Buchmesse Leipzig: Messe lebt, Buch ist tot?

Die Leipziger Buchmesse überraschte mit einem Besucheransturm. Das stärkt hoffentlich vor allem den unabhängigen Verlagen den Rücken: Denn die Zeiten sind schwierig für die kleinen, engagierten Buchmacher.

Vor vielen Jahren, als ich das erste Mal vor dem Presseeingang zur Leipziger Buchmesse in der Schlange stand, gestand ich meinem Nachbarn in der Reihe, wie sehr ich mich auf die vielen Lesungen freuen würde. Jung und dumm, wie ich da noch war. Er, ein bereits etablierter Protagonist in diesem Zirkus, schaute mich irritiert an, die High-brow wurde noch etwas higher und meinte nur knapp: “Profis gehen hier doch nicht auf Lesungen.”

Jetzt, Jahre später, musste ich wieder an Mr. High-brow denken – er ist nicht mehr aktiv, aber andere dieser Art wachsen nach. Und dennoch: Ich mag mir die Lust speziell an der Leipziger Buchmesse, die Vorfreude und auch die Energie, die die Begegnungen dort auslösen, nicht nehmen lassen. Und dieses Mal, nach langer Pause und insbesondere nach den Schwanengesängen im vergangenen Jahr, als manch einer begann, den Sinn zweier deutscher Buchmessen im Jahr in Frage zu stellen, war die Euphorie besonders groß. Nicht nur bei mir, glaube ich. Das war – ganz besonders in der Halle 5, wo viele unabhängige Verlage zu finden sind – einfach greifbar.

Buchmesse meldet überraschend hohe Besucherzahlen

Die Messe, so meldet es die Tagesschau, ging mit weitaus mehr Besuchern zu Ende, als erwartet wurde: Das lässt hoffen! Die Messe meldet 274.000 Besucher. Insbesondere für das ganze Spektrum der Indieverlage ist die Leipziger Buchmesse enorm wichtig – hier, bei dieser Publikumsmesse, erhalten sie Sichtbarkeit, kommen in Kontakt mit ihren Leserinnen und Lesern, können ihre Progamme und Programmatik erläutern und nicht zuletzt wandern auch etliche Bücher über den “Ladentisch”. Und in diesen Zeiten, in denen die kleinen Verlage vor enormen Herausforderungen stehen, die Produktionskosten für Bücher sich beinah verdoppelt haben, ist dieser Kontakt ganz besonders wichtig.

“Das ist einfach großartig hier, wie viele Menschen interessiert an den Stand kommen”, zeigte sich Andrea Richter bei der Edition Faust begeistert von der speziellen Leipziger Atmosphäre – der Verlag war einer von mehreren, die ich auch in der Pressearbeit betreue, die nun erstmals bei dieser Frühjahrsmesse dabei waren.

Leipziger Buchmesse 2023 aufgenommen am Donnerstag (27. April 2023) in Leipzig. Foto: Leipziger Messe/Jens Schlueter

Netzwerk Schöne Bücher mit origineller Aktion

Mr. Highbrow seufzte seinerzeit leidvoll, weil man auch als Pressemensch nicht umhin kam, mit den Besucher*innen der Manga-Comic-Con in Berührung zu kommen. Und auch heuer gab es wieder die eine oder andere Stimme, die bemäkelte, dass man in Halle 1 jede Menge Gimmicks, aber kein Buch zu sehen bekäme … zugleich aber wird beklagt, “dass die Jugend” nicht mehr liest. Nur: Im Elfenbeinturm, so ganz unter sich, bei gepflegten Diskussionen, löst man keine Krise, gewinnt kein neues Publikum. Offensiv und pfiffig ging beispielsweise das Netzwerk Schöne Bücher die ganze Geschichte an: Interessierte bekamen ein Stickeralbum und konnten bei den beteiligten unabhängigen Verlagen die jeweiligen Sticker einsammeln, fleißige Sammler bekamen eine Überraschung. “Dadurch kamen durchaus auch Leute an den Stand und interessierten sich für die Bücher, die wir sonst nicht erreichen würden”, erzählte Annette Stroux von der STROUX edition, auch erstmals dabei.

Literaturblogs und Literaturvermittler

Vielleicht sind auch dies neue Wege, die jüngere Menschen wieder zum Lesen und zum Medium Buch bringen könnten. Die von manchen verschmähte “Eventisierung” der Literatur. Anders, als mit Offenheit und Offensiven geht es jedenfalls nicht – und was daraus entstehen kann, das zeigt sich gerade auch an den vor zehn Jahren im Feuilleton noch häufig belächelten “Blogs mit Kaffeetassen”: Nicht wenige dieser Literaturvermittler haben auf ihren Social Media-Kanälen inzwischen eine Reichweite, die staunen lässt. Es braucht alles: Die fundierte, kenntnisreiche Kritik und die Begeisterung und Leidenschaft von buchaffinen Quereinsteigern, es braucht die literarische Auseinandersetzung mit einem Werk ebenso wie die literarische Aktion.

Unstrittig ist dennoch, dass die Leser*innenzahlen zurückgehen, viele kleine Verlage nur auf Messers Schneide existieren und zugleich die Möglichkeiten der Sichtbarkeit immer weiter zurückgehen – viele der öffentlich-rechtlichen Sender haben die Plätze für Literatur gekappt und gekürzt und das Feuilleton der Printmedien, traditionell bei vielen Zeitungsverlegern nicht so beliebt wie der publikumsträchtigere Sport, schwächelt. Der schwindende Platz für Literaturkritik wirkt sich vor allem negativ auf die kleinen Verlage aus – kein Feuilleton kann oder will es sich leisten, einen Stuckrad-Barre nicht zu besprechen, anderes fällt hinten durch.

Wege aus der Krise

All die Entwicklungen und auch die Klagen darüber sind nichts Neues, nun aber verschärft durch die Pandemie, Lockdowns, gebrochene Lieferketten, Energiekrise usw. Doch schon vor den Krisenjahren führten unter anderem das “Tübinger Memorandum” und ähnliche Vorstöße immerhin zur Einführung des deutschen Verlagspreises, um für die lebendige Szene der deutschen Kleinverlage zumindest einen Weg staatlicher Förderung zu eröffnen. Obwohl die Vergabepraxis nicht unumstritten blieb, scheint der Ruf nach mehr staatlicher Förderung derzeit zumindest öffentlich nicht sehr virulent – vielleicht gibt es aber einfach auch der Krisen zu vieler. Dennoch: Ein Blick auf Länder wie Österreich (#meaoiswiamia) und die Schweiz zeigen – die Pflege des Kulturguts Buch wäre durchaus noch ausbaufähig.

Dinçer Güçyeter und mikrotext: Hoffnungsträger

Es war daher nicht nur der literarische Gehalt von “Unser Deutschlandmärchen”, der bei der Preisverleihung des Leipziger Buchpreises zu einem Gänsehautmoment, Standing ovations und sogar zu fließenden Tränen im Publikum führte – diese Emotionalität habe ich bislang noch bei keiner Preisverleihung so erlebt. Mir schien das beinahe wie der Befreiungsschrei einer “Branche in der Branche” (die unabhängigen Kleinverlage folgen eben doch ganz anderen Gesetzen als die Großkonzerne), die für einen Moment all die Sorgen vergessen konnte: Da haben es zwei – Autor wie Verlegerin – geschafft, die für all das stehen, was auch viele andere unabhängige Verlage ausmacht: Leidenschaft für gute Texte, Durchhaltevermögen, Beharrlichkeit, aber vor allem auch Offenheit, Offenheit gegenüber neuen Wegen im Vertrieb und Marketing, Offenheit gegenüber Menschen – die anderen Nominierten auf die Bühne zu holen, den Preis als gemeinsamen Preis aller zu feiern: Das ist es, was die Indie-Szene prägt.

Hildegard Keller & Christof Burkard: Frisch auf den Tisch

Hildegard Keller und Christof Burkard servieren Weltliteratur besonders schmackhaft – mit eigens für jeden Schriftsteller passend entworfenen Rezepten.

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Bild von Светлана Бердник auf Pixabay

„Diese in allen Wassern gewaschenen Nudeln müssen 20 Minuten über leichtem innerem Feuer des Lesers aufgesetzt werden. Die Mahlzeit ist nahrhaft wie ein Märchen.“

Walter Benjamin

Essen und Lesen gehen nicht nur phonetisch gut zusammen. Beides hat im besten Falle mit Genuss zu tun, beides schafft Pausen vom Alltag, bringt Zeiten der Muse. Ein gutes Buch macht meist Appetit auf mehr. Nicht umsonst spricht man von Lesefutter. Und die Gerüche und Gewürze eines leckeren Essens können einen für kurze Zeit in andere Länder und Welten entführen – etwas, das auch beim Kopfreisen mit guter Literatur passiert.

Dass Literatur auch durch den Magen geht, das beweisen die Maulhelden: Hildegard Keller, die Literaturwissenschaftlerin und Autorin, die Lesenden unter anderem durch den Literaturclub im Schweizer Fernsehen und vom Bachmannpreis bekannt sein wird, bildet mit ihrem Ehemann, dem Juristen Christof Burkard, in der Küche und auf der Bühne ein kongeniales Gespann.

Hinter die Kulissen, sprich auf den heimischen Herd des Paares, durfte das „Tagblatt“ blicken und berichtete:

“Ihre Aufgabenteilung: «Hildegard ist das literarische Gewissen», sagt Christof Burkard, «Christof ist der Menü- und Geschichtenerfinder», ergänzt Hildegard Keller. Gekocht wird aber nicht einfach, was in den Romanen gegessen wird, die beiden übersetzen Werke und Autoren in kulinarisch-literarische Performances.”

Etliche der kurzen Streifzüge durch die Literatur und die leckeren Rezepte, die davon inspiriert sind, veröffentlichten Keller & Burkard als Kolumne im „Literarischen Monat“. Sie gründeten zusammen 2019 auch die „Edition Maulhelden“, deren zweiter Titel „Frisch auf den Tisch“ eben nun jene „Weltliteratur in Leckerbissen“ serviert, ergänzt durch drei neue, weitere Gänge mit Max Frisch, Rosa Luxemburg und Walter Benjamin sowie einem ausführlichen Küchengeplauder der beiden Herausgeber.

Kolumnen um die großen Hechte der Literatur

Die Kolumnen drehen sich also um die großen Hechte der Weltliteratur und Kultur: Um den oben zitierten Walter Benjamin, viele Schweizer Autoren wie Friedrich Glauser, Gottfried Keller und Max Frisch sind vertreten, aber auch Ingeborg Bachmann, Hannah Arendt und Hildegard von Bingen haben ihren Auftritt an der literarisch-kulinarischen Tafel.

Ein abwechslungsreiches Menü, das den Leserinnen und Lesern da serviert wird, die einzelnen Gänge ganz unterschiedlich gewürzt: Mal mit einer dezenten Prise Ironie wie bei Max Frisch, mal mit Gewürzen und Gerüchen aus Nordafrika angereichert wie bei Glausers Taboulé oder einem Dessert, das wie ein Gedicht ist, für Ingeborg Bachmann. Allerdings eines, das sowohl Könnerschaft als auch Mut erfordert:

„Und wehe, wenn der Ofen während des Backens geöffnet wird, scheint Ingeborg Bachmann zu flüstern. Profiteroles sind Poesie pur und werden nicht ganz angstfrei hergestellt. Man kann an ihnen scheitern.“

In den locker-luftig geschriebenen Essays erfährt man auch allerlei Neues zu Leib- und Magendichtern. Von Robert Walsers Liebe zur Wurst ahnte ich bislang nichts. Wie man dagegen Kartoffelstock zu essen hat, das weiß man vielleicht bereits aus Kellers „Seldwyla“. Meine Lieblingsstelle in diesem Buch jedoch ist die, mit der Max Frisch ganz vortrefflich charakterisiert wird:

„Wie bringen wir diesen Frisch auf den Teller? Das Ringen mit der Form und der Kantigkeit des Lebensbei gleichzeitigem Hoffen auf die wahre Essenz lässt nur ein Gericht zu: Die gefüllten Teigtaschen à la Max – im Volksmund Ravioli – sind nichts anderes als Architektur auf dem Teller. Sie bilden ab, wie Faber sein Leben durch diese ziemlich schiefe Liebe erneuern will. Wilder Inhalt ist gebändigt im bürgerlichen Rechteck und schwimmt schließlich doch in einer schönen Brühe.“

Guten Appetit!

Übrigens: Das Buch im handlichen Format ist sehr schön gestaltet und ist mit seinen vielen liebevollen Details – freigestellten Zitaten, Illustrationen von Hildegard Keller und den Rezepten von Christof Burkard – etwas für literarische Feinschmecker.


Informationen zum Buch:

Hildegard Keller & Christof Burkard
Frisch auf den Tisch. Weltliteratur in Leckerbissen
Edition Maulhelden, Zürich, 2020
14×21,5 cm, gebunden, zweifarbiger Druck, Rezeptseiten in Farbe, mit bedrucktem Vorsatz, 13 Zeichnungen in Farbe, mit Lesebändchen, 144 Seiten
24,80 CHF, 21,— € (D), 21,50 € (A)
ISBN: 978-3-907248-01-0

Lesezeichen von: Urs Widmer

Der schönste Ort der Welt: Für Lesende zweifelsohne die Buchhandlung. Aber ohne belesenen Händler ist sie ein Körper ohne Seele, frei nach Cicero.

Bild von Lubos Houska auf Pixabay

“Du kletterst auf Leitern und Stühle, um unsre Werke in die Hände der Kunden zu legen. In deinem Büro hängt ein Poster, auf dem steht, was der moderne Buchhändler von heute nicht tun darf, wenn er am Ball bleiben will. Du aber stolperst über jeden Ball, Buchhändler! Du liebst deine Leitern und Stühle. Da sitzt du und liest unsre langsam vergilbten Erstlinge. Für dich wollen wir ein Buch schreiben, das, statt fast niemand, gar niemand kauft, das kannst du am Lager behalten ein Leben lang. Wir kommen dich jede Woche besuchen, du kochst einen Tee, wir bringen einen Schnaps mit, und dann erzählst du uns, wie du einmal, 1933, ein Buch schreiben wolltest, das die Welt von damals auf einen Schlag verändert hätte.”

Urs Widmer

Was macht den “schönsten Ort der Welt” eigentlich zum schönsten Ort der Welt? Natürlich, selbstverständlich, ohne Zweifel sind es die Bücher. Ein Raum ohne Bücher, sagte schon Cicero, das sei ein Körper ohne Seele. Dann müssten Buchhandlungen ziemliche seelenvolle Orte sein. Aber manche, die Paletten über Paletten an Neuerscheinungen anbieten, die wirken einfach seelenlos.
Denn es sind nicht nur die Bücher, die Geschichten erzählen. Es sind auch die Menschen, die mit diesen Büchern leben und handeln. Eine Buchhandlung wird zum schönsten Ort der Welt, wenn man dort diese eine Buchhändlerin trifft, den Buchhändler, die aus jedem Buch, das sie verkaufen, eine Geschichte machen. Die wie Seelenverwandte wirken, wie alte Freunde und die dir das Gefühl vermitteln, mit jedem Buch, das du kaufst, nimmst du einen Schatz mit nach Hause.

Geschichten über Menschen in Buchhandlungen – über Buchhändler und ihre manchmal etwas seltsamen Kunden – vereint ein Sammelband aus dem Diogenes Verlag, aus dem auch das Zitat von Urs Widmer entnommen ist. Autorinnen und Autoren wie Ingrid Noll, George Orwell, Patricia Highsmith, Martin Suter erzählen spannend, anrührend und vergnüglich aus dem Tat- und Lebensort Buchhandlung. Eine schöne Auswahl für Bibliophile und Bibliomanen, getroffen von Martha Schoknecht.

Informationen zum Buch: “Der schönste Ort der Welt”

AEGIS: Der Buchhändler als Lotse, Ratgeber und Verführer

Ein Plädoyer für unabhängige Buchhandlungen: Rasmus Schöll zeigt bei “Aegis” in Ulm, was ein guter Buchhändler vermag.

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Bücher bieten Vitamine für das Hirn – liebevoll arrangiert werden bei Aegis auch die antiquarischen kleinen Kostbarkeiten. Alle Bilder: Birgit Böllinger

„Das Geheimnis unseres Erfolges war, dass wir die Buchhandlung zu einem magischen Ort machen wollten, der sich von anderen abhob und in dem schon der Kauf eines Buches zu einem aufregenden Erlebnis wurde. Das war von Anfang an unser Ziel, und je mehr wir uns in die Idee vertieften, desto mehr traf es zu. (…) Und so wurde der Laden – nicht weil wir uns das so ausgemalt hatten, sondern weil Bücher zu verkaufen einfach etwas Persönliches ist – zu einem sehr persönlichen Ort.“

Madge Jenison, „Sunwise Turn“


Neulich war ich mit einer Bekannten beim Bummeln in der Fußgängerzone einer bayerischen Großstadt. Die Fußgängerzonen sind austauschbar, die Läden überall dieselben. Wir kamen auch an jener Buchhandelskette vorbei, die mittlerweile in jeder Fußgängerzone zu finden ist. Massen von Büchern, gestapelt, in die Regale gepresst, Lagerhaltung. Kein Geist, der da atmen kann. Meine Bekannte sah mich an und seufzte: „Ehrlich, wenn ich das sehe, habe ich schon gar keine Lust mehr, was zu lesen.“

Sie brachte damit etwas zum Ausdruck, was der Börsenverein des Deutschen Buchhandels als einen Kern der Krise sieht:

„Bücher sind jedoch häufig aus dem öffentlichen Diskurs und persönlichen Umfeld verschwunden. Der Austausch über Bücher fehlt, Menschen sind weniger involviert in Buch-Themen und fühlen sich überfordert vom großen Titelangebot. Die Folge: Die Menschen finden am Buchmarkt keine ausreichende Orientierung mehr.“

(Quelle: https://www.boersenverein.de/de/portal/Presse/158382?presse_id=1477382)

Eine Untersuchung über den Buchmarkt führte nun, pünktlich zur Frankfurter Buchmesse, zu Unruhe: 6,4 Millionen potentielle Leser sind in den vergangenen Jahren entschwunden, die Bücherkäufe rückläufig, der Umsatz schrumpft. Aber dennoch werden immer mehr Bücher produziert (von „verlegen“ mag ich bei manchen Titel schon gar nicht mehr sprechen).

Die Verlage zur Selbstbeschränkung aufzufordern, ist wohl naiv und sinnlos. Aber seien wir doch ehrlich: Es wird einfach zu viel veröffentlicht, neu aufgelegt, das Rad dreht sich immer schneller, ein „meisterhaftes Debüt“ jagt das nächste, die gehypten Bücher von gestern landen heute als Remittenten auf dem Tisch der Sonderangebote. In der Masse geht das Gespür für das „besondere“ Buch, für die talentierte Autorin, für die literarische Qualität verloren. Ich meine damit nicht, dass man den Menschen nur noch Joyce und Proust verordnen sollte – Literatur gehört auch nicht in einen Elfenbeinturm, nicht einer literarisch gebildeten Elite vorbehalten. Aber etwas weniger Seichtigkeit, etwas mehr Konzentration auf einige herausragende Titel, die diesen oben genannten Diskurs über viele Schichten hinweg anstoßen könnten, das täte meiner Meinung nach dem Buchmarkt gut. Das Buch wieder zu etwas Besonderem machen – ein blauäugiger Wunsch, ich weiß.

Wer angesichts der Flut an Büchern nicht weiter weiß, der gründe einen Lesekreis – oder wende sich an einen Buchhändler seines Vertrauens. In einer Zeit der Massenproduktion kann er der Lotse sein durch den Bücherdschungel, Orientierung geben, Empfehlungen aussprechen oder den Kunden auch sanft in eine neue Richtung stupsen. Horizonte öffnen. Und im besten Fall wird so das Buch zu einem persönlichen Erlebnis,  die Buchhandlung zum magischen Ort, an dem man über das Buch, über Gott und die Welt diskutieren kann.

2018_Ulm (29)Einer von diesen, die für das Medium Buch brennen, das ist Rasmus Schöll aus Ulm. Vor wenigen Monaten übernahm der 31jährige Buchhändler die Traditionsbuchhandlung „Aegis“ in der Münsterstadt: 1946 eröffnete Ernst Gustav Siegfried Bauer, der im Nationalsozialismus als Widerstandskämpfer jahrelang unter Beobachtung stand, in der Ulmer Altstadt, nahe des Münsters, eine Buchhandlung mit Verlag und Antiquariat. Sein erster Lehrling schrieb Literatur- und Verlagsgeschichte: Siegfried Unseld, der 1959 den Suhrkamp Verlag übernahm. An ihn erinnert auch heute noch einer seiner Briefe, der gerahmt bei Aegis hängt und von der Belesenheit dieses Verlegers und Buchhändlers spricht. Ernst Joachim Bauer, Sohn des Aegis-Gründers, betrieb Laden, Antiquariat und den dazu gehörigen Verlag seit den 1970er Jahren – nun aber, mit 70, wollte er sich zur Ruhe setzen. Zumindest teilweise: Leser bleibt man schließlich immer. Und zudem wird die einst als Filiale in Laichingen (Alb-Donau-Kreis) gegründete Außenstelle zum Stammgeschäft für Bauer, der dort auch lebt.

Eine Buchhandlung übernehmen in der heutigen Zeit? Wo alle Welt von der Krise spricht, wo der Onlinehandel einen großen Teil des Geschäftes dominiert, wo die Ketten vor allem von Bestsellern und Umsätzen mit Artikeln rund ums Buch leben? Wer Rasmus in seinem Laden erlebt, der ahnt: Da muss man sich wohl keine allzu großen Sorgen machen. Da treffen händlerische Kompetenz und literarische Leidenschaft zusammen. An jenem Samstagmorgen, an dem ich „Aegis“ besuche, ist von Krise jedenfalls wenig zu spüren: Die Ulmer schlendern vom Wochenmarkt in der Breiten Gasse mit ihren schönen Läden vorbei, machen Halt im Buchladen, suchen, schnuppern und wollen vor allem auch eins: Gute Beratung. Eine Dame war angetan von einer Empfehlung des Literarischen Quartetts und sucht nun etwas Ähnliches. Eine junge Mutter mit Anhang geht zielstrebig in die Kinderecke. Ein mittelalterlicher Herr weiß eigentlich genau, was er will – aber dann bräuchte er doch noch ein Geschenk, und weil ihm der Tipp zusagt, kauft er das Buch gleich doppelt.

Die beste Kundenbindung, das zeigt sich hier, das ist die passende Beratung: Wenn jemand von einem Lesetipp begeistert ist, dann kommt er wieder. Und Rasmus und seine drei Mitarbeiterinnen sowie Florian L. Arnold, mit dem Rasmus den Verlag „TOPALIAN & MILANI“ betreibt, und der ebenfalls einen Tag in der Woche bei Aegis zu finden ist, wissen, was sie empfehlen: Im Laden steht fast nichts, was sie nicht selbst gelesen haben. “Aber es geht uns nicht darum, die Menschen zu bevormunden – wir haben zwar keinen Sarrazin im Laden, um ein Beispiel zu nennen, aber wer das Buch bei uns bestellen will, bekommt es“, sagt Rasmus. Und natürlich gibt es die Tische mit den Longlist- und Bestseller-Büchern, die gerade im Gespräch sind. Im Geschäft selbst jedoch ist auch viel Fläche dem vorbehalten, was Lesern eben nicht von den einschlägigen Listen entgegenspringt: Viel Literatur aus unabhängigen, kleinen Verlagen, eine Philosophie-Ecke, ein Platz für wunderschöne Künstlerbücher.

Schon räumlich unterscheidet sich „Aegis“ von den Bücherkaufhallen der Fußgängerzonen: Verwinkelt schlaucht sich der Laden in der ersten Ebene um mehrere Ecken. In jeder von diesen sind liebevolle gestalterische Details zu finden, die das Leserherz optisch ansprechen. Während im Erdgeschoß neue Bücher zu finden sind, taucht man im ersten Stock in eine ganz andere Welt ein – durch eine handgemachte Falttür aus Holz betritt man Räume, die den Geist einer anderen Zeit zu atmen scheinen. Hier ist das Antiquariat zu finden. „Durch den Onlinehandel sind ja vor allem die Antiquariate aus unseren Städten verschwunden“, sagt Rasmus. „Man merkt das, wenn man jüngere Leute in der Buchhandlung hierher führt – die haben noch nie ein Antiquariat gesehen, für die ist das ein Erlebnis.“

Der Buchkauf als Erlebnis, wie von Madge Jenison beschrieben: Wo es noch Buchhändler wie Rasmus gibt, ist das noch möglich. Da wird der Buchhändler zum Lotsen, der jedem Kunden den passenden Tipp zu geben mag. Da wird er zum Orientierungsgeber, wenn einen die Auswahl erschlägt. Und manchmal wird er auch zum Verführer – kaufen wollte ich bei meinem Aegis-Besuch „eigentlich“ nur zwei Bücher. Verlassen habe ich den wunderbaren Laden mit einem vollen Rucksack.

Mein Plädoyer lautet: Geht in eure Buchhandlung vor Ort, lasst euch anstecken von Leidenschaft und Belesenheit. Lernt neue literarische Länder kennen – ein guter Buchhändler macht das möglich.

Übrigens: Bald ist wieder die Woche der unabhängigen Buchhandlungen. Eine tolle Aktion. Und wer in und um Ulm herum ist, sollte da – aber auch zu jeder anderen Woche des Jahres – unbedingt einen Abstecher zu „Aegis“ machen.

Kontakt und Information:

Der Buchladen Aegis – https://aegis-literatur.de/

Der Verlag – http://www.topalian-milani.de/

Die Woche der unabhängigen Buchhandlungen – https://wub-event.de/

Literatur für Menschen, die nicht mehr selber lesen können

Damit die Fülle der Literatur auch blinden und sehbehinderten Menschen zugänglich ist, gibt es in Bayern seit 60 Jahren die Hörbücherei.

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Bild von TheoLeo auf Pixabay

Guten Sachen darf man getrost ein breiteres Forum geben. Und deshalb heute hier ein Beitrag, der mich beruflich als Pressetext erreicht hat – vielleicht trägt das zu einem Stück barrierefreiem Lesen bei.

Seit nunmehr 60 Jahren bietet die Bayerische Hörbücherei für Blinde, Seh- und Lesebeeinträchtigte e. V. Hörbücher aus sämtlichen Bereichen der Literatur zur kostenlosen Ausleihe an. Alle Menschen, die aufgrund ihrer Seh- oder Lesebeeinträchtigung nicht mehr selber lesen können, erhalten hier die Möglichkeit, ihre Bücherwünsche zu erfüllen, ihren Informationsbedarf zu decken und so weiterhin gleichberechtigt am kulturellen Leben teilzunehmen.

Gegründet wurde die Bayerische Hörbücherei e. V. – damals noch als Bayerische Blindenhörbücherei e. V. – im Jahr 1958 durch den Bayerischen Blindenbund, den Bund der Kriegsblinden Deutschlands, Landesverband Bayern, sowie unter Mitwirkung der Bayerischen Hauptfürsorgestelle. Am Eröffnungstag – 2. Januar 1959 – zählte die Bayerische Blindenhörbücherei 300 Nutzer und 200 Ausleihtitel, die auf Tonbänder vervielfältigt und mit der Post an die Hörer verschickt wurden.

Hörbücher bieten Unterhaltung und Information

Die technischen Meilensteine der folgenden Jahrzehnte beförderten ebenfalls die Entwicklung der Hörbücherei: War es in den 1970er-Jahren die Umstellung vom Tonband auf die praktische Kompaktkassette, so kam ab 2002 mit der MP3-CD der Durchbruch ins digitale Zeitalter. Seit 2016 ist neben dem Versand der CDs der Download der Hörbücher auf jedes gewünschte Endgerät selbstverständlich.

Das Angebot der Hörbücher ist im Laufe der Jahre auf 38.000 Titel angewachsen, die mit reger Betriebsamkeit von rund 6.000 Nutzern in ganz Bayern ausgeliehen werden. Denn Hörbücher bieten Unterhaltung, Information und vielfach Trost in einer schwierigen Lebensphase. Mit Hörbüchern können die betroffenen Menschen weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.

Die Bayerische Hörbücherei für Blinde, Seh- und Lesebeeinträchtigte

Das Hörbuchangebot umfasst derzeit über 38.000 Hörbücher aus allen Bereichen der Literatur und wird laufend erweitert. Ein Großteil der Hörbücher wird in den hauseigenen Studios eingelesen – ungekürzt und unredigiert. Damit besteht ein wesentlicher Unterschied zu dem Angebot des kommerziellen Hörbuchmarktes, wo nach wie vor ca. 80 – 90% der Titel in stark gekürzter Form vorliegen.

Alle Hörbücher der Bayerischen Hörbücherei werden im mp3-Format produziert. Durch eine spezielle Technik (sogenanntes Daisyformat) ist das Hörbuch nach Kapiteln genauso gegliedert wie die Buchvorlage. Die Nutzer können in einem MP3-Daisybuch per Tastendruck wie in einem gedruckten Buch blättern. Die Hörbücher lassen sich auf handelsüblichen mp3-CD-Playern abspielen, auf speziellen Daisy-Geräten oder am Computer. Außerdem stehen sie auf der Homepage zum Download bereit. Der Versand der Hörbuch-CDs erfolgt weltweit portofrei als Blindensendung durch die Deutsche Post AG.

Eine gemeinnützige Einrichtung

Die Bayerische Hörbücherei für Blinde, Seh- und Lesebeeinträchtigte. V. ist eine gemeinnützige Einrichtung. Sie trägt sich mit Unterstützung des Bayerischen Staatsministeriums für Arbeit und Soziales, Familie und Integration, des Bayerischen Bezirketags, des Bayerischen Staatsministeriums für Wissenschaft und Kunst und nicht zuletzt des Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbundes e.V.

Abgesehen von der Förderung durch die Öffentliche Hand hat die Bayerische Hörbücherei einen nicht geringen Anteil ihrer Aufwendungen durch Eigenmittel zu finanzieren. Sie ist daher dringend auf Spenden angewiesen. Jeder Betrag kommt in vollem Umfang dem laufenden Betrieb zugute und fließt in Projekte wie die Vergrößerung des Buchbestandes, die Modernisierung der Studiotechnik oder die Erweiterung des Sprecherpools. Eine besondere Form der Spende ist die Buchpatenschaft, wobei der Spender die anteiligen oder gesamten Produktionskosten eines Hörbuchs übernimmt. 

Kontakt:

Bayerische Blindenhörbücherei e. V.
Lothstraße 62
80335 München
Telefon 089/121551-0
Fax 089/121551-23
Internet:  http://www.bbh-ev.org