gibt es nicht mehr – 1943 wurde es bei einer Bombardierung zerstört. Das war eine Folge davon, dass eine irregeleite Nation die Welt für einige Jahre mit teutonisch-wagnerianischem Knallen, Krachen, Dröhnen und Schmettern überzogen hatte.

 

Mark Twain: Ist Shakespeare tot?

Seit jeher rätselt man, ob Shakespeare wirklich der Mann aus Stratford-on-Avon war. Mark Twain hat dazu natürlich eine ganz besondere Theorie.

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„Als Shakespeare 1616 starb, verfügte die Londoner Welt über großartige literarische Produktionen, die ihm zugeschrieben wurden und die seit vierundzwanzig Jahren höchstes Ansehen genossen. Doch sein Tod war kein Ereignis. Er sorge nicht für Betroffenheit, er erregte keine Aufmerksamkeit.“

Mark Twain, „Ist Shakespeare tot?“, Piper Verlag, 2016.

Heutzutage ist das anders: Von den wenigen biographischen Daten, die man von William Shakespeare hat, ist zumindest der Todestag gesichert: Der 23. April 1616. Und 400 Jahre danach gedenkt die Welt jenes Mannes aus Stratford-on-Avon mit allerhöchster Aufmerksamkeit. Aber im Grunde bräuchte es keine Jubiläen, um an den berühmtesten aller Dichter zu erinnern. Denn jede Minute wird – bewußt oder unbewußt – irgendwo auf der Welt ein Shakespeare-Zitat ausgesprochen, jeden Tag irgendwo auf dem Globus ein Shakespeare-Stück aufgeführt. Der Mann und sein Werk: Sie überstrahlen noch immer alles und alle.

Doch wer war Shakespeare? Seit jeher brodelt die Gerüchteküche: Dass einer aus einfachen Verhältnissen, ohne nennenswerte Bildung, ohne akademische Karriere, ohne die entsprechenden Verbindungen zum berühmtesten Dichter seiner und der nachfolgenden Zeiten aufsteigt – das befeuert die Phantasie. Shakespeare – also jener Shakespeare aus Stratford – so ist die überwiegende Meinung, war nicht Shakespeare, jedenfalls nicht der Mann, der „Romeo und Julia“, „Hamlet“ und „Der Sturm“ schrieb.

Im Grunde ist es für mich zweitrangig, wer Shakespeare wirklich war, solange es diese wunderbaren Stücke gibt und sie immer wieder neu adaptiert und interpretiert werden. Die zeitweise erbittert geführten Debatten zwischen „Shakespearianern“ und „Baconisten“ sind in ihrem Ernst und in ihrer Absurdität streckenweise befremdlich. Und wer für Aufsehen sorgen will, kommt irgendwann mit einem neuen Shakespeare – beispielsweise de Vere – daher. Doch wenn schon spekulieren, dann wenigstens so vergnüglich, wie es nun in einem von Nikolaus Hansen übersetzten Text des bejahrten Mark Twain geschieht.

1909 veröffentlicht der amerikanische Schriftsteller und Satiriker ein schmales Buch: „Is Shakespeare dead?“ und bekennt frei heraus:

„Im Wir-nehmen-an-Handel machen drei separate und voneinander unabhängige Kulte miteinander Geschäfte. Zwei dieser Kulte sind unter den Namen Shakespearianer und Baconisten bekannt, und ich bin der dritte – der Brontosaurier. Der Shakespearianer weiß, dass Shakespeare der Verfasser von Shakespeares Werken ist. Der Baconist weiß, dass Francis Bacon ihr Verfasser ist; der Brontosaurier weiß nicht so genau, wer von beiden sie geschrieben hat, ist aber recht entspannt und zufrieden der festen Überzeugung, dass Shakespeare es nicht war, und er hegt die starke Vermutung, dass Bacon es war.“

Ganz so entspannt bleibt der alte Mark Twain – beim Verfassen des Textes immerhin schon 73 Jahre alt – jedoch im Verlaufe des Büchleins nicht. Die hauptsächliche These, auf die er sich als Beinahe-Baconist stürzt: Die Shakespeare-Dramen zeugen von einem profunden juristischen Wissen, das sich ein ungebildeter Geldmensch aus einem Kaff namens Stratford niemals habe aneignen können. Francis Bacon dagegen war, so Mark Twain, ein Universalgenie mit klassischer Bildung, ein strahlender Stern am Horizont. Sicher ist es zwar in seinen Augen nicht, dass Bacon Shakespeare war – aber so gut wie unmöglich, dass eben jener Shakespeare Shakespeare war.

Hauptsache jedoch, er war:

„Es hat nur einen Shakespeare gegeben. Zwei kann es nicht gegeben haben; schon gar nicht zwei zur selben Zeit. Es braucht Ewigkeiten, einen Shakespeare hervorzubringen, und weitere Ewigkeiten für einen, der ihm ebenbürtig ist. Diesem war niemand vor seiner Zeit ebenbürtig; und niemand in seiner Zeit; und niemand seither. Die Aussichten, jemand könnte ihm in unseren Zeiten ebenbürtig sein, sind nicht gerade rosig.“

Neue Erkenntnisse in Sachen Shakespeare-Detektei birgt dieser Text von Mark Twain dem Leser nicht. Auch war der Satiriker schon in besserer Form: Es gibt unterhaltsamere und bissigere Texte von ihm. Aber dennoch: Mark Twain ist Mark Twain, gerade auch wenn er über einen Shakespeare schreibt, der nicht Shakespeare war. Und so ist der schmale Band eine vergnügliche Lesestunden-Fußnote für alle Shakespeare-Fans und oder eben Liebhaber jenes Dramatikers, der wer auch immer war …

Der Piper Verlag, dem ich für das Rezensionsexemplar danke, hat für das Buch Leander Haussmann für ein Vorwort gewonnen – und der Regisseur und Schauspieler fährt Mark Twain in einem Brief auf dem Verlagsblog vergnüglich in die Parade: Shakespeare war ein Kollektiv, ein „writers room“.
Zum Blog: https://www.piper.de/aktuelles/buchblog/leander-haussmann-schreibt-an-mark-twain

P. J. O`Rourke: Reisen in die Hölle und andere Urlaubsschnäppchen

Politische Korrektheit darf man von P. J. O`Rourke nicht erwarten. Er war ein früher Vertreter des Gonzo-Journalismus: Tempo und Stil zählen mehr als Fakten.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Im Herbst 1992 fuhr ich in das frühere Jugoslawien, um mir den Multikulturalismus in der Praxis anzusehen. In letzter Zeit hatten dort verschiedene kulturelle Gruppen eine ungeahnte Kraft entfaltet – durch Schusswaffengebrauch.“

„Reisen in die Hölle und andere Urlaubsschnäppchen“, P. J. O`Rourke, Die andere Bibliothek, 2006.

Manche wollen immer dorthin, wo es kracht, scheppert, wummert, wo Tränengas und Pfefferspray in der Luft liegen, wo hinter der nächsten Mauer ein Heckenschütze lauern könnte. Es gibt Journalisten, die Adrenalin-Junkies sind – P.J. O` Rourke, Schriftsteller, Satiriker, der unter anderem für den Playboy, Vanity Fair und als Auslandskorrespondent für den Rolling Stone berichtet hatte, scheint mir einer von diesen zu sein. Er ist einer dieser Kriegsberichterstatter, die – selbst im Urlaub – das Herz der Finsternis besuchen.
Abgeklärte philosophische Betrachtungen über die Ursachen und Auswirkungen des Krieges darf man von diesem Buch nicht erwarten. Eher literarische Trips in die Hölle, die beim Lesen jedoch einen Höllenspaß machen. O`Rourke schreibt lakonisch, ironisch, zuweilen hemmungslos zynisch darüber, was der Mensch dem Mensch antut. Und das um den ganzen Globus herum und ohne Aussicht auf Einsicht. Reflektionen über das Wesen des Hasses und des Krieges kommen eher beiläufig daher:

„Und wieder überraschte mich etwas seltsam Alltägliches – der Hass, so allgemein und allmächtig, so einfach und so selbstverständlich wie Gott in der Al-Aksa-Moschee. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass Gott oder der Hass Menschen derart durchdringen kann, schon gar nicht gleichzeitig.“ (In: „Das Heilige Land – Gottes Affenhaus!, 1988).

Der Journalist ist hier nicht der abgehobene Berichterstatter, der seinen wehrlosen Zeitungslesern aus scheinbar neutraler, übergeordneter Wächterposition die Welt erklärt. Sondern O`Rourke erinnert zuweilen an ein Kind, das staunend durch den Spielzeugladen Welt läuft und uns daran teilhaben lässt – aber eben durch einen Spielzeugladen, in dem es lebensgefährlich zugeht. Sein Stil ist eine ständige Gratwanderung zwischen Pose und Polemik. Zuweilen verdeckt die Lust an der Sprache, an der gelungenen Formulierung den Ernst der Sache. O`Rourke schreibt nach dem Motto „Besser einen guten Freund verloren, als einen guten Witz verschenkt“. Nichts also für zarte Gemüter.

„Ich hatte gehofft, wenigstens gut zu schlafen. In Beirut waren die Bombenexplosionen doch ziemlich zahlreich gewesen. In der Nacht vor meiner Tour in den Süden hatte ich fünf gehört, die erste gegen Mitternacht in einer Bar, ein paar Blocks vom Commodore entfernt, und das steigerte sich dann bis zu einem großangelegten Attentat auf den Erziehungsminister um sechs Uhr morgens, bei dem Fenster im Umkreis von drei Blocks in die Brüche gingen und in meinem Zimmer die Möbel wackelten. Der Minister überlebte, meine Nachtruhe nicht.“ (In: “Auf Bummeltour im Libanon”, Oktober 1984).

Politische Korrektheit darf man also bei den Reportagen des 1947 geborenen Amerikaners, der sich im Lauf der Zeit vom Hippie zum liberalen Konservativen wandelte, nicht erwarten. Schließlich gilt O `Rourke als einer der frühen Vertreter des Gonzo-Journalismus (siehe Link unten), sein Artikel „How to Drive Fast on Drugs While Getting Your Wing-Wang Squeezed and Not Spill Your Drink“ von 1979 ist ein bestes Beispiel dafür. Doch es fehlt auch die besserwisserische Mentalität, die leichte Arroganz mancher Journalisten. O`Rourke gesteht in seinem Erstaunen über die grauenvolle Seite der Welt ein, dass er von den Ursachen mancher Krisenherde oder Mentalitäten anderer Völker so wenig versteht wie einer seiner Leser, beispielsweise in Toledo, Ohio (da ist er geboren) oder Augsburg.

„Als sich der Junge in der ersten Reihe der Kundgebungsteilnehmer die Spitze des kleinen Fingers abbiß und mit dem eigenen Blut KIN DAE JUNG auf seine superschicke Skijacke schrieb, kam ich mir, glaube ich, zum ersten Mal in meinem Leben wirklich wie ein Auslandskorrespondent vor, der aus der Fremde zu berichten hat.“

Da soll sich mal einer auskennen:

„Praktisch jeder Kandidat für das Präsidentenamt hieß Kim. Da gab es Kim Dae Jung, den Spitzenkandidaten der Opposition, und Kim Young Sam („Kim, die Fortsetzung“), ebenfalls Spitzenkandidat der Opposition, und außerdem Kim Yong Pil („Kim, die frühen Jahre“), den Ausputzerkandidaten der Opposition. Und dann war da noch der Nicht-Kim-Kandidat, Ro Tae Woo (sprich: No Tai Uh oder wie die Vertreter der Auslandspresse ihn nennen: Just Say No). Diesen Ro hatte die Militärdiktatur, die seit 1971 über Südkorea herrschte, ins Rennen geschickt.“

(Beide Zitate aus der Reportage „Seoul Brothers“ über die ersten Präsidentschaftswahlen in Südkorea, Dezember 1987).

„Die Christen hassen die Muslime, weil sie unter den Osmanen nur Leibeigene waren. Die Muslime hassen die Christen, weil sie unter den Kommunisten immer die Doofköppe waren. Die Kroaten hassen die Serben, weil sie mit den Kommunisten kollaboriert haben, und die Serben hassen die Kroaten, weil sie mit den Nazis kollaboriert haben, und nun hassen die Bosnier die Montenegriner, weil die mit den Serben kollaborieren. Die Serben hassen die Albaner, weil sie nach Jugoslawien gekommen sind. Und alle hassen die Serben, weil es von denen mehr zu hassen gibt als von allen anderen und weil sich die Serben, als Jugoslawien 1918 (mit Hilfe unseres oberschlauen Präsidenten Woodrow Wilson) geschaffen wurde, sofort die Kontrolle über Staat und Armee unter den Nagel gerissen und seitdem nicht wieder hergegeben haben. Und die Slowenen werden ebenfalls von allen gehasst, weil sie bei dem jetzigen Bürgerkrieg schon nach zehn Tagen nicht mehr mitmachten.“ (In: „Die multikulturelle Gesellschaft“, Bosnien 1992).

Fatal erinnert dieser Krieg, der vor wenigen Jahren erst mitten in Europa herrschte, an die derzeitigen Vorgänge in der Ukraine. Und auch für die Ukraine könnte man den Schlusssatz von O`Rourkes nehmen:

„Risto wirkte glaubwürdig. Und seine Geschichte war die Geschichte des jugoslawischen Bürgerkriegs in Kurzform: aus vergangenem und gegenwärtigem Unrecht erwächst künftiges Unrecht, Intoleranz gebiert neue Intoleranz, Gewalt zeugt neue Gewalt, und mittendrin die Risto Dukis dieser Weltgegend – als verführte Unschuld.“

So zynisch der Amerikaner zwischendrin über die Politik und über Politiker schreibt – an Mitgefühl mit den Opfern der weltweiten Kriege, seien es palästinensische Familien oder israelische Jungsoldaten im Gazastreifen, Verletzte und Tote im Bosnienkrieg, fehlt es ihm nicht. Nur eine Spezies lässt er – nebst den Politikern – selten ungeschoren davonkommen: Und das sind seine Berufskollegen, die, wenn sie bedächtig berichten, zu „breitmäuligen Reiseschriftstellern“ werden, sich davor fürchten, dass etwas gut und organisiert läuft, wie beispielsweise die Wahlen in Mexiko und wie „bleiche Drohnen“ immer auf der Suche nach der nächsten Story sind.

Wenn die bleiche Drohne wie P. J. O` Rourke schreibt, dann wird man zumindest auf einen höllenmäßigen Trip mitgenommen: Selbst aus einem „Arbeitsurlaub“ auf Guadeloupe, wo er in Ruhe die Europäische Verfassung („das stilistische Niveau ihrer Prosa könnte selbst Danielle Steel nicht unterbieten“) lesen will, wird da ein Abenteuer.

Und zuweilen erinnert er ganz mächtig an einen großen Vorgänger in Sachen politisch unkorrekter Reisereportagen – man denke an die „Arglosen im Ausland“ oder „Bummel durch Europa“. Dies könnte ebenso gut aus der Feder von Mark Twain stammen:

„Ich sah zu, wie die Royalisten auf den Stufen vor einem Betonkasten im sowjetischen Stil, dem einstigen Kulturpalast, ein Podium und ein paar Lautsprecher aufbauten. Sie entrollten die herzchirurgisch eingefärbte albanische Fahne, auf der eine Figur zu sehen ist, die entweder einen doppelköpfigen Adler oder ein sehr wütendes Huhn aus einer Monstrositätenschau darstellt. Die Royalisten riefen Sprüche ins Mikrophon wie: „Wir bekommen unsere Stimmen, auch wenn dafür Blut fließen muss!“ In einer Lautstärke, die selbst die krachendsten Karambolagen übertönten. Dann spielten sie – noch lauter – die albanische Nationalhymne, die so lang ist wie eine Wagner-Oper und so klingt, als würde die Blaskapelle des amerikanischen Marine Corps den Ring aufführen und dabei die Treppe im Washington Monument von oben bis unten herunterrasseln.“
(In: „Schlechter Kapitalismus“, Albanien Juli 1997).

Für den vorliegenden Sammelband hat Albert Christian Sellner die besten Reportagen P. J. O` Rourkes zusammengestellt. Wenn dieses die besten sind, dann möchte ich gerne wissen, wie gut die schlechteren sich lesen…

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