Mike Johansen – ein wiederentdeckter Autor ukrainischer Literatur

Mike Johansen darf als einer der begabtesten Vertreter der “erschossenen Wiedergeburt” gelten, eine Generation ukrainischer Intellektueller, die dem Stalin-Terror zum Opfer fielen. Sein wichtigster Roman zeigt, wie eng verbunden er sich kulturell mit Westeuropa fühlte.

„Selbst der Stein, der rissig und verschlafen zwischen zwei alten Eichen am abgelegten Ufer des bewaldeten Dinez liegt und auf dem emsige, rotbraune Ameisen umherwandern – auch er reist. Nun ist der Mensch aber kein Stein. Der Mensch will mindestens die Umgebung seines Zuhauses bereisen, noch mehr aber ferne Länder.“

Mike Johansen, „Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz“


Wer die Slobidische Schweiz auf einer Landkarte sucht, wird dies vergebens tun: Es ist ein Toponym, eine Metapher. Mike Johansen (1895 – 1937), einer der prägendsten ukrainischen Schriftsteller seiner Generation, zeichnet das Bild einer atemberaubend schönen Region, „ein Netz aus Seen und Biegungen“ und einer „Vielzahl dunkler bewaldeter Berge“, die jedoch allein in der Imagination des Schriftstellers besteht. Und doch eine symbolhafte Bedeutung für ihn und seine Altersgenossen hat: Sie steht für eine Ukraine, die sich kulturell, literarisch und politisch eng mit Europa verbunden fühlt.

Seine Vision von einer eigenständigen ukrainischen Literatur, die in der westeuropäischen Tradition verankert ist, bezahlte Mike Johansen mit dem Leben: 1937 wurde er wegen „ukrainischem Nationalismus“ in Charkiw verhaftet und am Jahrestag der Oktoberrevolution am 27. Oktober in Kiew bei einer Massenhinrichtung erschossen. Knapp zwanzig Jahre später erschien in Paris ein Lyrikband unter dem Titel „Die erschossene Wiedergeburt“, der den ukrainischen Schriftstellern gewidmet war, die dem Stalinistischem Terror zum Opfer fielen. Mike Johansen darf als einer ihrer begabtesten, eloquentesten Vertreter gelten.

Sonnenuntergang am Dnjepr. Bild von Александр Красовский auf Pixabay

Und so ist die deutsche Erstübersetzung dieses burlesken Romans mit seinem sperrigen Titel auch eine Art „Wiedergeburt“, die von hoher Bedeutung in Zeiten des russischen Angriffskrieges ist: Man kann das Buch nicht lesen, ohne Zorn und Wut zu empfinden über eine Diktatur, deren brutaler Vernichtungswille ein Jahrhundert später wieder darauf abzielt, die lebendige, ukrainische Kultur und ihre Protagonisten zu zerstören.

Burleske Reise mit dadaistischen Zügen

Dabei bietet die von grotesken Vorkommnissen und Wendungen übersprudelnde Reise des Gelehrten Leonardo selbst genügend Stoff zum Amüsement. Und führt die Leser fortlaufend in die Irre (was nicht sonderlich dramatisch ist, solange sie sich in der schönen Slobidischen Schweiz befinden). Denn zunächst folgt man einem Don José Pereira, einem selbsternannten Tyrannenmörder aus Barcelona, der wiederum im Körper von Danko Charytonowytsch Pererwa, Mitglied des steppischen Bezirksverwaltungskomitees, haust und später in der Inkarnation eines Wolfes wieder auftritt – als hätte Mike Johansen das Schicksal der erschossenen Wiedergeborenen vorausgeahnt. Neben Anleihen aus der Welt der Fabel und dadaistischen Zügen schöpft das Buch zugleich aber auch aus dem Reichtum der slawischen Literatur, insbesondere festzumachen am sonstigen Personal, unter anderem verkörpert durch eine alte „Baba“, einem stets betrunkenen Bauern und einem sinistren Baumpflanzer.

Derweil tritt der von Schopenhauer geprägte Leonardo seine Reise an, die insbesondere zum Ziel hat, die zukünftige Geliebte zur gegenwärtigen Geliebten zu machen. Die Slobidische Schweiz soll mit ihrer Naturschönheit die Dame entsprechend beeindrucken. Der Weg ist jedoch nicht nur das Ziel, sondern bereits das vorgezeichnete Ende:

„Er dachte an die langen Jahre der Reise mit der schönen Alceste, die schönen, unvollendeten Jahre. Heute sollten sie zum ersten Mal vollendet werden. Er wusste, dass diese erste Vollendung für ihn nicht die letzte sein würde (…). Aber er wusste auch, dass dieser Reichtum und diese Fülle bald zur Neige gehen würden, vielleicht in einem Monat, vielleicht in einem halben Jahr, sie würden jedenfalls austrocknen und sich erschöpfen.“

Ob Leonardo, diese Mischung aus Don Juan und Don Quichotte, zum Zuge kommt? Eigentlich egal, wie es Mike Johanson im Epilog kurz und knapp auf den Punkt bringt, denn: „Ich habe sie erfunden.“

Personal als dekorative Pappkameraden

So ist der Roman, in dem immer wieder ein allwissender Erzähler auftritt, der beispielsweise Exkurse über „Zoologieliteraturhistoriker“ bietet, auch ein Buch, das über das Schreiben und die Poetologie reflektiert: Was will ein Autor, ein Schriftsteller transportieren, wozu dient eine Geschichte? Mike Johansen klärte über seinen Ansatz in einem Nachwort auf:

„Landschaft kann in der Literatur also in der herkömmlichen deskriptiven Form nicht adäquat behandelt werden. Aber falls ein Autor zufällig auf die Idee kommen sollte, die reziproken Rollen von Landschaft und handelnden Personen zu vertauschen, wäre das eine andere Sache.“

Mit anderen Worten: Leonardo und Alceste sind in Mike Johansens Auffassung „reine Pappkameraden“ und „bewegliche Dekoration“, die den Landschaftsroman lesbar machen, weil der Leser ihren Wegen folgt. Das Mittel zum Zweck, um eine imaginäre Landschaft zu beschreiben, die für Mike Johansen, den polyglotten und mehrsprachigen Poeten mit lettischen, deutschen und skandinavischen Wurzeln die geistige Heimat war: Die ukrainisch-europäische Literatur.

Doch ganz gleich, unter welchen Vorzeichen man diesen von fantastischen Einfällen übersprudelnden Roman liest, ob unter dem Eindruck des derzeitigen oder des vergangenen Terrors gegen die Ukraine, ob als Literaturexperiment, als Landschaftsroman oder imaginären Reiseführer, eines ist gewiss: Die Reise des Gelehrten ist eine fabelhafte Wiederentdeckung, ein quirliges, überwältigendes Lesevergnügen.  


Bibliographische Angaben:

Mike Johansen
Die Reise des Gelehrten Doktor Leonardo und seiner zukünftigen Geliebten, der schönen Alceste, in die Slobidische Schweiz
Übersetzt von Johannes Queck
Secession Verlag, 2023
ISBN 978-3-96639-064-4

STROUX EDITION: Die göttlichen Kindchen auf der Hotlist

Seit heute läuft das Online-Voting zur Hotlist 2023: Das Publikum kann mit darüber abstimmen, welche Bücher aus unabhängigen Verlagen in die Endrunde der letzten zehn kommen. Mit zur Auswahl steht “Die göttlichen Kindchen” aus der Stroux edition.

Große Freude bei der STROUX edition: Dass “Die göttlichen Kindchen” von Tatjana Gromača ein besonderes Buch ist, das wusste Verlegerin Annette Stroux bereits, als sie sich entschloss, die deutsche Übersetzung durch Will Firth zu verlegen. Nun steht der preisgekrönte kroatische Roman auch zur Auswahl bei der Hotlist 2023 – und die Leserinnen und Leser können mitentscheiden.


Die Pressemitteilung der Hotlist:

“Der Wettbewerb der Independents findet in diesem Jahr zum 15. Mal statt. 196 unabhängige Verlage aus dem deutschsprachigen Raum haben sich mit einem Buch um einen Platz auf der HOTLIST 2023 beworben. Zehn Mitglieder des Kuratoriums haben die eingereichten Titel geprüft und dreißig Hotlist-Kandidaten ermittelt. Nun nimmt die diesjährige Fach-Jury ihre Tätigkeit auf, aber bei der Wahl der „Zehn aus Dreißig” ist auch das Publikum gefragt: Drei der zehn Titel auf der Hotlist 2023 werden wie immer online entschieden.

Das Online-Voting startet heute. Bis inklusive 27. August können alle Interessierten ihre Stimme auf der Website der Hotlist abgeben und damit die Hotlist 2023 mitgestalten. Im Vorjahr gab es 3754 abgegebene Stimmen.

Alle 30 zur Wahl stehenden Verlage und Titel können hier (Link) eingesehen werden.”


Alle Infos zu “Die Göttlichen Kindchen” bei der Hotlist finden sich hier. Insgesamt zeigt die Hotlist 2023 wieder einmal mehr, welche großartige Vielfalt die unabhängigen Verlage bieten. Gerade in diesen sehr schwierigen Zeiten für die Verlagslandschaft ist die Hotlist sehr wichtig, schafft Sichtbarkeit für Bücher, die mit besonderem Anspruch und Leidenschaft gemacht werden. Und auch wenn ich allen teilnehmenden Verlagen die Daumen drücke, so schlägt mein Herz als Pressefrau der STROUX edition natürlich besonders für “Die göttlichen Kindchen”.


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag

Neu im axel dielmann – verlag: Die Box “Die wilden Slowenen”

Passend zum Gastland-Auftritt Sloweniens bei der Frankfurter Buchmesse veröffentlicht der axel dielmann – verlag die Box “Die wildenen Slowenen”. Bereits jetzt liegen vier Bände mit slowenischer Literatur vor – ein Streifzug durch ein literarisch reiches Land.

Eigensinnige Texte eigenwilliger Autor*innen in einem eigenständigen Verlagsprogramm – das prägt seit nun 30 Jahren das Profil des axel dielmann – verlags Frankfurt am Main. Und was könnte besser zu diesem Programm passen als Sloweniens Literatur und die slowenischen Autor*innen in all ihrer Vielfalt und in ihren Besonderheiten? Zum Gastland-Auftritt Sloweniens auf der Frankfurt Buchmesse 2023 erscheinen in der kleinsten Reihe des Verlags, den einzeln von Hand fadengehefteten Bändchen der 16er-Reihe, 16 Publikationen mit Slowenen. Bereits jetzt liegen die ersten vier Bände vor. Die nächsten Bände werden peu à peu in den nächsten Wochen veröffentlicht. Vollständig wird die »BOX – die wilden Slowenen« dann zur Buchmesse in Frankfurt sein.

Aus der Geschichte und Gegenwart Sloweniens sind bereits diese ersten vier Funkelstücke erschienen:
Mladen Dolar: Vor dem Gericht der Gerüchte, Essay
Aleš Šteger im Gespräch mit Tomaž Šalamun, übersetzt von Matthias Göritz
Slowenische Klassiker, zusammengestellt von Erwin Köstler
Barbara Korun: Der Wolf und die Wunde, Gedichte, Übersetzt von Amalija Maček & Matthias Göritz

Bis zur Frankfurter Buchmesse 2023 folgen:
Texte von Jani Kovačič, Ivan Cankar, Breda Smolnikar, Miha Mazzini, ein zweiter Band zu slowenischen Klassikern und ein Dystopischer Omnibus – diese Bände werden betreut von Erwin Köstler; dazu Texte von Dane Zajc, Jure Detela, Gregor Strniša, in der Obhut von Matthias Göritz; sowie Herman Noordung, Peter Mlakar und Veronika Simoniti.

Außerhalb der 16-er Reihe kommt von Veronika Simoniti zudem ihr großartiger Erzählband »Teufelssprache«, übersetzt von Tamara Kerschbaumer: 18 Erzählungen, die Sloweniens Kultur und Geschichte vom kurzen Küstenstreifen zwischen Portoroz und Ankaran aus zugänglich machen.

Die große, unterhaltsame Lesereise durch Sloweniens wilde Literatur wird begleitet durch ein intensives Veranstaltungsprogramm: In guter Tradition wird es zu jedem der Bändchen einen ANSTICH geben – Verleger Axel Dielmann zeigt bei Erscheinen jedes neuen 16er-Bändchens, wie man mit Ahle und Faden händisch solch ein Bändchen sticht und liest dazu aus den Büchern, erzählt Anekdoten zu der 16er-Reihe und plaudert aus 30 Jahren Verlagsgeschichte, jeweils in einer anderen schönen Buchhandlung.

Über das Veranstaltungsformat Anstiche sprach Axel Dielmann unlängst im Börsenblatt.

17. Juli 2023:
Axel Dielmann zur “BOX – Die wilden Slowenen” im Interview beim Hessischen Rundfunk.


Die bereits vorliegenden Bände im Detail:

Mladen Dolar
Vor dem Gericht der Gerüchte
Ein Essay über Klatsch und Tratsch

Mladen Dolar, 1951 geboren, ist Philosoph, Psychoanalytiker, Kulturtheoretiker und Filmkritiker und zusammen mit Slavoj Žižek and Rastko Močnik Gründer der „Gesellschaft für Theoretische Psychoanalyse“. Er ist einem – bei aller philosophischen Finesse und sprachlichen Wachheit – kaum beizukommenden Thema auf der Spur: dem Gerücht. Indem er in die Gerüchteküchen der Weltliteratur einsteigt, enthüllt er uns einiges über die finstere Lust am Tratsch …


Barbara Korun
Der Wolf und die Wunde
Gedichte

Barbara Korun, 1963 in Ljubljana geboren, erhielt für ihren ersten Gedichtband »Ostrina miline« (Die Schärfe der Milde) 1999 den Preis der slowenischen Buchmesse als bestes Lyrikdebüt. Ihr viertes Buch »Pridem takoj« (Ich bin gleich wieder da) wurde 2011 mit als bester Gedichtband des Jahres ausgezeichnet und erhielt den »Goldenen Vogel« für herausragende Leistungen in der Literatur. Ihre Gedichte sind voll beißendem Spott und gehen tief, wenn es um weibliche Lust, um den Körper und die merkwürdige Transformation ins Tierhafte geht, welche wir alle vollziehen, wenn wir lieben.


Aleš Šteger im Gespräch mit Tomaž Šalamun
Die Fähre


Im Jahr 2007 sprechen der 1973 in Ptuj geborene Autor, Übersetzer und Verleger Aleš Šteger und der 1941 in Zagreb geborene, in Koper aufgewachsene Tomaž Šalamun, einer der bedeutendsten slowenischen Dichter, miteinander. Dieser Austausch über die Begegnung mit Sprache, die Verständigung über dichterische Welten und den Ort der Dichtung in der Welt, dürfen als außerordentlich seltener Glücksmoment gelesen werden: Weil der Moment dieses Gesprächs in größtmöglicher Offenheit und gleichzeitig mit unbeirrbarer Präzision ausgekostet und in zahlreiche historische, gesellschaftliche, poetologische, persönliche Dimensionen hin entfaltet wird.


Erwin Köstler (Hrsg.)
Slowenische Klassiker
Band I


Erwin Köstler, Übersetzer slowenischer Literatur und freier Literaturwissenschaftler, hat für den ersten Band “Slowenische Klassiker” Texte einer Autorin und acht Autoren zusammengestellt, die eine gute Einführung geben in die Vielfalt slowenischer Literatur. Enthalten sind:
– Primož Trubar: Vorrede
– Johann Weichard Valvasor: Die Ehre des Herzogtums Krain
– Urban Jarnik: Andeutungen über Kärntens Germanisierung
– France Prešeren: Von der schönen Vida
– Ivan Cankar: Skizzen
– Zofka Kveder: Ihr Leben
– Ivan Pregelj: Plebanus Joannes
– Rečko Kosovel: Integrale
– Vitomil Zupan: Reise ans Ende des Frühlings


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Verlag

Ulrike Draesner: Die Verwandelten

Ulrike Draesner gibt in ihrem neuen Roman “Die Verwandelten” den Frauen, die im Krieg und auf der Flucht Gewalt erfuhren und erfahren, eine Stimme. Ein beeindruckender Roman, der allerdings auch einiges voraussetzt – insbesondere ein Einlassen auf den spezifischen Stil der Autorin.

„Das Große Schlimme in Alissas Leben, der Lebensborn, hatte seinen Schatten auch auf mich geworfen. Der Lebensborn war unsere schwarze Sonne gewesen.“

Ulrike Draesner, „Die Verwandelten“


Das Thema der transgenerationalen Weitergabe ist immer wieder eines der deutschen Literatur. Wenig verwunderlich: Zwei Weltkriege hinterlassen über Generationen hinweg ihre Spuren in den Menschen. Rund 100 Jahre, so meint eine der Figuren in Ulrike Draesners neuem Roman, dauere es, bis die Kriegstraumata vergessen und vielleicht überwunden sind.

Skulptur in Breslau. Bild von peterart auf Pixabay

Doch noch sind die Menschen nicht verwandelt, noch wirken die grauenhaften Ereignisse nach, wie auch Kinga Schücking, Anwältin für Erbrecht, alleinerziehende Mutter eines Adoptivkindes, erfahren muss. Bei einem Vortrag begegnet sie Doro, Enkelin von Marolf, einst ein deutscher Theatermann in Breslau, der, wie es sich Zug um Zug in diesem voluminösen Roman entblättert, auch Großvater von Kinga ist. Seiner Leidenschaft für das Dienstmädchen Adele entspringt Alissa, Kingas Mutter, die in einem Lebensborn-Heim in Bayern zur Welt gebracht und schließlich von einem nationalsozialistischen Ehepaar adoptiert wird.

Spurensuche in Breslau

Die beiden Halbschwestern begeben sich auf Spurensuche: Doro entstammt der Ehe von Marolf und Else, die dessen Verhältnis zu Adele lange Zeit duldete. Auch Else ist, wie beinahe alle Frauen in diesem Roman, eine Gebrochene und zugleich Starke, eine, die sich immer wieder Lebensverhältnissen anpassen muss, die von der Außenwelt, der Männerwelt, diktiert sind und doch, trotz grauenhafter Erlebnisse im Krieg, einen ungeheuren Überlebenswillen an den Tag legt. Wie ihr Spiegelbild Adele, die zweite Frau in der Breslauer Ménage-à-trois, in der es vor allem darum geht, den bipolaren Marolf durch seine düsteren Phasen zu bringen, geschieht ihr das, was für eine Mutter zunächst als das Schlimmste erscheinen mag: Sie verliert in den Kriegswirren ihre Tochter Reni, die Mutter Doros. Doch bei beiden, sowohl bei Else als auch Adele, ist der Akt des Verlustes zunächst auch ein Akt der Befreiung, der Entlastung von der Sorge um noch einen Menschen: Der Krieg fordert seine Opfer auf vielfältige Weise. Und insbesondere von den Frauen, wie Alissas Adoptivmutter Gerda es formuliert:

„Als ich geboren wurde, hatte Deutschland Kolonien in West-, Süd- und Ostafrika. Die Geschichte unserer Generation ist noch nicht geschrieben. Wir, die Frauen von 1900, wurden in jedem der deutschen REICHE benutzt wie Teig. Durch die Kriege hindurch: geknetet, geknechtet, gebraucht.“

Einen Krieg und zwei Diktaturen überlebt

Eine der Frauen, die das am brutalsten erfahren, ist Reni, die sich zu Kriegsende in Walla verwandelt: Auf der Flucht aus Breslau mit ihrer Mutter Else mehrfach vergewaltigt, landet sie ausgehungert wieder in der Heimatstadt, um dort von ihren Eltern, die nach Ostdeutschland fliehen, im Stich gelassen zu werden. Sie nimmt eine polnische Identität an, schlägt sich durch, hat am Ende Nationalsozialismus, Kommunismus und allen anderen Ismen überlebt. Für mich die stärkste Frauenfigur in diesem vielstimmigen Buch der Frauen.

„Das polnische »wojna« hieß in der Kaninchensprache »Krieg«, aber klang nach einem ihrer anderen Wörter, »weinen«. Walla sagte, das sei sehr wahr. Im Krieg stecke das deutsche »Kriegen«, und durch das Polnische auch das »Weinen«, so waren die Wörter »wojna« und »Krieg« miteinander verbunden. Beide wirkten wie Lawinen. Das ausgesprochene Wort raste auf einen herab, riss Schutt und Staub mit sich.“

Diese Furcht vor der Lawine lässt diejenigen, die Krieg erfahren haben, oft verstummen. Ich kenne das aus der eigenen Familie: Fragten wir Enkel die Großväter und Großmütter nach ihren Erfahrungen in dieser Zeit, trat Stille ein, nahm man uns zur Seite und mahnte: „Das ist nichts für Kinder.“ Ulrike Draesner findet dafür ein geniales Wort: „Nebelkinder“ sind sie, Kinga und Doro, die von ihren familiären Verflechtungen nichts wissen, die das Schweigen ihrer Mütter zunächst suchend im Nebel tasten lässt.

„Menschen atmeten tief ein, öffneten die Lippen und heraus kamen ein, zwei Sätze, die sich niemals veränderten. Sie wurden mit einem falschen Lächeln gesagt, »es war …«, »wir schafften es …«, brachen ab. Die Gesichter klafften an sich selbst vorbei, die Münder wurden geschlossen, doch gingen nicht mehr ganz zu, und die Sätze, die sich nach außen kämpften, wurden durch die ständige Wiederholung zu Lügen.“

Auch Walla hüllt sich lange in Schweigen, überschweigt das Unsagbare. In mehreren Rezensionen wurde gewürdigt, dass es Draesner schaffe, die Grauen des Krieges darzustellen, ohne auf explizite Gewaltdarstellungen zurückgreifen zu müssen. Ein Urteil, dem ich mich anschließe: Was Walla als junge Frau durchleben muss, das Fürchterliche, wird deutlich genug in der Erzählung. Ihr Schweigen ist zudem Selbstschutz: Ihre neue, polnische Identität ist für ihr Überleben wichtig, die deutsche Vergangenheit muss in dem neuen Staat verleugnet werden.

Das Schweigen überwinden

Erst Doros Beharrlichkeit lüftet den Nebel, bricht das Schweigen. Sie und Kinga sind die Nachgeborenen, die die Hülle aufbeißen:

„Ihre Geschichten waren wie die Kätzchen, die aus der Nachbarkatze purzelten, taub und blind, umschlossen von einer Hülle, die aufgebissen werden musste. Nur dass niemand kam und biss.“

Mit Doro gibt Ulrike Draesner diesen Frauen ihre Sprache zurück, bis hin zu den antiken Vorbildern in den Metamorphosen:

„Sie wurden zu Bacchantinnen. Was das war, verstand ich damals nicht und verstand es sofort.
Es war die Gewalt-Zurück.
Es war Die-Frauen-Zusammen.
Das Sprechen der stummen Zungen.“

Mit dem Sprechen beginnt die Zurück-Verwandlung in diesem multiperspektivischen, klug konstruierten, sprachgewaltigen Buch.

Der ganz spezifische Draesner-Sound

Diese Sprachgewalt, die Sprachverliebtheit ist zugleich Draesners Markenzeichen, aber auch mein Kritikpunkt an „Die Verwandelten“: Mit ihrer „Grammatik der Gespenster“ durch die Lektüre einiger ihrer Romane vertraut (hier die Besprechung von “Schwitters”), war ich entsprechend eingestimmt auf die Lektüre ihres neuen Romans, wusste, es bedarf des konzentrierten, aufmerksamen Lesens und des Einlassen-Könnens in eine Sprache, die von literarischer Kunst zeugt. Aber, bis sich auch der Nebel über der Erzählung lichtet, war es diesmal für mich ein Ringen: Durch die mehrfachen Wechsel der Erzählperspektiven, die Vielstimmigkeit, das Vor- und Zurückschreiten in den zeitlichen Ebenen brauchte es seine Zeit, um in die Erzählung an sich zu finden. Manche Formulierung für meinen Geschmack zu sehr „l‘art pour l’art“, den Erzählfluss in meinen Augen eher behindernd denn erleuchtend. Und trotz der Vielstimmigkeit: Durch die Stimme jeder Frau hört man Ulrike Draesner, haben Doro, Kinga, Else, Alissa, Walla, Gerda und die anderen einen ähnlichen „Sound“.

Und dennoch: Das Ringen lohnt. Und während der Roman einen zunächst eher auf einer intellektuellen Ebene abholt, packt er einen mit seinem Fortschreiten auch emotional: Insbesondere, als die Stimme von Reni alias Walla mehr und mehr Raum erhält, als die Frauenfigur, die ein Schlüssel in dieser Geschichte ist, ihr Schweigen bricht und greifbare Gestalt annimmt. Walla, deren Schicksal auch exemplarisch steht für das vieler Frauen, prägt diesen beeindruckenden Roman bis zu dessen Ende.


Bibliographische Angaben:

Ulrike Draesner
Die Verwandelten
Penguin Verlag, 2023
ISBN: 978-3-328-60172-2

RICHARD PLANT: Die Kiste mit dem großen S

Richard Plant ging 1933 ins Exil. Als schwuler Jude hatte er unter den Nationalsozialisten nichts Gutes zu erwarten. In der Schweiz schrieb er den Kinderroman “Die Kiste mit dem großen S”, nun wiederentdeckt im Gans Verlag.

Richard Plant: Die Kiste mit dem großen S

1933: Freunde raten Richard Plaut, Deutschland zu verlassen. Der 1910 in Frankfurt geborene Sohn eines Arztes und sozialdemokratischen Stadtrats, jüdisch und schwul, hat unter den Nationalsozialisten viel zu befürchten. Er geht in die Schweiz und beginnt dort, parallel zu seinem Studium an der Universität Basel, Detektivromane und Kinderbücher zu schreiben, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.

1936 erscheint die „Die Kiste mit dem großen S“. Jahrzehnte später sagt Richard Plaut, der sich nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten 1938 und der Zuerkennung der amerikanischen Staatsbürgerschaft 1945 Richard Plant nennt, dass in diesen Roman subtil eigene Erfahrungen aus dem Schweizer Exil eingeflossen seien: Einsamkeit, Fremdsein, erste Liebe.

Der Roman erzählt von den vier Kindern der Familie Baumann. Die Eltern sind zur Kur, da wird auch noch die Haushälterin krank: Plötzlich sind die Kinder ganz auf sich gestellt. Da geschieht Unvorhergesehenes und auf die Kinder kommt eine große Herausforderung zu. Das Buch ist ein spannend und lustig erzählter Kinderkrimi, Coming-of-Age-Roman, die Geschichte einer Jungensfreundschaft oder auch schwule Lovestory. Die erste Liebe wird durch die Geschehnisse auf eine harte Probe gestellt.

Zum Buch:

Die Neuausgabe im Gans Verlag beinhaltet über 30 Illustrationen des Buchillustrators Leo Meter, den Richard Plants Schwester Elisabeth im Exil geheiratet hatte. Sie waren in der niederländischen Ausgabe von 1937 enthalten. Außerdem wird das Buch ergänzt durch ein Geleitwort von Barbara Meter (Filmemacherin, Amsterdam) und eine Kurzbiografie Richard Plauts von Raimund Wolfert.

Zum Autor:

Richard Plant (zuvor Richard Plaut) wurde 1910 in Frankfurt am Main geboren. Er floh 1933 in die Schweiz, floh 1938 weiter in die USA. Bekannt wurde er durch sein Buch „Rosa Winkel. Der Krieg der Nazis gegen die Homosexuellen“, das 1991 auf Deutsch erschien. Richard Plant starb am 3. März 1998 in New York City.

Link zur Leseprobe


Stimmen zum Buch:

“Man gerät beim Lesen in eine abenteuerliche Zeitreise und kann sich überlegen, wie so etwas heute aussehen könnte, im Zeitalter von Handys und ganz anderen Möglichkeiten. Kinder bleiben Kinder – und Abenteuer eben Abenteuer. Schön, dass der Gans Verlag sich um diese verschütteten Kostbarkeiten jüdisch-deutschsprachiger Autorinnen und Autoren kümmert.” – Andrea Wanner, Titel kulturmagazin

“Aus heutiger, insbesondere kindlicher Sicht war das beginnende 20. Jahrhundert eine sehr skurrile Welt. Und genau diese wird in „Die Kiste mit dem großen S“ in ihrem Alltag authentisch wiedergegeben. Eine reizvolle und mutige Idee des Gans Verlags.” – Claudia Grothus, zugetextet.com

“Ungeachtet des Alters des Textes funktioniert der Roman als Detektiv- und versteckte Liebesgeschichte.” – Michael Fassel, literaturkritik.de


Richard Plant – Die Kiste mit dem großen S

Gans Verlag, April 2023
210 Seiten, Fadenbindung, Klappenbroschur
Buchreihe: Historische Kinder- und Jugendbücher jüdisch-deutschsprachiger Autorinnen und Autoren, Band 3
29,90 Euro
ISBN 978-3-946392-30-9

https://www.gansverlag.de/


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Gans Verlag.