Margit Schreiner: Sind Sie eigentlich fit genug?

Klug, analytisch, bissig, mit viel schwarzem Humor – die Essays von Margit Schreiner über die Literatur und das Leben sind eine reine Lesensfreude.

glasses-919304_1920„Der erste Satz ist ausschlaggebend. Das weiß heute jeder. Grundstoff in der Schreibwerkstatt am Wochenende. Faulkner hat es schon gesagt: Schreiben Sie den ersten Satz so, dass der Leser unbedingt den zweiten lesen will – und dann immer so weiter. Eigentlich ganz einfach. Neugierig machen! Verkaufsprinzip! Nach Faulkner haben es alle gesagt. Hemingway hat es gesagt, Fontane hat es schon vorher gesagt. Und. Und. Und. Tatsache ist aber, dass ich, als ich plötzlich mitten im Schreiben meine Tochter in die Physiotherapiestunde fahren sollte, meine Weitsichtbrille nicht gefunden habe.“

Margit Schreiner, „Sind Sie eigentlich fit genug?“


Glücklicherweise ist Margit Schreiner eine Autorin, die ihre Leser mit dem ersten Satz des Öfteren auch aufs Glatteis führt: Was wie das x-te Lamento Schreibender über ihre Blockaden (innerliches Aufstöhnen beim Lesen) beginnt, geht über in die Betrachtungen über den Fehlkauf einer Brille mit grünem Gestell und führt zu einem Schlusswort, das aus einem Zitat Dieter Bohlens besteht – vorhersehbar ist da also nichts, langweilig wird es einem mit der österreichischen Schriftstellerin selten.

Da schreibt eine mit scharfem Verstand und von quirligem Temperament über die Literatur, das Leben, das Frausein und die Politik – Themen, die eng zusammenhängen, die auch zeigen, alles ist im Grunde ineinander übergehend, jedes Schreiben auch politisch, wenn man die Welt mit klarem Geist betrachtet. Der nun im Schöffling Verlag neu erschienene Band „Sind Sie eigentlich fit genug?“ versammelt neben Erstveröffentlichungen wie „Der erste Satz“ Essays und Artikel Margit Schreiners, die in den vergangenen Jahren in Anthologien und Zeitschriften erschienen sind, sowie Reden, unter anderem zu Literaturpreisen, die die Autorin erhalten hat.

Die Haltung zur Welt

Immer schimmert dabei durch ein besonderer Blick auf die Welt, vor allem aber wird deutlich: Diese Frau hat Haltung. In ihre Betrachtungen zur Literatur fließen die Erkenntnisse neurologischer Wissenschaft ein, sie beschäftigt sich mit der Art Brut sowie dem Begriff der Behinderung und setzt sich mit Macht- und Kindesmissbrauch und den Abgründen (österreichischer) Politik auseinander.

In einer Welt, die immer unübersichtlicher wird, hat die Literatur dabei eine besondere Bedeutung:

„Es ist nicht ihre Aufgabe zu richten, zu interpretieren, zu werten. Ihr fällt die Rolle der Generalinventur zu, Bestandsaufnahmen, wie sie niemand leisten kann, der in irgendeiner Form, sei es finanzieller oder prinzipieller Art, Interesse am Endergebnis einer solchen Bestandsaufnahme hat.“

Das Dilemma: Zugleich nimmt die Literatur im gesellschaftlichen Kontext eine marginale Rolle ein, ändern sich der Literaturbegriff, Literaturverständnis und Literaturbetrieb. Aber auch hier denkt Margit Schreiner weiter, begnügt sich nicht mit den verbreiteten Klagen über die immer schnellere Rotation im Büchermarkt und dem Bedienen des Massengeschmacks, sondern geht den Ursachen für diesen Geschmack auf den Grund. Dazu ein längeres Zitat:

„Wenn sich etwas verändert, liegt es nie nur an einem Faktor: Die Krise der zeitgenössischen Literatur liegt nicht nur an den geänderten Marktbedingungen. (…) Die Literatur hat viele Funktionen verloren, die sie einmal hatte: religiöse, politische und geographische Information, beziehungsweise Erziehung, Psychologie, Wissenschaftsvermittlung und so weiter. Das alles haben spezielle Fachgebiete übernommen. Das, aber nicht nur das, hat zur Krise des Romans geführt.

Was heute in unserer Welt alles passiert, zu dem wir dank Internet auch noch ständig Zugang haben, übertrifft die Fantasie jedes Romanciers. Es scheint kaum ein Tabuthema zu geben, alles wird öffentlich gezeigt, beschrieben und besprochen. In sogenannten Realityshows werden Situationen als real dargestellt, die in Wirklichkeit gespielt sind, gefakt oder das zeigen, wovon die Macher glauben, dass die Menschen es für Realität halten. Der Unterschied zwischen Realität und Virtualität verschwimmt. Das formt unreflektiert ein neues Menschenbild. Was fehlt, sind keine ungeheuerlichen oder außergewöhnlichen oder metaphorischen oder großartigen Geschichten. Was fehlt, ist die Selbstreflexion, die Gewichtung.“

Literatur und Trost

Nicht ohne Grund jedoch ist dieses Essay mit „Literatur und Trost“ betitelt: Völlig unakademisch und dennoch äußerst präzise, zeigt Margit Schreiner auf, was Literatur vermag, warum wir Lesenden sie brauchen, schätzen und lieben. Literatur ist es, die zur Reflexion anhält, die Orientierung zu geben vermag, die neue Blickweisen eröffnet, die Fragen stellt.

„Kunst fördert die Orientierung und behindert gleichzeitig den glatten Ablauf der Dinge, das reibungslose Getriebe, den Markt. Kunst ist ein Kind, das peinliche Fragen stellt.“

Und kluge Kunst ist auch ein großes Vergnügen: Es macht einfach Freude, dieser intelligenten Autorin durch ihre Lebens- und Gedankenwelt, sei es bei ihren biographischen Ausflügen in die Heimatstadt Linz und zur bevorzugten Kaffeesorte ihrer Mutter, sei es bei ihrer Bewunderung von Jane Bowles und Margaret Atwood (zwei Autorinnen, die ich auch sehr schätze) oder ihren politischen Aufsätzen zu folgen. Klug, analytisch, bissig, mit viel schwarzem Humor – eine Lesensfreude.


Bibliographische Angaben:

Margit Schreiner
„Sind Sie eigentlich fit genug?“
Schöffling Verlag 2019
ISBN: 978-3-89561-282-4

Margit Schreiner: Kein Platz mehr

Für mich “meine” Entdeckung auf der Leipziger Buchmesse: Die österreichische Autorin Margit Schreiner. Sie vereint elegante Sprache und tiefschwarzen Humor.

books-768426_1920-1024x683
Bild von Free-Photos auf Pixabay

„Es nützt alles nichts. Weder im In- und Ausland, weder am See noch im Hochgebirge, weder am Meer noch im Hinterland, und schon gar nicht auf einer einsamen Insel ist Platz und Ruhe. Jeder muss seinen eigenen, ganz persönlichen Platz und seine eigene, ganz persönliche Ruhe finden. Ein Stühlchen unter einem Baum, den Laptop auf den Knien, auf dem Balkon mit Ohropax gegen den Straßenlärm, oder, wenn es regnen sollte, unter dem Sonnenschirm. Wer wirklich will, lebt und schreibt überall. Auch beim Lärm vom Nachbarn, der den Rasen mäht oder die Fenster abschleift oder Volksmusik hört. Es kommt ausschließlich auf die positive Einstellung an. Darüber gibt es genug Sachliteratur, die sich mehr und mehr besser verkauft als alle noch so unterhaltende belletristische Literatur.“

Margit Schreiner, „Kein Platz mehr“


Es hat schon etwas leicht Skurriles, wenn man inmitten des Gedränges auf der Leipziger Buchmesse – man sitzt zusammengequetscht auf einer Bank, Menschenmassen schieben sich am Stand vorbei, man balanciert mit Büchern, Wasserflaschen und Notizblock auf engstem Raum – ein Buch mit dem Titel „Kein Platz mehr“ in die Hände gedrückt bekommt. Und noch skurriler wird es, wenn man im überbesetzten ICE anfängt, ab und an laut vor sich hinzukichern, haltlos, den irritierten Blicken der Mitreisenden trotzend, weil man einfach nicht anders kann bei der Lektüre.

Margit Schreiner war mir zuvor kein Begriff. Und das, obwohl Schöffling schon etliche Bücher der Österreicherin herausgegeben hat, obwohl die 66-jährige Linzerin mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde und obwohl schon allein die Titel ihrer älterer Bücher verlockend klingen – „Haus, Frauen, Sex“ aus dem Jahr 2001 beispielsweise oder „Schreibt Thomas Bernhard Frauenliteratur?“ (2008) – war sie mir völlig unbekannt.

Große Portion tiefschwarzen Humors

Etwas, was ich ändern muss: Denn Schreiner bringt das Talent mit, unterhaltend und niveauvoll zu sein, elegant zu schreiben und zugleich aber über eine ordentliche Portion tiefschwarzen Humors zu verfügen. Für mich die richtige Mischung. „Kein Platz mehr“, vom Verlag als Roman bezeichnet, ist im Grunde ein ausführliches autobiographisches Essay. Schreiner schreibt über sich und Freunde in ihrem Alter: Allesamt im universitären Bereich oder als Kreative tätig, sogenannte „Golden Ager“, die eigentlich ihren Herbst genießen wollen, aber nicht können. Denn es gibt buchstäblich und wortwörtlich zu wenig Platz auf der Welt, wie die Autorin feststellt. Angefangen beim eigenen Haushalt, der vollgestopft ist mit den Utensilien zweier langer Berufsleben und den Hinterlassenschaften der Kinder. Endend bei der Feststellung, dass es selbst die ideale einsame Insel nicht gibt. Zu welchen Verwerfungen im Familienleben und in der Erotik zu wenig Platz führen kann, das zeigt die Schriftstellerin am Beispiel Japans auf: Herrlich! Und ein Höhepunkt des Buches ist zweifelsohne jener, in dem das Paar den Müll aus einem einsam gelegenen italienischen Haus zu entsorgen versucht.

Die Betrachtungen über den Platzmangel unserer Welt sind eng verbunden mit den Alltagsplagen im Leben einer Schriftstellerin. Dabei wird es herrlich amüsant:

„Man fragt sich dann als älterer Schriftsteller naturgemäß im Laufe der Jahre, was für einen Sinn es haben soll, Bücher aus einer reichhaltigen Lebenserfahrung, die nur bedrückend sein kann, wenn man die Welt rundum betrachtet, heraus zu schreiben, die sowieso niemand mehr lesen will. Das heißt, nicht niemand, aber zu wenige, als dass man vom Verkauf der Bücher auf Dauer leben könnte, eine Familie erhalten, in Urlaub fahren, die Katzen und Hunde füttern, etc. Es ist nun einmal ein Unterschied, ob ich mit zwanzig ohne Kranken- und Pensionsversicherung in einem Kämmerchen in Paris oder Berlin schreibe und mich von Baguette und Camembert oder meinetwegen von Currywurst ernähre, oder ob ich mit fünfundfünfzig eine Familie habe, mich altersbedingt gesund ernähren sollte und womöglich wegen des ständigen Sitzens vor dem Computer Bandscheibenprobleme habe und deshalb eine teure Physiotherapie oder wegen der seelischen Dauerbelastung des Schriftstellers gar eine Psychotherapie, die noch teurer ist, brauche. Fallen die Zähne mit der Zeit aus, stehen teure Zahnbrücken und/oder – implantate an, die Haare werden auch nicht besser, was Friseurbesuche nötig macht, um halbwegs anständig vor sein Publikum treten zu können. Ein zerraufter Zwanzigjähriger macht einen wilden, ein zerraufter Sechzigjähriger nur einen ungepflegten Eindruck.“

Der letzte Satz, der sitzt: Das ist ein Merkmal dieses Buches, das so einen lockeren Erzählton anschlägt und mittendrin durch eine kleinen verbalen Hammer überrascht. Oder, wie Zsuzsa Bánk auf dem Cover zitiert wird: „Der Mensch an sich ist ungeeignet für die Welt. Das liest sich lustig-elegant, aber nur bis dieser eine Satz kommt. Das ist ihre Note, erst die verschwenderische Leichtigkeit – und dann die Ohrfeige.“


Informationen zum Buch:

Margit Schreiner
Kein Platz mehr
Schöffling & Co
ISBN: 978-3-89561-281-7

Homepage der Autorin: www.margitschreiner.com