Gwendolyn Brooks: Maud Martha

„Maud Martha“: Der einzige Roman der amerikanischen Lyrikerin Gwendolyn Brooks ist eine beeindruckende Wiederentdeckung. Auf beinahe verhaltene Weise zeigt der Text die Folgen von Diskriminierung und Ausgrenzung auf. Die melancholische Ballade eines Frauenlebens.

Maud Martha von Gwendolyn Brooks. Der einzige Roman der Lyrikerin spielt in Chicago, wo Brooks selbst lebte. Maud Martha ist unschwer als ihr alter ego zu erkennen.

„Sie war sich sicher, jetzt, wo sie wach war. Denn wach war sie. Das war Wachsein. Sich räkeln, mit den Finger wackeln – sie fühlte sich von dem zusammengeknüllten, dünnen rauchgrauen Bettzeug noch einigermaßen geschützt vor dem plötzlichen Angriff der roten Vorhänge mit den weißen und grünen Blumen, dem Bild mit der Mutter und dem Hund, die mit einem Baby schmusten, und der Kommode mit den blauen Papierblumen darauf. Aber auf keinen Fall gab es einen Zweifel daran, dass sie jetzt ernsthaft erwacht war.“

Gwendolyn Brooks, „Maud Martha“


Ein langsames Erwachen in eine Welt, die ebenso mütterliche Sanftmut, Spieltrieb und Freude wie aggressives Rot, Streit und Hass zu bieten hat – das kleine Zitat aus „Liebe und Gorillas“, einer der Vignetten aus dem Leben der Maud Martha Brown, zeigt die virtuose Meisterhaftigkeit der Schriftstellerin Gwendolyn Brooks. In ihrem einzigen Roman, 1953 in den USA erschienen und nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegend, schildert sie ein Frauenleben, den Alltag einer Frau, mit vielen kleinen Spotlights auf Alltägliches – ohne je in ihrer Sprache alltäglich zu werden. Die Poesie der Worte und Bilder durchdringt dank der gelungenen Übersetzung von Andrea Ott die rauchgraue Umwelt, in der Maud Martha leben muss. Gwendolyn Brooks, die Lyrikerin, die 1950 als erste Schwarze Autorin den Pulitzerpreis für ihren Gedichtband „Annie Allen“ erhielt, überrascht und begeistert in diesem Prosatext, den die Genrebezeichnung Roman nur von ungefähr trifft, mit der Poesie ihrer Sprache und einem besonderen Blick auf die Welt, wie ihn Lyrikerinnen innehaben, die aus kleinen Szenen große Geschichten erschaffen.

Autofiktionaler Text der Pulitzer-Preisträgerin

„Maud Martha“, ein autofiktional geprägter Text, führt durch das Leben einer Frau, die in den 1940er-Jahren in der South Side von Chicago inmitten der Schwarzen Community aufwächst. Wie Schlaglichter setzt Gwendolyn Brooks die einzelnen Geschichten auf verschiedene Phasen eines Frauenlebens vom kindlichen Erleben der Erwachsenenwelt bis hin zum eigenen Dasein als Mutter. Diese Vignetten könnten wie poetische Kurzgeschichten jede auch für sich alleine stehen, lose verbunden durch die Protagonistin ergeben sie im Zusammenhang den Roman eines Lebens.

Maud Martha träumt von der ersten und der großen Liebe, von einem Job in New York, von einer eigenen Wohnung, die sie in Gedanken nach ihrem Geschmack einrichtet. Träume sind keine Angelegenheit der Hautfarbe, die Realität dagegen schon: Immer wieder werden ihr Grenzen aufgezeigt, wird sie in von einer Gesellschaft, in der Machtverhältnisse durch Hautfarbe und soziale Zugehörigkeit definiert sind, an ihren Platz verwiesen, sei es direkt, indem sie beim Einkaufen nicht bedient wird, seien es die indirekten Verletzungen durch unbewusste Worte, Gesten, Blicke. Durch den beinahe schon nebensächlichen Ton, in dem Gwendolyn Brooks solche Vorkommnisse in ihren Roman einfließen lässt, werden sie umso gewichtiger: Es wird spürbar, wie „alltäglich“ diese Art von Diskriminierung war (und bis heute noch ist). Und wie sie dennoch immer wieder bis ins Mark trifft.

Nachwort von Daniel Schreiber

„Wie geht man mit der machtvollen inneren Stille unterdrückter Wut um?“ – diese Frage stellt Daniel Schreiber in seinem Nachwort zu „Maud Martha“. Und gibt eine treffende Antwort: „Maud Martha gibt keine radikalen Antworten auf diese Fragen. Stattdessen hört Brooks den emotionalen Echos dieses Erlebens nach, macht sie poetisch erfahrbar und setzt ihnen ein fast schon spirituell zu nennendes Vertrauen in die eigene menschliche Würde entgegen.“

Im viel zu frühen Erwachen aus der Kindheit in eine feindlich gesinnte Umwelt hinein schließt sich bei dieser „Ballade gelebten Lebens“ (Daniel Schreiber) der erzählerische Kreis: Ist es zunächst Maud Martha selbst, die aus dem Schlummer in eine wenig freundliche Umgebung erwacht, so muss sie später als junge Mutter hilflos zusehen, wie ihrer Tochter Paulette die Kindheitsträume genommen werden. In einer der letzten Kürzestgeschichten dieses anrührenden Werkes werden Martha und Paulette wegen ihrer Hautfarbe vom Weihnachtsmann im Einkaufsladen ignoriert. Wie Gwendolyn Brooks die Geschichte beendet, zeigt jedoch nicht nur die Würde, die sowohl ihr als auch ihrer Hauptfigur innewohnen, sondern ebenfalls ihren Mutterwitz:

„Paulette spürte den Blick ihrer Mutter und schaute zu ihr hoch. Maud Martha hätte am liebsten geheult.
Lass ihr noch dieses himmlische Land!
Lass ihr noch die Märchen, wo die Hexen am Ende immer getötet werden und Santa der Herr des Winters ist, freundlich, ein reines Wesen, das niemals schwitzt, niemals etwas Dummes oder Erfolgloses tut oder sagt, niemals komisch aussieht und niemals gezwungen ist, an der Kette zu ziehen, um die Toilette zu spülen.“

„Maud Martha“: Eine wundervolle Wiederentdeckung, die auch dazu einlädt, die Lyrikerin Gwendolyn Brooks kennenzulernen – leider sind mir momentan jedoch keine Übertragungen ihrer Lyrik in die deutsche Sprache geläufig.


Informationen zum Buch:

Gwendolyn Brooks
Maud Martha
Übersetzt von Andrea Ott
Manesse Verlag, 2023
ISBN: 978-3-7175-2564-6

Thomas Wolfe: Eine Deutschlandreise

Thomas Wolfe fühlte sich von Deutschland magisch angezogen. Die Berichte seiner sechs Reisen zwischen 1926 und 1936 gleichen den Forschungen eines Ethnologen in einem fremden Land.

Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Aber Deutschland ist die Heimat des Fremden. Das ist jedenfalls mein Eindruck. Seit jenen Tagen, da ich es zum ersten Mal betrat, vor acht Jahren, habe ich mich niemals fremd gefühlt. Ich weiß nicht, woran das liegt. Ich habe keine Möglichkeit, dies zu beweisen, aber ich glaube, es muss in dem alten übervölkerten Gehirn der Menschen so etwas wie eine Rassenerinnerung geben.“ (…) So werde ich, ohne dass ich es begründen kann, in diesen beiden Ländern immer vom Geist der Erinnerung gejagt. Es ist eine merkwürdige Tatsache, aber von dem Augenblick an, da ich dieses Land betrat, vor acht Jahren, habe ich sofort ein Wiedererkennen gespürt.“

Thomas Wolfe, „Eine Deutschlandreise.
Literarische Zeitbilder 1926–1936″


Thomas Wolfe (1900 – 1938), der beinahe 2 Meter große Schriftsteller, wurde von Zeitgenossen oft als riesenhafter Junge (beziehungsweise jungenhafter Riese) beschrieben. Er neigte zum Schwärmen, Ausschweifen, Tagträumen. Dies ist auch an seinen gigantomanischen Romanen, so seinem 1929 erschienenen Debüt „Schau heimwärts, Engel!“ und „Von Zeit und Fluss“ spürbar.

Und so fühlte sich dieser amerikanische Mystiker der literarischen Moderne auch von dem Land, mit dem er väterlicherseits verbunden war, eigenartig angezogen: Von der Freundlichkeit der Menschen, der Ordnung, der Schönheit der Weinberge, von den märchenhaften Wäldern. Sechs Mal besucht Wolfe zwischen 1926 und 1936 Deutschland: Hier fand er mit Ernst Rowohlt einen geeigneten Verleger und erfuhr insbesondere bei seinem letzten Besuch zur Zeit der Olympischen Spiele in Berlin auch, wie es sich anfühlt, eine literarische Berühmtheit zu sein – seine Romane fanden zweitweise in Deutschland mehr Anerkennung als in seiner amerikanischen Heimat.

Die Texte, die während dieser Reise entstanden, versammelt ein Band im Manesse Verlag: Das Buch „Eine Deutschlandreise“ umfasst Tagebuchnotizen, die Listen über die bei den Reisen gekauften Bücher und besuchten Museen, Briefe an seine Geliebte Aline, Postkarten an die Mutter und auch die Novellen – darunter die berühmte vom „Oktoberfest“ – die von Wolfe in und über Deutschland geschrieben wurden.

Prügelei beim Oktoberfest

Gerade die Erzählung vom Oktoberfest zeigt, wie eng biographisches Leben und literarisches Verarbeiten bei diesem Schriftsteller verknüpft waren: Tatsächlich besuchte Wolfe mit dem Sohn seiner Münchner Gastwirtin das seinerzeit schon berühmteste Volksfest der Welt. Dort geriert der starke Trinker nach etlichen Maß Bier in eine heftige Prügelei. In einem Brief an seine damalige Geliebte Aline schildert er das Geschehen unverblümt und mit allen schlimmen Konsequenzen – Wolfe erlitt schwere Kopfverletzungen und musste ins Krankenhaus gebracht werden. Das blutige Ende seines Volksfestbesuches klammerte er in seiner Erzählung aus, aber andere Erlebnisse seines Oktoberfest-Bummels finden sich im Brief bereits skizziert und fast deckungsgleich in der Erzählung wieder.

Mit dem Blick des Ethnologen

Thomas Wolfe nimmt dabei zeitweise den Blick des Ethnologen ein, der, geprägt von eigenen Vorurteilen (von Beginn an tritt auch der hässliche Deutsche auf, der „Hunne“ mit Stiernacken, der unmäßig isst und trinkt), der fasziniert das Treiben der anderen betrachtet, der versucht, das Fremde zu erforschen:

„Die Wirkung dieser Menschenhorden überall in der riesigen und vernebelten Halle hatte etwas beinahe Übernatürliches und Rituelles: Etwas, das zum Wesen eines Volkes gehörte, war in diesen Horden beschlossen, etwas, so dunkel und seltsam wie Asien, etwas, das älter war als die alten barbarischen Wälder, etwas, das einen Altar umwogt und ein Menschenopfer dargebracht und verbranntes Fleisch verzehrt hatte.“

Trotz diesem Anblick der Massen beim Oktoberfest, bei dem „mir das Herz gefror“ und die in Wolfe Assoziationen zu „blondbezopften“ Kriegshorden hervorrufen, bleibt der Amerikaner, was das „Wesen dieses Tiers“ anbelangt, lange blind: Auch bei seinem letzten Besuch 1936 zeigt er sich unpolitisch und eher fasziniert von der Ordnung und Effizienz der Deutschen. Ganz unverblümt lässt er in seinen Notizen seine eigenen antisemitischen Vorurteilen freien Lauf, schreibt gar darüber, wie wenig Meinungsfreiheit man in seiner Heimat habe, wenn es um dieses Thema ginge. Doch einige Erlebnisse erschüttern ihn, führen zu einem Umdenken.

Reisen durch Nazi-Deutschland

In der 1937 in einer amerikanischen Zeitung veröffentlichten Erzählung („Nun will ich Ihnen was sagen“) schildert er eine Bahnfahrt, bei der kurz vor der Grenze ein Jude verhaftet wird. Herausgeber Oliver Lubrich, der diese Erzählung auch in den Band der „Anderen Bibliothek“, „Reisen ins Reich“, aufnahm, analysiert detailreich in seinem Nachwort, wie sehr diese Erzählung die emotionale Abkehr Wolfes von seiner lang imaginierten Seelenheimat markiert.

„Es war die andere Hälfte meiner Herzensheimat. Es war die dunkle, verlorene Helena, die ich gefunden, es war die dunkle, gefundene Helena, die ich verloren hatte – und jetzt erkannte ich wie nie zuvor das ganze Ausmaß meines Verlusts – das ganze Ausmaß meines Gewinns – den Weg, der mir nun wohl auf immer versperrt sein würde – den Weg des Exils ohne Wiederkehr – und einen neuen Weg, den ich gefunden hatte.“

So ist „Eine Deutschlandreise“ nicht nur für Thomas Wolfe-Leser ein Kompendium, das verdeutlicht, welche Faszination, ja fast schon Hass-Liebe dieser Schriftsteller für Deutschland empfand, sondern auch ein Buch, das einen besonderen Blick auf ein Land kurz vor dessen größter Katastrophe aufzeigt.


Informationen zum Buch:

Thomas Wolfe, Oliver Lubrich (Hrsg.)
Eine Deutschlandreise
Übersetzt von Renate Haen, Irma Wehrli und Barbara von Treskow, mit einem Nachwort von Oliver Lubrich
Manesse Verlag 2020
ISBN: 978-3-7175-2424-3

Katherine Anne Porter: Das Narrenschiff

“Das Narrenschiff” ist ein opulenter Gesellschaftsroman und Schmöker. Mit kleinen Schönheitsfehlern: Allzu plakativ “böse” sind einige Passagiere gezeichnet.

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Bild von Thomas Wolter auf Pixabay

„Wenn nicht ein Wunder geschah, würden sie Deutschland nie wiedersehen. Mary und er mussten füreinander die Heimat sein, sie mussten, wohin sie auch gingen, ihr eigenes Klima mit sich tragen, mussten es Heimat nennen und versuchen, nicht an seinen wirklichen Namen – Verbannung – zu denken. In Gedanken sah er Mary am Klavier sitzen und spielen und singen, und er pfiff ihr Lied mit: „Kein Haus, keine Heimat …“

Katherine Anne Porter, „Das Narrenschiff“, USA, 1962

Es gibt solche Bücher, die halten der Magie der ersten Lektüre bei einem „Wiederlesen“ nicht mehr Stand. „Das Narrenschiff“ stand, wie ich mich erinnere, schon im elterlichen Bücherregal, ein 700-Seiten-Wälzer in einer etwas altmodischen Übersetzung, aber dennoch faszinierend für die pubertierende Lesende. Wie durch ein Guckloch schaute ich auf dieses menschliche Treiben auf dem Schiffsdeck, fieberte mit den Liebenden mit, litt mit den Armen, die im Zwischendeck eingepfercht waren, mit den jüdischen Passagieren, die in der Messe an den Katzentisch verbannt wurden und hegte nichts als Verachtung für die dicken deutschen Herrenmenschen und die Schweizer Spießer, die dieser Roman en masse zu bieten hatte.

2010 brachte der Manesse Verlag dieses opulente Buch, einer der wenigen Gesellschaftsromane aus der Hand einer Schriftstellerin, in neuer Übersetzung durch Susanna Rademacher heraus. Und wieder erfasste mich das Reisefieber: Alles las sich nun viel geschmeidiger, die Geschichte mit ihren unzähligen Verknüpfungen riss mich wieder mit. Doch schon da war ein gewisses Unbehagen bei der Lektüre vorhanden, etwas, das mich dazu trieb, dieses Buch erneut in die Hand zu nehmen, langsamer und kritischer zu lesen, mich dem Sog, einfach wissen zu wollen, „wie es weitergeht“ zu entziehen. Und siehe da: Je öfter man eine Kreuzfahrt bucht, desto mehr verliert sich der nach außen getragene Glanz, desto sichtbarer werden Technik und Handarbeit, die den Dampfer vorantreiben. Und vielleicht spielt auch hier – in literarischer Hinsicht – die „Gnade der späten Geburt“ eine Rolle: Die karikaturhafte Überzeichnung der Passagiere in diesem Roman lässt sich heute deutlich kritischer und sachlicher betrachten, wie es kurz nach Ablegen des Narrenschiffes in den 1960-er Jahren war.

„Das Narrenschiff“: Durchaus ein großer Roman, dessen Schwächen jedoch in der Überzeichnung der Figuren und Gegensätze deutlich werden, dessen Stärke dagegen die präzise psychologische Wiedergabe komplizierter Liebes- und zwischenmenschlicher Beziehungen ist. Ein Schmöker mit Abstrichen.

Soviel Prolog, nun zum Buch selbst:

1931 legt in Veracruz der Dampfer „Vera“ ab, Zielhafen ist Bremerhaven, wo die Passagiere wenige Wochen später von einer Blaskapelle, die „O Tannenbaum“ intoniert, empfangen werden. Eine Handvoll Menschen, miteinander konfrontiert auf engstem Raum, sich selbst und ihren Leidenschaften überlassen: das ist der Stoff, aus dem die großen Geschichten entstehen können. Die amerikanische Autorin Katherine Anne Porter (1890 – 1980), die für ihr literarisches Debüt 1930 mit „Flowering Judas“, einem Band mit Erzählungen, gefeiert wurde, schrieb fast ein Drittel ihres Lebens an diesem Stoff: „Das Narrenschiff“ wurde auch für sie zur Lebensreise. Die als äußerst selbstkritisch bekannte Autorin, die sich mit journalistischen Arbeiten, Vorträgen und Lesereisen finanziell über Wasser hielt, feilte Wort für Wort an der Geschichte. Aber vor allem kam ihr beim Schreiben immer wieder eines in den Weg: Das Leben, die Liebe, beides turbulent und nicht allzu glückvoll.

Als der Roman 1962 endlich erschien, wurde er, vor allem in den USA, als Sensation gefeiert. Von der deutschen Literaturkritik jedoch hagelte es negative Urteile, die oftmals vom Zeitgeist und Emotionalität einer Kriegs- und Nachkriegsgeneration geprägt waren. Eine Rezension in „Der Spiegel“ von 1962 fasst dies zusammen:

„Weniger begeistert waren deutsche Kritiker vom Stapellauf des modernen “Narrenschiffs”. Washington – Korrespondent Herbert von Borch etikettierte in der “Welt” das Porter-Buch als ein “Dokument des Hasses”, und die “Frankfurter Allgemeine” warnte: “Seit einer Dekade hat kein amerikanischer Roman mehr einen so jähen, durch keine kritische Stimme getrübten Erfolg gehabt… Nicht jeder deutsche Leser wird in diesen Jubelchor einstimmen.”

Tatsächlich verdeutlicht der Roman, dessen Personal sich zu einem großen Teil aus Deutschen rekrutiert, recht drastisch die Antipathie der Autorin gegen teutonische Mentalität, in der sie als gewichtige Wesenszüge Fanatismus und Grausamkeit zu erkennen glaubt.“

50 Jahre später wirft Wolfgang Schneider in der „FAZ“ dazu ein:

„Aus heutiger Sicht gibt es eher ein ästhetisches Problem: Man ist allzu schnell fertig mit den sich selbst entlarvenden Nazi-Spießern. In Literatur und Film kommen nur noch kultivierte Nationalsozialisten in Frage: kalte, machtgestützte Charmeure, hochreflektierte Unmenschen, unbanale Böse – siehe Littell oder Tarantino.“

Als „politisches Mahnmal“ gegen Zivilisationsbrüche“, wie es auf dem Klappentext der Neuauflage zu lesen ist,  taugt dieser Roman nur bedingt: Dafür bietet er zu viel Schwarz-Weiß-Zeichnung auf, zu viel Holzschnitt. Aber er vermag Empathie zu wecken: Für den „Underdog“ aus der Arbeiterklasse, der beim Versuch, einen Hund zu retten, der über Bord geworfen wurde, ertrinkt. Für den sanftmütigen Schiffsarzt, der all die Blessuren, physische wie psychische, seiner Passagiere zu lindern versucht, obwohl er selbst am Leben zweifelt und am Körper leidet. Und für jungen Wilhelm Freytag, der im Eingangszitat dieses Beitrags auftritt: Mit einer Jüdin verheiratet weiß er, dass er in Deutschland keine Heimat mehr haben wird. Zwischen anerzogenen „Nationalstolz“ und Patriotismus und der Liebe zu seiner Frau zerrissen, schwankt er wie ein Schiffbrüchiger durch diese Geschichte. Doch auch an ihm zeichnet die Autorin mit ihrem realistischen, präzisen Blick für den Wankelmut der Menschen die Schattenseiten heraus, auch er ist kein ungebrochener Sympathieträger.

Das ist das Interessante an diesem Werk: „Das Böse“, der deutsche Spießer und Brandstifter, er kommt oftmals allzu plakativ daher – den vielen weiteren Reisenden jedoch kriecht die Autorin förmlich ins Gehirn, seziert ihre Seele. Bei fast 30 Protagonisten, die alle episodenhaft auftreten und portraitiert werden, entfaltet sich hier die Fülle des Lebens. Und Lebenserfahrung, dies zeigt die Biographie von Katherine Anne Porter, hatte die Autorin genug. Selbst das „Narrenschiff“ – der Titel ist wie das Konzept der Seereise angelehnt an die 1494 erstmals gedruckte Satire von Sebastian Brant – findet bei Porter eine Entsprechung im „echten Leben“: Sie selbst reiste mit dem Schiff nach Deutschland, mit an Bord Hermann Göring, der ihr offenbar Avancen machte. Wer das „Narrenschiff“ aufmerksam liest, wird nicht unschwer eine Figur finden, die an den Nationalsozialisten erinnert. Viel interessanter sind jedoch die Reisenden, deren Charakterisierung sich weniger an „Typen“, sondern mehr an Individuen orientiert. Individuen, die Porter, die zeitlebens das Leben einer Bohemienne führte, immer reisend, immer in die falschen Männer verliebt, durchaus gekannt haben mag: All ihre Menschenerfahrung ist in diesem Roman gebündelt.

Elke Schmitter, die auch für die aktuelle Manesse-Ausgabe das Nachwort beisteuerte, schrieb in einem Essay:

„Doch die Nöte der plumpen jungen Elsa Baumgarten, die triebhaften Verwirrungen des einsamen Wilhelm Freytag, die Kämpfe der stolzen Mrs. Treadwell, die Beziehungsdramen von Jenny und David, die selbstzufriedenen Phrasen des Professor Hutten und die Seekrankheit seiner Bulldoge – all diese Realitäten haben in Anne Katherine Porter eine faire Protokollantin gefunden. Mit gleichbleibenden Abstand, in unbestechlicher Ruhe zeichnet sie auf, woraus die Menschen gemacht sind. Das ganze krumme Holz. Mit jeder einzelnen Maserung.“

Angaben zum Buch:

Katherine Anne Porter
Das Narrenschiff
Manesse Verlag, 2010
26,95 Euro
704 Seiten, geb., Schutzumschlag
ISBN: 978-3-7175-2220-1


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Katherine Mansfield: Fliegen, tanzen, wirbeln, beben

Zum 130. Geburtstag von Katherine Mansfield erschien beim Manesse Verlag eine gelungene Auswahl aus ihren Tagebüchern und Notizen.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Im Herbstgarten fallen die Blätter. Wie Schritte, wie sanftes Wispern. Sie fliegen, tanzen, wirbeln, beben.“

Katherine Mansfield am 18. Oktober 1922

Als die neuseeländische Schriftstellerin dies schreibt, ist sie selbst, obwohl erst vier Tage zuvor 34 Jahre jung geworden, bereits im Herbst ihres Lebens. Es ist einer der letzten Tagebucheinträge. Wenige Monate später, am 9. Januar 1923, erleidet sie, die Meisterin der Kurzgeschichte, einen Blutsturz und stirbt. Ihr Leben: Selbst eine Kurzgeschichte, voller Dramen und Unglücksfälle, eine, die melancholisch, todkrank, unstet, irrlichternd durch die Welt zieht und dabei dennoch immer wieder das Leben und die Welt in den schönsten Farben und Worten feiert:

Erdbeeren und ein Segelschiff

„Wir saßen auf einem Felsen über dem offenen Meer. Der Kleinstadt kehrten wir den Rücken zu. Wir hatten beide ein Körbchen voll Erdbeeren. Eben hatten wir sie einer dunklen Frau mit wachen Augen – beerenfündigen Augen – abgekauft.
„Sie sind frisch gepflückt“, sagte sie, „aus unserem eigenen Garten.“ Ihre Fingerspitzen waren hellrot gefärbt. Aber was für Erdbeeren! Jede war die schönste – die vollkommenen – der Inbegriff einer Erdbeere – die Frucht unserer Kindheit! Selbst die Luft fächelte auf Erdbeerflügeln herbei. Und tief unten in den Tümpeln badeten kleine Kinder mit Erdbeergesichtern…
Über das blaue, wogende Wasser nahte sich ein dreimastiges Segelschiff – mit neun, zehn, elf Segeln. Von wundersamer Pracht! Es ritt über das Meer, als tränke jedes Segel reichlich Sonne und Licht.“

Was für eine Ausdruckskraft, was für eine Sprache! Katherine Mansfield schrieb so eigenartig glasklar über die Welt, wie sie ist, manchmal auch satirisch überspitzt, manchmal gnadenlos realistisch und dennoch scheint über dieser und anderen Szenen ein magischer Erdbeermond. Die kleine Vignette von einem Tag an der Küste ist Teil des Bandes „Fliegen, tanzen, wirbeln, beben“, der aktuell zu ihrem 130. Geburtstag beim Manesse Verlag erschien.

Nachwort von Dörte Hansen

Es ist, wie die Schriftstellerin Dörte Hansen im Nachwort zu diesem auch optisch sehr ansprechenden Buch schreibt:

„Man braucht von Katherine Mansfields Leben nichts zu wissen, um ihre Kurzgeschichten zu bewundern. Sie strahlen, schweben, glänzen von allein, sie sind auf biografische Erklärungen nicht angewiesen. Und doch beginnt man nach dem Lesen ihrer Tagebücher, Briefe und Notizen ganz von vorn, liest die Erzählungen noch einmal neu und folgt gebannt den Spuren dieser Frau, die jahrelang von einer trostlosen Behausung in die nächste zog, wo sie dann wieder krank, gehetzt und einsam um ihr Leben schrieb.“

Neugierig auf das Werk dieser Ausnahmeerscheinung zu machen, dies war Absicht von Herausgeber Horst Lauinger, der aus der großen Hinterlassenschaft für dieses Buch Tagebucheinträge, Notizen und Briefe in chronologischer Reihenfolge zusammenstellte, die sich – als „Vignetten eines Frauenlebens von 1903 – 1922“ – zu einem eindrücklichen Portrait zusammenfügen: Da ist eine, die gleichermaßen aus vollem Herzen liebt und verabscheut, die sich nach Freiheit sehnt und zugleich nach Zugehörigkeit, die mit ihrem kranken Körper hadert und dennoch die Schönheit des Augenblicks auskosten kann, die mit sich selbst streng zu Gericht geht und nicht weniger ätzend über ihre Mitmenschen urteilt, die aber vor allem eines tut – ihr ganzes Leben ordnet sie dem Schreiben unter. Das Leben, eine einzige, lange Erzählung.

Es ist berührend zu lesen, wie sie in ihren letzten Lebensjahren geradezu um Lebenszeit bettelt, Lebenszeit, um schreiben zu können, wie sie mit sich selbst hadert, wenn es nicht gelingt. Am 13. November 1921 notiert sie in ihr Tagebuch:

„Vergeudete Zeit. Der alte Aufschrei – der erste und letzte Aufschrei – was zögerst du? Ach ja, warum? Mein glühendster Wunsch ist es doch, Schriftstellerin zu sein und ein stattliches Werk vorweisen zu können. Und das Werk ist doch da, und die Geschichten warten auf mich, werden müde, welken und verblassen, weil ich nicht kommen mag.“

Strahlende Prosa

Wer ihre schmale Hinterlassenschaft, von den spitzzüngigen ersten Worten aus einer deutschen Pension bis zum alles überstrahlenden Gartenfest kennt, der fragt sich, was da noch hätte kommen können, wäre ihr die Zeit geblieben, ob diese strahlende Prosa, die sogar Virginia Woolf in Schrecken und Eifersucht versetzt hatte, eines Tages auch in einen ebenso strahlenden Roman hätte münden können.

Andererseits bedingen sich bei ihr Krankheit – 1917 wurde bei ihr Tuberkulose diagnostiziert, zudem hatte sie sich vermutlich auch mit Gonorrhoe infisziert – und Wahrnehmungs- wie Ausdrucksfähigkeit gegenseitig. Ihr Landsmann Anthony McCarten meint über sie:

„Nach der Diagnose im Jahr 1917 sah sie Wunder, wohin sie auch schaute. Ihre Hingabe an das schiere Staunen, diese Offenbarungen fanden zunächst zögernd Eingang in ihr Werk, bald aber strömten sie. Die Krankheit, die Mansfield einem Alltag entrückte, den sie sich stets besser gewünscht hatte, führte sie in die Todeszone, einen sublimen Lebensraum, dessen Bewohner sich der Betrachtung der letzten Dinge widmen. Dort ist es den Glücklichsten vergönnt, die Welt mit einem Maß an Ehrfurcht wahrzunehmen, das nur der empfindet, der weiß, daß er sie bald verlassen wird.“

Glücklich jedoch in der üblichen Form war Katherine Mansfield wohl nie. Jedenfalls nicht zur Ruhe kommend. Auch wenn sie nach wechselnden Beziehungen 1918 eine feste Partnerschaft zu dem Kulturjournalisten John Middleton Murry eingeht, mit dem sie bis an ihr Lebensende verheiratet bleibt, so ist auch diese äußerliche Konstante von Wechselfällen gekennzeichnet, von Trennungen und sich wiederfinden, verraten ihre Tagebucheinträge, wie sehr sie zwischen Liebe und Sehnsucht nach Autonomie, nach Eigenständigkeit zerrissen ist.

So ermöglicht dieses Buch auch den Blick auf eine Frau, die nicht von ungefähr auch zu einer Ikone der Frauenbewegung wurde.

„Katherine Mansfield hat schon früh gewußt, daß sie eine anderes Leben wollte“, so Dörte Hansen. „Mit neunzehn schreibt sie eine Art feministisches Manifest in ihr Tagebuch:“

„Hier seien die paar Dinge genannt, die ich brauche – Macht, Reichtum und Freiheit. Es ist das hoffnungslos langweilige Dogma, Liebe sei das einzige auf der Welt, das man den Frauen von Generation zu Generation einbläute, welches uns so grausam behindert. Wir müssen diesen Fetisch loswerden – und dann, ja dann eröffnet sich die Möglichkeit von Freiheit und Glück.“

Wer diese Frau war, die Freiheit vor Glück setzte, davon gibt dieser Jubiläumsband mit einer gelungenen Auswahl ihrer autobiografischen Texte und ihrer Vorübungen für ihre Schreibwunder einen guten Einblick. Zudem trägt die Übersetzung von Irma Wehrli dazu bei, dieses Funkeln, das Strahlen, das Beben der Prosa von Katherine Mansfield auch in der deutschen Sprache seine Wirkung beibehält.


Informationen zum Buch: https://www.randomhouse.de/Buch/Fliegen-tanzen-wirbeln-beben/Katherine-Mansfield/Manesse/e546130.rhd

Titelbild zum Download: Skulptur in Bad Wörishofen


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Sinclair Lewis: Babbitt

Ein bissiger, bis heute aktueller Roman. Sinclair Lewis schuf mit “Babbitt” einen zeitlosen Charakter, den rückgratlosen, spießigen Opportunisten.

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Bild von andreas160578 auf Pixabay

„Man konnte es mit diesem zivilisatorischen Fortschritt auch übertreiben, fand Babbitt. Noël Ryland, Verkaufsleiter bei Zeeco, hatte seinen Abschluss frivolerweise in Princeton gemacht; Babbitt hingegen war ein solides Durchschnittsprodukt aus dem großen Warenhaus namens State University. Ryland trug Gamaschen, schrieb lange Briefe über Stadtplanung oder Stadtchöre, und obwohl er ein Booster war, hieß es, er trage in einer seiner Taschen gelegentlich einen kleinen Band fremdsprachiger Gedichte bei sich. All das ging zu weit. Henry Thompson stand für extreme Provinzialität, Noël Ryland für extreme Schaumschlägerei, Babbitt und seine Freunde hingegen hielten genau die Mitte, traten für den Staat ein und verteidigten die evangelischen Kirchen, das traute Heim und reelle Geschäfte.“

Sinclair Lewis, „Babbitt“, OA 1922, Manesse Verlag, 2017 in der Übersetzung von Bernhard Robben.

Was für ein herrlich unterhaltsamer und bissiger Roman! 1922 veröffentlicht Sinclair Lewis, da bereits schon durch „Main Street“ (1920) ein an den Erfolg gewöhnter Autor, seine „Studie“ über den typischen amerikanischen Durchschnittsbürger aus der Mittelschicht – und landet damit wieder einen Bestseller, der sich aus dem Stand tausendfach verkauft. Und bis heute gelesen wird: „Babbitt“ ist – in mehr als einem Sinne – ein „Evergreen“.

Denn man kann das Buch natürlich ganz reflektionsbefreit als wunderbare Satire lesen: Als überspitzte Darstellung eines Spießers, eines Opportunisten, der im Käfig seines Mittelstanddaseins gefangen ist. Huch, das könnte mein Kollege sein, der ständig über die nächste Gehaltserhöhung nachdenkt oder auch die Nachbarin, die so andächtig den nagelneuen SUV für ihre Minimaleinkäufe ausführt. Kurzum, „Babbitts“ wird es immer geben, ein unverwüstlicher Typ.

Aber, mal ehrlich: Sind wir nicht alle ein wenig „Babbitt“? Fragen wir uns nicht manchmal, warum wir unseren Jobs nachgehen, die Kinder lieber aufs Gymnasium denn auf die Realschule schicken, für die Rente sparen, wählen, was wir wählen, sind, was wir sind? Sinclair Lewis gelang mit diesem „bürgerlichen Roman“ auch ein Lehrstück über die Macht der Masse: Selbst ein revoltierender Babbitt lässt sich letzten Endes wieder einfangen, wird resozialisiert, babbittisiert.

„Die Satire ist spektakulär und oft spekulativ. Satire übertreibt. Lässt sich auch das Normale übertreiben, der Durchschnitt, das Unspektakuläre?“

Diese Fragen stellt sich und uns der Schriftsteller Michael Köhlmeier in seinem Nachwort zur aktuellen „Babbitt“-Ausgabe (der Text, eigentlich ein Portrait von Sinclair Lewis, ist übrigens auch in der „Volltext“-Ausgabe 3/2017 nachzulesen). Köhlmeier lehnt es ab, diesen großen amerikanischen Roman als Satire zu bezeichnen:

„Sollte Sinclair Lewis tatsächlich das Anliegen gehabt haben, einen satirischen Roman zu schreiben, so glaube ich, ist ihm dies – zu unserem Glück – nicht gelungen.“

Denn:

„Die Bedeutung des bürgerlichen Romans liegt darin, dass er Charaktere schafft und nicht Typen. Die angeprangerten, denunzierten Figuren in einer Satire sind immer die anderen. Ein Charakter verweist auf mich, ich komme ihm nicht aus.“

„Babbitt“ ist ein authentischer, sogar ein zeitloser, unsterblicher Charakter (der übrigens auch zum Vorbild weiterer literarischer Figuren wurde – ganz direkt erkennbar im „Hasenherz“ Harry Angstrom, dem Helden von John Updikes „Rabbit“-Romanen), einer, den wir immer wieder treffen können. Gerade auch in uns selbst.

George F. Babbitt also ist der Durchschnittstyp, mit dem man beim Lesen trotz seiner Borniertheit, seiner intellektuellen Beschränktheit und seinem Großmanns-Getue auch Mitleid bekommen kann: Gesegnet mit einer etwas naiv-treuen Gattin, drei durchschnittlich aufsässigen Kindern, einem florierenden Immobilienhandel nachgehend, wäre eigentlich alles in Ordnung in „Zenith“, jener fiktiven Stadt, die Lewis für seinen Helden schuf. Doch – obwohl er dieses Gefühl nicht genau erfassen kann –  spürt Babbitt die Sinnleere in seinem Dasein, sehnt sich nach etwas, das über den ewigen Kreislauf des Geldverdienens und Geldausgebens hinausreicht.

Dass hinter den Fassaden des bürgerlichen Wohlstands längst nicht alles eitel Freude und Wonne ist, das zeigt sich am Schicksal seines besten Freundes: Der, zermürbt von den ewigen Anforderungen und Nörgeleien seiner Gattin, versucht, diese zu erschießen und landet hinter Gittern.

Babbitt bringt dies vollends von der Rolle, der Schuss, ein Wecksignal sozusagen: Das Riesenbaby stürzt sich in eine seltsame Affäre, verpulvert das mühsam erworbene Geld, trinkt unmäßig und lässt sich sogar auf sozialistische Ideen ein – vor allem dieses strapaziert die Geduld seiner Geschäftsfreunde über Maßen. Der Ausbruch währt nicht lange und Babbitt kehrt zurück als reuiger Sünder ins Mittelstandsnest.

Der Manesse Verlag hat diesen Roman nun in seine Reihe moderner Klassiker aufgenommen. Die Übersetzung von Bernhard Robben liest sich geschmeidig und frisch, wenn auch mir manche Wendungen und Ausdrücke – beispielsweise „Werbefuzzis“ – zu modern erscheinen. Zugleich aber macht die Übertragung auch durch ihre Sprache deutlich: Dieser Roman ist immer noch aktuell. „Zenith“, wiewohl fiktiv, gibt es immer noch – irgendwo in den USA. Oder auch auf dem alten Kontinent:

„Genau das ist der springende Punkt! Und es gibt da noch was, was wir tun sollten“, sagte der Mann mit dem Verlourshut (Koplinsky hieß er), „wir sollten diese verdammten Ausländer gar nicht erst ins Land lassen. Dank sei dem Herrn, dass die Einwanderung begrenzt wurde. Diese Hunnen und Spaghettifresser müssen endlich kapieren, dass Amerika das Land des weißen Mannes ist und sie hier nicht erwünscht sind.“

Verlagsinformationen zum Buch:
https://www.randomhouse.de/Buch/Babbitt/Sinclair-Lewis/Manesse/e480648.rhd

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