Tom Malmquist: In jedem Augenblick unseres Lebens

Ein autobiographischer Roman, der einen emotional mit voller Wucht trifft. Und vor Fragen stellt: Wie Literatur bewerten, wenn die Betroffenheit zu groß wird?

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Ich habe gelernt, den Weg durch die Verbindungsgänge allein zu finden: Da ist das Schild, das mit einem schwarzen Müllsack verhängt ist, dann der ausgebrannte Verteilerkasten, der ölverschmierte Socken, der sich seit Jahren auf einem Notausgangshinweis zu befinden zu scheint, die Spannplatte in der T-Kreuzung, die hastig hingekritzelten Zahlen auf der Schutzplanke, die dicke schwarze Bremsspur der Elektrokarren, die Kabelleiter, bei der sich eine Halterung gelöst hat.“

Tom Malmquist, In jedem Augenblick unseres Lebens

Täglich mehrmals hetzt Tom Malmquist durch diesen unterirdischen Krankenhausgang zwischen der Neugeborenenabteilung und der Intensivstation. Seine Freundin Karin, im achten Monat schwanger, erkrankte an akuter myeloischer Leukämie. Ihr Zustand verschlechtert sich rapide, so sehr, dass die Ärzte entscheiden, das Kind sofort zu holen. Karin jedoch kann selbst durch den Einsatz aller medizinischen und technischen Mittel nicht gerettet werden: Sie stirbt nach wenigen Wochen im Krankenhaus.

Der schwedische Musiker, Lyriker und Schriftsteller Tom Malmquist verarbeitet in seinem ersten Roman ein Jahr seines Lebens, das man nur tragisch nennen kann: Er verliert seine Lebensgefährtin, wenig später stirbt sein Vater. Zugleich muss er sich der Aufgabe stellen, für seine Tochter Livia selbst zum Vater zu werden und trotz aller Trauer, die ihn überrollt, für das kleine Mädchen da zu sein, für es zu sorgen.

Biographischer Roman voller Tiefe

Nun ist das Verwerten eigener – meist traumatischer und lebensgefährdender – Erfahrungen von Schriftstellern in der Literatur nichts Neues. Doch erlebt dieser literarische Grenzgang zwischen Fiktion und Autobiographie derzeit wohl eine Art besonderer Blüte. Beflügelt sicher von Karl Ove Knausgårds weltweiten Erfolg. Der Norweger wird gefeiert wie ein Popstar, er ist der Coverboy dieser Disziplin. Sein Freund Tomas Espedal agiert ebenfalls an der Schnittstelle zwischen Roman und Autobiographie. David Wagner errang mit „Leben“ den Preis der Leipziger Buchmesse, an Thomas Melle ging der Deutsche Buchpreis für „Die Welt im Rücken“ leider vorüber.

Es ließe sich lange und trefflich darüber streiten (und manche tun dies auch mit Genuss), in welche literarischen Schubladen solche Werke zu stecken sind, ja, wo denn überhaupt noch die Trennlinie zwischen „therapeutischem Schreiben“ und „literarischem Anspruch“ erkennbar ist. Vermutlich wird sich auch Tom Malmquist in Interviews und dergleichen dieser Frage häufig stellen müssen.

Aber ist diese Einordnung überhaupt relevant? Letzten Endes, so meine ich, hängt es vor allem davon ab, wie man solch ein Buch als Leser selbst rezipiert, inwieweit es einem gelingt (und inwieweit man das auch überhaupt von sich erwartet), Werk und Autor beim Lesen zu trennen.

Eine berührende Geschichte

Das ist mir, ich gestehe es frei, bei „In jedem Augenblick unseres Lebens“ nicht durchgängig gelungen – zu nah ging mir die Geschichte, zu sehr berührt hat mich das Geschehen. Ich stellte mir bei der Lektüre öfter als einmal die Frage, wie wohl ich mit solchen Lebensereignissen umgehen würde und könnte, wäre ich an der Stelle Malmquists. Vor allem aber beschäftigt mich jedoch nach wie vor der Gedanke, wie es der Tochter – die heute fünf Jahre alt ist – ergehen mag, wenn sie später einmal so detailliert über das Leben und Sterben ihrer Mutter sowie ihre ersten Lebenswochen lesen wird.

„Die Krankenschwester befeuchtet Karins Lippen mit einem Schaumstofftupfer. Sie mustert Karins Gesicht. So, Karin, jetzt werde ich Sie nicht länger behelligen, sagt sie, entdeckt mich und ruft: Hallo, kommen Sie rein, ich muss Ihnen gleich sagen, dass Karin aus dem Unterleib blutet, vom Kaiserschnitt, jemand von der Gyn ist hier gewesen und hat sich das angesehen, nur damit Sie es wissen.“

Bei allen positiven Aspekten, die ich zu dieser „Romanbiographie“ noch anmerken könnte – ich wurde den Eindruck nicht los, dass ich die mitlesende, wohlmeinend-betroffene Voyeuristin in mir während der Lektüre kaum abschütteln konnte.

Ein großes Gespür für Sprache: Tom Malquist

Unstrittig jedoch ist, dass Tom Malmquist über ein gutes Gefühl für Sprache und großes Talent verfügt: Der Roman steigt mitten in das dramatische Geschehen im Krankenhaus ein, beginnt mit diesem ersten Satz: „Der Oberarzt tritt den Kipphebel an Karins Patientenbett fest.“ Klug komponiert Malmquist das gegenwärtige Geschehen mit Rückblenden, die einen Blick auf die lange Beziehung der beiden, ihre Anfangsschwierigkeiten, aber auch auf das Umfeld, das Geflecht aus Freundschaften, Familienbande, Lebensträume und Enttäuschungen erlauben. Ohne alles auserzählen zu müssen, kann Malmquist dennoch verdeutlichen, was er und Karin sich bedeutet haben – und was es bedeutet hätte, ein Kind gemeinsam großzuziehen, eine eigene Familie zu gründen.

„Auf dem Küchentisch lagen die Sachen. Karin hatte sie so angeordnet, dass sie der perfekten Silhouette eines Säuglings entsprachen. Sie beobachtete mich, als ich die Stücke in die Hände nahm, und erzählte, sie hätte sie kürzlich mit ihrer Mutter gekauft. Gefallen Sie dir?, wollte sie wissen. Was hatte denn ich damals gemacht? Was hatte ich gemacht, als Karin die Kleidung für unser Kind aussuchte?“

Gerade der zwar detailreiche, sich aber auf Fakten konzentrierende Erzählstil, der beinahe nüchtern und emotionslos erscheint, schafft die nötige Distanz, um das Gelesene verarbeiten zu können – wenn Malmquist beispielsweise die körperlichen Veränderungen seiner Lebensgefährtin beschreibt, den Leib, der plötzlich aufgedunsen ist, die Flecken auf der Haut, die sich mit den Pflastern ablöst und ähnliches, was unspektakulär eingeflochten, aber dennoch kaum aushaltbar ist, dann braucht man diese Distanz.

Aber braucht man als Leser(in) das Erzählte? Selten hat mich in den vergangenen Monaten ein gelesenes Buch dermaßen beschäftigt, auch aufgewühlt und betroffen gemacht. Und doch bleibt immer die Frage: Wäre das auch so, hätte ich reine Fiktion gelesen?

Informationen zum Buch:

Tom Malquist
In jedem Augenblick unseres Lebens
Aus dem Schwedischen von Gisela Kosubek
Klett-Cotta Verlag, 2017
ISBN: 978-3-608-98312-8