Joy Williams: Stories

In den USA ist Joy Williams lange schon eine literarische Größe, bewundert von Lauren Groff, Don DeLillo, Raymond Carver und anderen. Auf dem deutschen Buchmarkt wird das Werk der fast 80-jährigen Autorin erst jetzt entdeckt. Höchste Zeit!

Bild von Robert Balog auf Pixabay

„Dann, eines Nachmittags, kam Walter von der Arbeit in der Autowerkstatt nach Hause, und es schien, als wäre er aus einem seltsamen Schlaf erwacht. Sein Erwachen schien ihn nicht zu erschrecken. Seine kummervollen Tage und Nächte endeten mit einer Wucht, die nicht größer war als das Auflaufen eines Bootskiels am Ufer eines Flusses.“

Aus der Erzählung „Letzte Generation“
Joy Williams, „Stories“


Es sind diese beinahe beiläufigen Bilder, sacht wie das Auflaufen eines Bootskiels, die Joy Williams zu einer Meisterin des Untergründigen machen. In den USA ist die 1944 in Chelmsford, eine Kleinstadt in Massachusetts geborene Schriftstellerin, lange schon eine literarische Referenz: Bewundernde Noten von Don DeLillo, Bret Easton Ellis, Lauren Groff und Raymond Carver sind auf der Rückseite der deutschen Buchausgabe ihrer „Stories“ zu lesen.

In ihrer Heimat vielfach ausgezeichnet, hierzulande bislang noch völlig unbeachtet: Zwei übersetzte Bände erschienen vor über drei Jahrzehnten, danach las man nichts mehr über die Erzählerin. Umso erfreulicher, dass der Band „Stories“ nun von der ganzen Bandbreite des Feuilletons besprochen wurde. Zu Recht: So grandios taucht kaum eine in das menschliche Herz der Finsternis ein. „Stories“ versammelt eine kluge Auswahl aus dem Werk von Joy Williams, sozusagen ein „best of“ von den 1970er-Jahren bis 2014, die die Bandbreite dieser Schriftstellerin zeigen.

Mit einer bissigen Lust an der Entlarvung ihrer Figuren

Mit kurzen, pointierten Sätzen nimmt sie ihren Figuren die Masken vom Gesicht, entlarvt sie mit einer gewissen bissigen Lust. Über Jack, einen egozentrischen forensischen Anthropologen, der sich bei einem Jagdunfall mit einem Pfeil durchs Auge selbst das Gehirn wegschießt, lässt sie dessen frustrierte Lebensgefährtin Miriam sagen:

„Aus der Reha kam er mit einem Gesicht nach Hause, das so ausdruckslos war wie ein glasierter Kuchen.“

Miriam begibt sich in der Erzählung „Kongress“ schließlich mit Jack und dessen Studenten Carl, dessen Besitzansprüche an den behinderten Forscher immer massiver werden, auf einen Roadtrip, beginnt mit einer Lampe mit Tierfüßen zu sprechen und übernimmt am Ende die Stelle eines Präparators in einem Naturkundemuseum mitten in der Pampa. Frank Schäfer kritisierte in seiner Rezension in der “taz” diese Story als einzige, die zu sehr in eine Traumlogik abgleite, andere erkennen in solchen Erzählungen die Nähe zu George Saunders.

„Auch Williams betrachtet die Realität so lange, bis sie einem irgendwann ganz fremd erscheint“, meint Frank Schäfer. „Kongress“ aber zeigt in meinen Augen: Ebenso beherrscht Williams die Kunst, das Irreale ganz normal, ganz real erscheinen zu lassen. Warum nicht öfter mit einer Lampe sprechen?

Ein Abbild amerikanischer Tristesse

Tatsächlich fällt „Kongress“ unter den insgesamt 13 Erzählungen in „Stories“ etwas aus dem Rahmen. Gemeinsam haben sie jedoch alle eines: Sie sind Skizzen dieser speziellen amerikanischen Tristesse, die man auch aus Werken anderer US-Schriftsteller – neben Williams‘ Studienkollegen Raymond Carver sowie Lucia Berlin wären da auch die etwas älteren Richard Yates und John Cheever zu nennen – kennengelernt hat.

Doch neben der Genauigkeit des Beobachtens und der feinen Zeichnung ihrer Figuren (meist Verzweifelte, Abgehängte, Ausgebrannte), der Kunst der feinen psychologischen Skizzierung, die Charaktere in wenigen Bildern greifbar macht und untergründigen Melancholie, die diese Autor*innen gemeinsam haben, sind die Stories von Joy Williams in einem Wesenszug einzigartig: Sie verströmen eine Aura des Unheimlichen, Abgründigen, die einen immer wieder erschauern lässt. Es wundert nicht, dass Bret Easton Ellis „der Mut fehlt, die Geschichten ein zweites Mal zu lesen“.

In „Liebe“ erblickt ein kleines Mädchen bei einer winterlichen Autofahrt einen „Schneeschuhhasen“:

„Der Hase ist prächtig! Und so schnell! Er gleitet um unsichtbare Hindernisse, wie ein Wesen aus einem freundlichen Traum, fliegt über den Graben, die Pfoten wie Paddel, leicht gelblich, von der Farbe rohen Holzes.“

Sekunden später ist der Hase tot und „stürzt, wie eine Kugel, Pfoten und Kopf eng an den Körper gepresst.“

Immer nah am Kipppunkt zur Tragödie

Urplötzlich kommt in diesen Erzählungen der Kipppunkt, in denen die Normalität zur großen Tragödie wird. Oder zumindest schleicht sich die Ahnung ein, dass das Ganze böse enden könnte, sei es nun in „Lu-Lu“, als eine junge Frau die Boa Constrictor ihrer alten Nachbarn entführt oder in der Erzählung „Rost“: Der weitaus ältere Ehemann von Lucy, Dwight, entflammt für einen rostigen Ford Thunderbird, dem keine Autowerkstatt noch eine Chance gibt. Schließlich landet das Auto im Wohnzimmer und das ungleiche Paar im Auto, aus der Fensterscheibe starrend. Das unspektakuläre Ende ist ganz groß. Man kann nur das Schlimmste fürchten:

„Ein leichter Regen fiel, ein warmer Frühlingsregen. Während sie hinsah, fiel er rascher. Er war silbrig, doch je rascher er fiel, desto weniger wirkte er wie Regen, und sie konnte es fast klirren hören, als er auf die Straße traf.“

Warum Joy Williams erst jetzt im deutschsprachigen Raum als große Entdeckung gefeiert wird, mag vor allem darin liegen, dass die Form der Erzählung es auf dem deutschen Buchmarkt allgemein schwer hat. Was die Gründe dafür sind, ist mir ein Rätsel: Für mich ist es große Kunst, eine ganze Welt und ein ganzes Leben, dichte Atmosphäre und funkelnde Sätze auf wenige Seiten zu packen, ohne alles erzählen. Die Kunst der Andeutung – diese beherrscht Joy Williams meisterhaft.


Informationen zum Buch:

Joy Williams
Stories
Übersetzt von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz
Dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28321-2

Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe

Lucia Berlin erzählt von Menschen, meist Frauen, die im alltäglichen Elend ihre Würde und den Lebenswillen bewahren. Und sie erzählt damit von sich selbst.

Berlin
Bild: (c) Michael Flötotto

„Mein Leben begann ruhig, ich wohnte in Bergbaustädten und zog zu oft um, um Freunde zu haben. Ich suchte mir einen Baum oder einen Platz in einem alten verlassenen Hüttenwerk und saß in der Stille. Meine Mutter las normalerweise oder schlief, und so sprach ich meistens mit meinem Vater. Sobald er zur Tür hereinkam oder wenn er mich in die Berge und ins tiefe Dunkel der Minen mitnahm, redete ich ununterbrochen. Dann ging er ins Ausland, und wir lebten in El Paso, Texas, wo ich die Vilas-Schule besuchte. In der dritten Klasse konnte ich gut lesen, hatte aber vom Addieren keine Ahnung. Ein schweres Korsett auf meinem Rücken. Ich war hochgewachsen, aber immer noch wie ein Kind. Ein Wechselbalg in dieser Stadt, als hätten mich Bergziegen in den Wäldern aufgezogen.”

Lucia Berlin, „Was ich sonst noch verpasst habe“
Zitat aus der Erzählung „Stille“


Ein Wechselbalg, eine Außenseiterin, von Kindheit an unterprivilegiert, niemals dazugehörend. Stille, Einsamkeit, Melancholie als Erbe. Sie dringen durch jede dieser Erzählungen. Zugleich aber auch eine Sprödigkeit, eine Lakonie, trockene Humorsicht auf die Welt, das Streben der Ehrgeizigen nach einem Quäntchen mehr an Glück leise belächelnd. Lucia Berlin erzählt von jenen – meist Frauen – die sich dennoch behaupten, im alltäglichen Elend ihre Würde bewahren, den Lebenswillen auch. Sie erzählt von unterbezahlten Krankenschwestern, ausgebeuteten Putzfrauen, illegalen Einwanderinnen, Suchtkranken in der Reha, Alkoholikerinnen im wiederholten Entzug, von den Underdogs, die sich in Waschsalons, auf der Straße, auf der Flucht treffen – und sie erzählt immer auch von sich selbst, an ihrer eigenen Biographie entlang.

Dunkle Königinnen der Selbstbehauptung

Die Frauen, von denen sie erzählt, das sind trotz ihrer Schwächen, ihrer Demütigungen und Verletzungen jedoch keine Gebrochenen – es sind die dunklen Königinnen der Selbstbehauptung. Ein Abbild dieser Schriftstellerin vielleicht, die in einem Brief an einen Freund über sich selber schrieb: „Keine Gefühle zeigen. Nicht weinen. Lass niemanden an dich ran.“ Nicht gerade das Heilsrezept, das die moderne Psychotherapie Menschen mit einer Biographie ähnlich derer der amerikanischen Autorin (1936 – 2004) verordnen würde – Sprechen lautet da die Diagnoseempfehlung. Manches ist jedoch vielleicht einfach auch unsagbar. Und nur durch die Verwandlung in Literatur findet es seinen Ausdruck – so stelle ich mir das Schreiben der Lucia Berlin vor, für die vielleicht (das ist meine Spekulation) das Verfassen von Texten der einzige Ruhepol in einem unruhigen Leben war, die einzige Möglichkeit, Schläge abzuwehren, Verletzungen zu heilen.

Ein Blick auf die Biographie: In Alaska geboren, der Vater Bergbauingenieur, der beruflich bedingt ein unstetes Leben führen muss, die Mutter eine Trinkerin. Im Alter von zehn Jahren erkrankt Lucia Berlin in Chile an Skoliose, der Vater verlässt die Familie, die bei den Großeltern unterkommt. Großvater und Onkel sind ebenfalls Trinker, wie in zwei Erzählungen angedeutet ist, wird Lucia Berlin zudem Opfer sexuellen Missbrauchs durch den Großvater. Sie selbst kämpft später ihr Leben lang gegen den Alkoholismus an, heiratet Männer, die selbst am Abstürzen sind, erzieht ihre vier Söhne größtenteils alleine, wechselt häufig die Wohnorte. Und ist daneben noch, vor allem in den 1960er bis 1980er Jahren literarisch überaus produktiv – wenn auch öffentlich kaum beachtet.

Berühmtheit erst nach ihrem Tod

„Lucia Berlin“, so heißt es in einer wunderbaren Annäherung an die Schriftstellerin durch Mara Delius in der „Welt“, „blieb so unbekannt, dass sie noch nicht einmal vergessen werden konnte, als sie gestorben war.“ Tatsächlich gelangt die amerikanische Autorin erst jetzt, eine Dekade nach ihrem Tod, zu einer Art literarischen Berühmtheit. Als 2015 die Erzählungen unter dem Titel „A  Manual for Cleaning Women“ erschienen, wurde diese Wiederentdeckung zu einer literarischen Sensation. Und auch im deutschen Sprachraum  bekommt Lucia Berlin nun die Aufmerksamkeit, die ihr – und davon bin ich fest überzeugt – gebührt. Der Arche Verlag brachte die Erzählungen Anfang 2016 unter dem Titel „Was ich sonst noch verpasst habe“ heraus, wunderbar übersetzt von Antje Rávic Strubel.

Diese zeigt sich in ihrem Vorwort begeistert von der Amerikanerin – eine Begeisterung, die ich nur teilen kann:

„Mit ihrer unbehauenen Sprache, ihren ungeschönten Schilderungen und komplexen Figurenporträts, durchwoben von abgründigem Witz, hat Lucia Berlin allerdings ein unverkennbar eigenes, einzigartiges literarisches Universum geschaffen. Diese Autorin schaut dorthin, wo es wehtut. Den Schmerz fängt sie in einem dunklen Lachen auf.“

Das dunkle Lachen, das vom Schmerz in jeder Freude weiß – es klingt durch viele dieser Erzählungen, die sind wie „Tigerbisse“ – so lautet der Titel einer Erzählung über eine geplante Abtreibung in Mexiko:

„Und da war sie, Bella Lynn! Auf dem Parkplatz des Betriebsbahnhofs. Stand aufrecht winkend in einem taubenblauen Cadillac-Cabrio, in fransenbesetzten wildledernen Cowgirl-Klamotten. Sie war bestimmt die schönste Frau in West-Texas und hatte tausend Schönheitswettbewerbe gewonnen. Langes hellblondes Haar und goldbraune Augen. Ihr Lächeln, nein, es war ihr Lachen, ein dunkles, tiefes, wasserfallartiges Lachen, das Freude verströmte, das vom Schmerz in jeder Freude wusste und sich darüber lustig machte.“

Meisterwerke der kurzen Form

Schon in etlichen Feuilletons besprochen, ist Lucia Berlin jedoch wohl immer noch so etwas wie ein Geheimtipp. Für mich jedoch sind diese Erzählungen das Beste, was ich in der vergangenen Zeit aus der amerikanischen Literatur gelesen habe.

Man nehme die Stories von Carver, Cheever und Yates, gebe ihnen einen weiblichen Blick auf das Amerika der 1970er- bis 1980er Jahre, verdunkle sie, intensiviere sie, mache sie noch vollkommener, kristallklarer, diamantenhart – und dann stößt man auf die Essenz der Lucia Berlin. Doch anders als die erwähnten erzählenden Männer lässt sich Lucia Berlin ihren Blick auf die Welt nicht durch abgeklärten Zynismus verstellen – anders als sie überrascht sie auch in den dunkelsten Ecken ihres erzählerischen Daseins durch Freude.

Ihr Herausgeber und enger Freund Stephen Emerson sagt über ihre Art des Erzählens:

„Freude ist ein wesentliches Element in ihrem Werk. Ein seltenes Gut, das man nicht so oft findet. Balzac, Isaac Babel, García Márquez fallen einem ein. Eine Prosa, die so tief in die Welt hineingreift wie die Lucia Berlins, feiert sie. Ihr Werk ist von einer Freude durchdrungen, die von dieser Welt abstrahlt.“

Lesen! Und über die Wiederentdeckung dieser Autorin freuen!


Informationen zum Buch:

Lucia Berlin
Was ich sonst noch verpasst habe
Übersetzt von Antje Rávic Strubel
dtv Verlag, 2017
ISBN: 978-3-423-14586-2