Ida Häusser: Meins!

Eine Buchbesprechung der anderen Art: Ein Brief an die Autorin, die lange brauchte, bis sie zum Schreiben fand.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Meine Kindheit war an jenem Tag im Mai 1981 zu Ende. Ich stand und sah zu, wie sie mit dem Blütenstaub über die Tulpensteppe geweht wurde. Und ich wünschte mir riesige, kilometerlange Arme, damit ich diese unfassbare Herrlichkeit umarmen und an mich drücken könnte. Wie ein kleines Kind, das ein liebgewonnenes Spielzeug nicht hergeben will, wollte ich diese stille Schönheit umklammern und Meins! rufen, den Rotz hochschniefen und trotzig mit dem Fuß stapfen und immer wieder Meins! rufen.

Meins!
Meins.
Meins…

Meins?“

Ida Häusser, „Meins!“


Ja, liebe Ida,

dieses schmale Buch, es ist Deins. Ein Fragezeichen ist da gar nicht mehr nötig. Es ist Dein Leben, es sind Deine Geschichten, über die Du schreibst, es sind Deine Worte, die mich beim Lesen angerührt haben. Und dass aus diesem Titel „Meins!“ auch ein kleines bisschen der Stolz herausblitzt, dass diese Geschichten nun gedruckt sind, dass sie ihren Weg in die Öffentlichkeit machen: Das ist doch ganz berechtigt so.

Ich habe mich richtig gefreut, als Du mich neulich angeschrieben hast: Leserinnenpost ist selten und schön – das motiviert und freut einen als Blogbetreiberin. Aber Deine Post war zugegebenermaßen etwas Besonderes. Und weil sie inzwischen auch Teil Deines Buches ist, werde ich sie auch hier veröffentlichen:

„Liebe Birgit Sätzeschätzerin,
Du staunst, weil ich Dich so nenne? Seit Jahren folge ich schon Deinem wunderbaren Bücherblog „Sätze und Schätze“ und Deinen Leseempfehlungen. Und weil Deine Urteile so treffend sind, habe ich begonnen, Dich so zu nennen: Sätzeschätzerin. Für mich so zu nennen, denn ich habe Dich noch nie persönlich getroffen. Und doch kenne ich Dich gut, denn beim Reden über Bücher offenbart man sich auch als Mensch, nicht nur als Leser.
Ich bin lieber eine stille Genießerin deines Blogs und klicke höchstens mal den „Gefällt mir“-Button. Da, wo ich aufgewachsen bin, musst Du wissen, hat man den Kopf nicht unnötig aus der Masse herausgestreckt, weil er vielleicht sofort weg gewesen wäre.
Vor ein paar Jahren allerdings juckte es mich plötzlich in den Fingern: Ich hatte Deinen neuen Eintrag gelesen, über dessen Thema – „Warum ich lese“ – ich schon so oft nachgedacht hatte, auch schriftlich, dass ich mich einfach nicht zurückhalten konnte. So klickte ich auf „kommentieren“ und schrieb: Wie ich als Kind die Regale der Schulbücherei leer las, wie schwierig Bücher in der sowjetischen Mangelwirtschaft zu beschaffen waren und wie ich erst den Pionier-Schund und dann die Groschenhefte auf Deutsch verschlang, die mein Onkel aus Deutschland schickte. Hauptsache Bücher, mit Wörtern drin.
Du antwortetest noch am selben Tag. Du kannst Dich sicher nicht mehr daran erinnern, aber ich weiß noch, wie ich mich beim Lesen Deiner Antwort fühlte: Als schaute die ganze Welt auf mich. Am liebsten hätte ich meinen Kopf wieder zurückgezogen, wie eine alte Schildkröte, unter das sichere Dach der Anonymität. Aber da war mein Kommentar schon „in der Welt“.
Du schriebst, dass Du über meine Antwort lange nachdenken musstest, dass es oft unterschätzt wird, welche Freiheit man hat, wenn man jedes Buch, das einem in den Sinn komme, lesen kann. Du fandest auch mein Bekenntnis zu den Groschenromanen klasse und meintest, es würde gut zu Deiner Reihe der „Verschämten Lektüren“ passen. Ich habe Deine versteckte Aufforderung verstanden. Ich kannte die Reihe natürlich. Dort berichten Deine Bloggerfreunde reumütig, welche Bücher sie früher gern gelesen, gar verschlungen hatten, obwohl sie sie nicht gerade im literarischen Quartett empfehlen würden. Manche bekannten, dass sie den Schund noch besitzen, versteckt in den hintersten Ecken des Buchregals, weil sie sich von ihnen immer noch nicht trennen wollten. Ich wollte Dir wirklich einen verschämten Beitrag liefern. Aber erst mal wollte ich alle Beiträge lesen und schauen, wofür sich die anderen so schämen. Du weißt schon, den Kopf lieber nicht …
Sehr interessante Bücher habe ich da entdeckt, die im Nachhinein als Schmöker, Schmonzetten und Schund bezeichnet wurden, oder solche, die von Sex and Drugs and Rock´n´Roll handelten und herrlich rote Wangen verursachten. Es stimmte, das Lesen von Groschenromanen hatte noch keiner gebeichtet.
Viele Titel kannte ich gar nicht, aber die „Angélique“, die kannte ich natürlich, die geheimnisvolle Angélique, wie konnte man sich dafür schämen, sie gelesen zu haben! In meiner Jugend hätte ich zu den angesagtesten Mädchen gehört, wenn ich in den Gesprächen über dieses Buch hätte mitreden können. In meinem ganzen Bekanntenkreis gab es niemanden, der die Angélique hatte! Ja, welche Freiheit man hat, wenn man jedes Buch, das einem in den Sinn komme, lesen kann.
Letztendlich habe ich mir doch noch ein Romanheft von damals besorgt und es nochmals gelesen, einfach um nachzuspüren, was mich – als Sechszehnjährige in der UdSSR – begeistert haben könnte. Wenn schon schämen, dann gründlich vorbereitet.“

Übrigens, liebe Ida, ich konnte mich dann schnell erinnern: Die Serie „Verschämte Lektüren“ liegt nun zwar schon fünf Jahre zurück. Aber beim Lesen Deines Textes hatte ich sofort das Profilbild einer Frau beim Bogenschießen vor Augen, die dem Blog bei WordPress und Facebook seit Jahren folgt. Das aber meine verspielt-verschämte Serie einmal in einem Erzählband Eingang finden würde – das hat mich nun gleichermaßen überrascht und gefreut.

Deine „Verschämte Lektüre“ ist Teil Deiner Erzählungen über Deine Kindheit in Kasachstan. Du hast, wie Du mir schriebst, bei Christiane Schlüter einen Kurs über autobiographisches Schreiben belegt. Und begonnen, über Deine Herkunft als Russlanddeutsche in Kasachstan, über Deine Familie mit den vielen Geschwistern, über Deine Kindheit in einem Land, das uns doch so fern ist, zu schreiben. Ich habe mich in diese Geschichten verliebt: Du bringst mir einen Kindheitsalltag näher, der so ganz anders gewesen ist als meiner, obwohl wir fast gleich alt sind. Dank Dir kann ich auch manche kulturellen Unterschiede und Missverständnisse nachvollziehen und revidieren. Und nicht zuletzt habe ich so von den wilden Tulpenfeldern in Kasachstan erfahren.

Ich habe „Meins!“ inzwischen, als wäre es auch meins, an andere Leserinnen weitergegeben und alle waren wir irgendwie bezaubert: Von diesem leisen Humor, der aus Deinen Worten spricht, von der Zärtlichkeit, mit der Du Deine Familie beschreibst, von der Lebendigkeit, die viele der Szenen richtig bildhaft werden lassen. Und mir wurde bewusst, wie es ist, wenn Sprache Heimat ist und zugleich nicht sein darf:

„Und inmitten all des Durcheinanders die dritte Kultur, der heimliche deutsche Kokon – daheim. Das, was zu Hause gesprochen und getan wurde, durfte nicht auf die Straße getragen werden, und die Dinge von der Straße am besten nicht ins Amt.

Parallelwelten. Mehrfach parallel.“

Das schreibst Du in dem ernsten Text „Ich bin eine Schreibübung“, der dann aber, und das scheint mir ein Charakterzug von Dir zu sein, doch wieder mit einem sehr warmen, humorvollen Ende überrascht.

Liebe Ida,

ich bin froh, dass Du keine Schreibübung geblieben bist. Ich möchte Dich ermutigen, weiterzuschreiben. Damit auf „Meins!“ noch „Meine!“ folgen. Hab vielen Dank, dass Du mir Deinen Band zugeschickt hast – damit hast Du mir eine Freude bereitet, die ich über den Blog hoffentlich noch anderen, nun neugierig gewordenen LeserInnen vermitteln kann.

Birgit, Sätzeschätzerin.


Informationen zum Buch:
Ida Häusser
“Meins!”
Books on Demand, 2019
Paperback, 120 Seiten, 6,99 Euro
ISBN-13: 9783744838740

Homepage der Autorin;
https://www.idahaeusser.de/

 

Eleonora Hummel: Die Wandelbaren

Ein deutsches Theater in Kasachstan ist die Bühne, auf der in diesem Roman vom Fremdbleiben in der Heimat erzählt wird.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Moskau? Ich bitte dich, Arnold. Wer braucht in Moskau ein deutschsprachiges Theater? Genau: niemand. Unsere Situation ist absurd. Denk doch mal nach: Zuerst rauben sie uns das Land, die Häuser und das Vieh, dann schieben sie uns mittellos in unwirtliche Gebiete ab, auf ewige Zeiten, ohne Recht auf Wiederkehr. Das heißt Gefängnis, auch wenn sie es nicht so nennen, lebenslang, die Nachgeborenen inbegriffen. Und als wäre das nicht genug, nehmen sie uns auch noch die Sprache weg. Und weißt du warum?“
„Warum?“
„Weil ein Volk, das viele Sprachen kennt, schwerer zu überwachen ist. Zum Abhören von Telefonaten, zur Kontrolle von Zeitungen, für alles brauchst du Übersetzer. Unsere Heimat, vom Ochotskischen Meer bis zur Ostsee – ein einziges großes Babylon. Wenn alle eine aufgezwungene Hauptsprache sprechen, werden sie ihre eigene vernachlässigen. Solche lassen sich einfacher regieren, also klein halten.“

Eleonora Hummel, „Die Wandelbaren“

Nein, klein halten lassen sie sich nicht, die vier jungen Leute, die da 1975 im „Rahmen der Maßnahmen zur Kulturförderung nationaler Minderheiten“ quasi vom Traktor aus der Steppe Kasachstans auf die Bühne einer Moskauer Theaterschule geholt werden. Es sind die Jahre, als in der UdSSR eine neue Verfassung mit föderaler Struktur entsteht. Nationale Minderheiten sollen stärker berücksichtig werden. Es sind Jahre des Aufbruchs, des Träumens und des Ankommens in einer Realität, das Scheitern an einer Mentalität, an einer inneren wie äußeren Verfassung, die sich so schnell nicht ändern wird:

„Pässe lügen nicht. Fahr nach Hause und denk darüber nach, wer du wirklich bist, warum dein Name mehr wiegt als gute Noten, mehr noch als der Zuweisungsschein des Komsomol.“

Roman spannt sich über ein halbes Jahrhundert

Klein halten lassen sie sich nicht, aber sie werden scheitern, an den Verhältnissen und der Tatsache, dass sie hier wie dort nirgends richtig dazugehören. Über vier Jahrzehnte hinweg begleitet Eleonora Hummel ihre vier Hauptfiguren, die „Wandelbaren“. Ein doppeldeutiger Titel: Als Berufsschauspieler müssen Violetta, Emilia, Oskar und Arnold von Haus aus ihre Wandlungsfähigkeit beweisen. Doch schon ihr Lebensschicksal an sich ist dieses von Wandelbaren, ist solchen enormen Wandlungen unterworfen, dass alle Vier sich selbst am Ende irgendwie verlieren und verloren sind: Nirgends dazugehörig, nirgends daheim.

In der alten Heimat misstrauisch aufgrund ihrer deutschen Vorfahren betrachtet, in der neuen Heimat nach der Aussiedlung nicht angenommen, aufgrund ihres Dialekts und ihrer Schauspieltechnik für die westlichen Bühnen nicht gebraucht, Fremde bleibend.

Das deutsche Theater in Termirtau

Eleonora Hummel, die selbst aus Kasachstan stammt und seit 1982 in Dresden lebt und schreibt, hat sich eines spannenden Kapitels der Theater- und Politikgeschichte angenommen. Tatsächlich wurde 1980 in der Industriestadt Termirtau ein deutsches Theater eröffnet, das später nach Alma-Ata verlegt wurde. Für das Theater wurden junge deutschstämmige Russen rekrutiert – Talent und Bühnenpräsenz waren dabei wohl zweitrangig, in erster Linie zählte die Abstammung.

Obwohl sich einige der jungen Schauspieler die deutsche Sprache erst mühsam anlernen müssen – von den Vorfahren kennen sie allenfalls einige schwäbische Brocken und ein Uhland-Gedicht – wird das Theater für sie mehr als eine Bühne. Tatsächlich werden diese Bretter für sie zu einer Welt: Hier sind sie ihresgleichen, werden weder als „Faschisten“ beschimpft noch als Fremde betrachtet. Äußerlich bilden sie eine verschworene Gemeinschaft, die sich in den Tauwetter-Perioden politischen Träumen von einer eigenen, neuen Wolgarepublik ergibt.

Nirgends zuhause, als die UdSSR zerbricht

Zugleich aber verknüpft Eleonora Hummel dies mit den inneren Zerwürfnissen in der Gruppe, mit Eitelkeiten, Ehrgeiz, Eifersucht. Das hält den Spannungsbogen, macht das Buch so lebendig: Vier Persönlichkeiten, deren Entwicklung man lesend miterlebt, deren Scheitern man am Ende bedauert. Ihr Leben ist mit dem Theater in Kasachstan aufs Engste verbunden – eine Zukunft gibt es für die Truppe dort in der sich auflösenden Sowjetunion jedoch nicht. Alle gehen schließlich, als die UdSSR zerbricht, in den Westen – um festzustellen, dass man auch hier fremd bleibt:

„Es heißt, wir ehemaligen Sowjetmenschen erkennten uns gegenseitig auf der Straße. Das stimmt wohl. Die Ahnungslosen spüren nur, dass da unter der Oberfläche etwas lauert, dem sie nicht auf die Spur kommen, deshalb bleiben sie auf Distanz.“

„Die Wandelbaren“ ist ein Roman, der zumindest mir den Blick erweitern konnte auf Menschen, die deutsch und russisch sind. In einer ruhigen, fast schon sachlichen, aber eingängigen Sprache, mit kurzen Kapiteln, die die jeweilige Figur in den Mittelpunkt stellen, erzählt Eleonora Hummel von Menschen, deren Schicksal es ist, „nur“ in der eigenen Sprache eine Heimat finden zu können.

Informationen zum Buch:

Eleonora Hummel
„Die Wandelbaren“
Müry Salzmann Verlag 2019
Gebunden, 464 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-99014-196-0

Homepage der Autorin:
https://eleonora-hummel.de/