Eddy de Wind: Ich blieb in Auschwitz

Der holländische Arzt Eddy de Wind überlebte Auschwitz. Schon 1946 veröffentlichte er seinen Bericht, der jedoch erst im Jahr 2020 in deutscher Sprache erschien.

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Bild von Peter Tóth auf Pixabay

„Sie haben ihre Arbeit schlecht gemacht. Nach kurzer Zeit, nach einer Stunde vielleicht, bin ich wieder zu mir gekommen. Ich lag in der Grube, inmitten von lauter ermordeten Frauen, und habe noch gelebt. Da habe ich gespürt, dass sich meine Haltung verändert hat, dass ich am Leben bleiben muss, am Leben bleiben will, um davon zu erzählen. Um allen davon zu erzählen, die Menschen davon zu überzeugen, dass das hier wirklich passiert ist…“

Eddy de Wind, „Ich blieb in Auschwitz. Aufzeichnungen eines Überlebenden 1943 – 1945“.

Dies ist ein Buch, das sich einer gängigen Besprechung entzieht.
Es ist ein Buch, das einen auch heute noch beim Lesen, da die Geschehnisse über ein dreiviertel Jahrhundert zurückliegen, mit Entsetzen und Fassungslosigkeit erfüllt.

Und ein Buch, das Scham auslöst:
Scham darüber, dass das darin Geschilderte tatsächlich geschehen konnte.
Scham darüber, dass dieser Bericht, als er 1946 erstmals und 1980 erneut in den Niederlanden erschien, scheinbar nur wenige Menschen erreichte und interessierte.
Und auch Scham darüber, dass die Hoffnung seines Verfassers, dieses Buch möge mit „einem neuen Humanismus den Weg“ bereiten, nicht erfüllt wurde.

Berichte aus der Hölle von Auschwitz

Bereits vor 30 Jahren hatte Eddy de Wind eine Neuauflage seines Berichtes aus der menschlichen Hölle angestrebt, weil, so heißt es im Nachwort der jetzigen Auflage, er sich zunehmen Sorgen macht „über etwas, das er eigentlich nie mehr erleben wollte, über das Wiederaufflammen von Intoleranz und politischer Gewalt – auch in Westeuropa.“ Wieviel Grund zur Sorge hätte der holländische Arzt und Psychoanalytiker erst heute, in diesen Tagen, da von manchen Politikern der Nationalsozialismus ganz offen als „Vogelschiss“ und das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“ bezeichnet wird und Faschisten in fast allen europäischen Ländern ihre Wiederauferstehung feiern?

Gerade deshalb ist es wichtig, dass dieses Buch gerade jetzt wieder erscheint – erstmals in deutscher Übersetzung (durch Christiane Burkhardt) im Piper Verlag sowie in weiteren zwanzig Ländern.

Die Niederlande unter nationalsozialistischer Besatzung

Eddy de Wind (1916 – 1987) ist der letzte jüdische Student, der an der Universität in Leiden noch seinen Abschluss machen kann. Noch kann der junge Mann einige Monate in Amsterdam in Freiheit verbringen. Doch der Zugriff der nationalsozialistischen Besatzer wird immer enger. Um seiner Mutter, die im Lager Westerbork inhaftiert ist, helfen zu können, meldet sich de Wind als Freiwilliger im Arztdienst für dieses Lager – als er ankommt, ist seine Mutter jedoch bereits schon nach Auschwitz deportiert. Ein Schicksal, das auch ihn und seine Frau Friedel, der er in Westerbork kennengelernt hat, wenig später trifft.

In seinem Zeitzeugenbericht schildert de Wind die Verhältnisse in Auschwitz, in dem er von 1943 bis 1945 zahllose Grausamkeiten am eigenen Leib erlebt und miterleben muss, aus beinahe sachlicher, distanzierter Sicht – in einer nüchternen Sprache, in der sich jedoch die ganze Inhumanität, die dieser Todesmaschinerie innelag, erst richtig enthüllt.

„Es ging zum alten Krematorium, das zweihundert Meter vom Lager entfernt war. Es wurde nicht mehr benutzt. Seit alle Vernichtungen in Birkenau organisiert wurden und in Auschwitz bloß noch eine „normale“ Sterblichkeit herrschte, kamen die wenigen Leichen abends auf den Leichenwagen, der damit zu den Öfen von Birkenau fuhr.“

In der darauffolgenden Szene zeigt sich der ganze bürokratische Wahnsinn, der das Lagerleben und Lagersterben regelt – Eddy de Wind, der sich in seinen Aufzeichnungen Hans nennt, wird zu einem besonderen Einsatz eingeteilt:

„In einem der Räume des Krematoriums türmten sich Blechbehälter – die Urnen der Polen, die hier verbrannt worden waren. Die Familie bekam anschließend die Todesnachricht und konnte die Urne anfordern. Aber im Laufe der Jahre hatten sich vierzigtausend Urnen angesammelt, die jetzt in einen anderen Raum gebracht werden mussten.
Die Männer bildeten eine lange Menschenkette durch die Kellerräume, in denen die drei großen Öfen standen. Sie warfen sich die Urnen zu wie Käse- oder Brotlaibe. Noch nie hatte Hans so viele Tote in den Händen gehabt wie in diesen Stunden.“

Eddy de Wind erzählt von den Massentötungen, von der Ausbeutung der Menschen als Arbeitssklaven, von Hunger, Erschöpfung und zugleich der dem Lager innewohnenden Monotonie. Er macht in seinem Bericht die Hierarchie sichtbar, die unter all den Insassen die Juden an die unterste Stufe setzt, den SS-Mann als „Krönung der arischen Schöpfung“ dagegen zu allem berechtigt:

„Wer hat noch nie einen Betrunkenen gesehen, der seinem jaulenden Hund einen Tritt versetzt? Der Hund jault dann noch lauter, und obwohl der Mann betrunken ist, spürt er zu Recht, dass das Tier ihn wegen seiner Brutalität anklagt. Zu aufrichtiger Reue ist der Mann nicht imstande, dennoch weckt das anklagende Jaulen unangenehme Gefühle, die er mit einem stets brutaleren Auftreten überspielt. Fester treten, lauter jaulen – so lange, bis der Hund totgetreten ist.“

Das Berührende an diesem Text ist es, dass hier ein Mensch aus der Vergangenheit zu uns spricht, der unwürdiger behandelt wurde wie ein Tier – und der doch, wie andere seiner Leidensgenossen auch, seine Würde behielt, seine Menschlichkeit. Eddy de Wind erzählt auch von der Solidarität unter den Häftlingen, von ihrem Überlebenswillen, der natürlich auch vom Gedanken an Rache angetrieben wird. Und den Erzähler selbst hält das Wissen aufrecht, dass seine Frau Friedel nur einen Block entfernt noch unter den Lebenden ist und sich zudem lange den grausamen Experimenten der Lagerärzte unter Leitung des Dr. Mengele entziehen kann. Um mit ihr nur ab und an einige Worte und Lebensmittel wechseln zu können, dafür riskiert Eddy de Wind regelmäßig sein Leben.

Todesmarsch und Überleben

Erst 1945, als die russischen Befreier kommen, erlebt das Ehepaar eine wirkliche Trennung: Friedel begibt sich, entgegen seines Rats, auf einen der Todesmärsche, auf die die SS Abertausende ihrer Gefangenen jagt, er dagegen versteckt sich im Lager und überlebt so die letzten Tage in Auschwitz. Es grenzt an ein Wunder, dass das Paar sich nach seiner Rückkehr in die Niederlande wiederfand, auch wenn die Ehe den durchlittenen Alptraum nicht überstand.

Eddy de Wind begann mit seinen Aufzeichnungen bereits, als die Deutschen aus Auschwitz abgezogen waren. Eine kleine Ironie des Schicksals: In einer Kladde der Deutschen hielt er all die Gräuel fest, deren Zeuge er wurde. So spricht aus diesem Buch die authentische Stimme eines Zeitzeugens, der, obwohl er selbst später als Psychiater und Psychotherapeut traumatisierten Kriegsopfern half, wusste, dass dieses Trauma in einem Menschenleben nicht zu überwinden ist, dass es kein Vergessen geben kann – „Ich blieb in Auschwitz“ ist ein Titel, der alles dazu sagt.

Informationen zum Buch:

Eddy de Wind
Ich blieb in Auschwitz
Piper Verlag 2020
Übersetzt von Christiane Burkhardt
240 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag, 20,00 Euro
EAN 978-3-492-07001-0

Weitere Besprechungen:
Deutschlandfunk Kultur

Barbara Honigmann im Gespräch: “Er war immer fremd”

In “Georg” portraitiert Barbara Honigmann ihren Vater. Über den Journalisten und Bohemien, über das Gefühl von Heimat und die Bedeutung des Wohnortes spricht sie im Interview mit Veronika Eckl.

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Bild von Free-Photos auf Pixabay

EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Siebzig Jahre alt ist die Schriftstellerin Barbara Honigmann im Februar geworden, und sie ist noch einmal eingetaucht in ihre eigene Vergangenheit und die ihrer deutsch-jüdischen Familie. Nach Ein Kapitel aus meinem Leben, in dem sie von ihrer Mutter erzählt, zeichnet sie in Georg ein Porträt ihres Vaters, des Journalisten Georg Honigmann. Der ging, von seiner Frau zum Kommunismus „verführt“ – so die Autorin mit einem Augenzwinkern -, nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Londoner Exil nach Ostberlin, obwohl er doch nach eigener Aussage „über Hermann Hesse nie hinausgekommen war“. In der ihr eigenen heiteren Lakonie beschreibt Honigmann das Schicksal des nicht religiösen jüdischen Remigranten, der mit der Entscheidung für den Kommunismus wohl dem ewigen Zwischen-den-Stühlen-Sitzen ein Ende bereiten wollte.

Veronika Eckl traf Barbara Honigmann, die seit Jahrzehnten in Straßburg lebt, bei der Vorstellung von Georg im Münchner Literaturhaus und sprach mit ihr über ihre Eltern, über Fremdheit und über die Wohnungen, die in Honigmanns Werken zwar eher beiläufig beschrieben werden, aber doch eine zentrale Rolle spielen.

Ihr jüngstes Werk Georg beginnt damit, dass Ihr 60 Jahre alter Vater, grau im Gesicht, nach der Trennung von Ihrer Mutter in einem möblierten Zimmer in Berlin sitzt, wo Sie, die Teenager-Tochter, ihn besuchen. Warum haben Sie gerade diese sehr eindrückliche, berührende Szene an den Anfang gestellt?

Die Erinnerung an meinen Vater in diesem Zimmer ist für mich ein Schreckensbild, ein Alptraum, der sich mir tief eingeprägt hat. Georg war ja nun nicht mehr jung, er war ohnehin älter als die Väter meiner Freundinnen, und ihn so unbehaust zu sehen, war furchtbar.

Dieses Gefühl der Unbehaustheit zieht sich durch das ganze Buch, in dem Sie das Leben Ihres Vaters erzählen.

Ja, er war ein sehr wurzelloser Mensch, das war wohl sein Charakter. Er hat mit elf Jahren seine Mutter verloren – vielleicht ist das zu küchenpsychologisch gedacht, aber es heißt immer, dass Kinder, die einen so einschneidenden Verlust erleben, es schwer haben, je wieder einen Halt zu finden. Mein Vater war immer fremd. Wenn er eine neue Frau hatte –  er heiratete in seinem Leben vier Mal, und zwar immer dreißigjährige Frauen – zog er mit seinem Koffer bei ihr ein, in eine Wohnung, die nach einem anderen Geschmack eingerichtet war.

Und damit war er zufrieden?

Er war Bohemien. Er wollte seine Zeitung, sein Buch, seine Ruhe. Und er musste in seinem Leben an so vielen verschiedenen Orten zurechtkommen – in der Odenwaldschule in Hessen, als Auslandskorrespondent in London und im englischen Exil, interniert in Kanada, im Ostberlin der Nachkriegszeit – dass ihm Wohnungseinrichtung nun wahrlich nicht wichtig war. Bei anderen kippte das ja nach dem Erlebnis des Krieges ins Gegenteil: Meine Schulfreundinnen lebten eher in kleinbürgerlichen Wohnungen, in denen eine heile Welt aufgebaut wurde, mit dem Foto des gefallenen Opas im Goldrahmen.

Sie lebten nach der Trennung Ihrer Eltern bei Ihrer Mutter…

… ja, und sie war ganz anders: Sie liebte es, Wohnungen einzurichten und zog auch leidenschaftlich gern um. Die meiste Zeit habe ich mit ihr in einer schönen Wohnung in Karlshorst gelebt, einem Ostberliner Villenvorort mit einer Russengarnison, wo auch die Kapitulation unterzeichnet wurde. Meiner Mutter gefiel die Neue Sachlichkeit, eine Wohnung hatte in ihren Augen hell und leer zu sein. Damit wollte sie sich abgrenzen von der spießigen Wohnkultur der Nachkriegszeit mit ihren Schrankwänden voller Nippes.

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Das Portraitbild wurde freundlicherweise von Barbara Honigmann selbst zur Verfügung gestellt. Bildnachweise: honorarfrei/Babu

Prägen denn die Wohnungen der Eltern die Kinder?

Oh ja, sicherlich. Mich interessieren Wohnungen, so wie meine Mutter. Wenn ich irgendwo eingeladen bin, frage ich oft: „Kann ich mir die Wohnung ansehen?“ Wie meine Mutter mag ich es sachlich und praktisch. Bei mir stehen überall Bücher, damit ist eh schon alles voll. Dann braucht man doch nur noch einen Platz für den Schreibtisch und den Computer und ein Sofa, auf das man sich lümmeln und auf dem man ein Buch lesen kann.

Sie selbst zogen 1984 mit Ihrem Mann von Ostberlin nach Straßburg. Warum?

Es war ein Aufbruch ins Innere des Judentums. Meine Eltern waren ja nicht religiöse Juden, während ich auf der Suche war. Man hatte mir Straßburg als anregenden jüdischen Ort beschrieben, und das stimmt auch. Hier gehört die Präsenz der Juden einfach dazu, et ça se passe bien. Weil die Stadt klein ist, vermischen sich die Milieus, anders als in London oder New York. Hier leben etwa 15 000 Juden, es ist etwas geboten, auch intellektuell. Wir leben auf einer Insel der Seligen, Juden aus den banlieues von Paris oder Toulouse, die sich dort nicht mehr wohlfühlen, ziehen jetzt hierher. In Straßburg spüren wir keinen Antisemitismus.

Sie haben damals eine Wohnung in der Rue Edel bezogen, die Sie selbst als „Straße der Ankunft“ beschreiben, weil hier viele Neuankömmlinge aus den unterschiedlichsten Ländern leben. Aus diesem Mikrokosmos heraus ist „Chronik meiner Straße“ entstanden.

Ja, es hatte sich in mir viel angesammelt, Begegnungen mit den Nachbarn, Beobachtungen, Fragmente. Ich wollte so etwas schreiben wie Wilhelm Raabes Chronik der Sperlingsgasse. Eine Chronik, denn das Buch beschreibt auch die vergehende Zeit. Wir leben heute noch in der Rue Edel, wo es nach wie vor viele Sozialwohnungen gibt, aber auch Studenten-WGs. Es ist, wie man in Frankreich sagt, ein populäres Viertel, aber kein Ghetto. Ich wüsste nicht, warum ich umziehen sollte.

Ist Ihnen Frankreich Heimat geworden?

Ach, das mit der Heimat, das ist so ein deutsches Ding. Ich frage mich nicht jeden Tag, wo meine Heimat ist, ich wohne jetzt hier, ich habe meine Wege. Aber im Nachhinein bewundere ich unseren Mut damals: Wir kannten in Straßburg keinen Menschen, ich musste Französisch lernen, neben all dem Jüdischen, das mir neu war – so etwas macht man nur einmal im Leben, mit Mitte 30 ging das noch.

Haben Sie nie Heimweh nach Berlin?

Nein, ich verspüre da keinerlei Nostalgie. Meine Eltern mochten Berlin überhaupt nicht, meine Mutter war Österreicherin, mein Vater stammte aus Hessen. Heute bin ich relativ oft in Berlin, weil mein Sohn mit seiner Familie dort lebt und ich die Enkelkinder besuche. In den Osten fahre ich überhaupt nicht mehr, da habe ich nichts zu tun. Und Westberlin ist mir ja völlig fremd, da kenne ich mich nicht aus. Mein Sohn lebt im Übrigen dort, weil die Mieten in Paris ihm zu hoch geworden sind. An Berlinerischem ist mir nur die Berliner Schnauze geblieben, die ich heute in der Stadt vermisse.

Das Grab Ihres Vater ist auch in Berlin…

Ja, auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee.

Besitzen Sie denn heute noch Gegenstände aus den Wohnungen Ihrer Eltern?

 Von meiner Mutter habe ich noch ganz massive, solide Bücherregale und solche, in denen man Bettzeug verstauen kann. Die sind aus Ostberlin mit nach Frankreich umgezogen, ebenso wie ein Schaukelstuhl, der in meinem Zimmer stand, als ich ein Kind war. Von meinem Vater habe ich gar nichts, nichts Materielles, er besaß ja auch nichts. Aber seine Briefe hat er mir hinterlassen, von denen ich einige in meinem Buch verwendet habe.

Mehr Information:

Georg (2019). Hanser Verlag, 18 Euro
Chronik meiner Straße (2015). dtv, 9,90 Euro, Hanser Verlag, 16,90 Euro

Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Gabriele Tergit: Effingers

„Effingers“, das ist ein gewaltiger Familienroman, ein deutsches Epos, ein Berlinroman, lebendige Geschichtsschreibung am Beispiel zweier fiktiver Familien.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„(…) Ben ist Engländer. Er hat sich naturalisieren lassen.“
„Das finde ich aber merkwürdig. Ich war doch schließlich ein politischer Emigrant und habe meinen Weg in Frankreich gemacht, aber ich bin nie auf die Idee gekommen, ich könnte mich naturalisieren lassen, trotzdem ich die herrlichen Jahre des zweiten Kaiserreichs dort verlebte.“
„Wir fanden das auch merkwürdig von Ben, aber Ben hat in Bezug auf Deutschland und besonders auf den Antisemitismus so seine Ansichten.“
„Ach, man soll doch das nicht so überschätzen. In Berlin, wissen Sie, kommen alle möglichen Bewegungen hoch und verschwinden wieder. Es geht uns doch nichts an, wenn eine minderwertige kleine Partei uns nicht zu den Deutschen rechnen will. Die Hauptsache ist, daß wir uns als Deutsche fühlen.“

Gabriele Tergit, „Effingers“


Emmanuel Oppner, einer der Grandseigneure dieses Romans, wird es glücklicherweise nicht mehr erleben, wie sehr er sich täuscht. Er verstirbt 1908, noch in seinem Bett. Seinen Nachfahren, man weiß es aus der Geschichte, wird ein anderes Schicksal zuteil.

Thea Dorn schwärmte im „Literarischen Quartett“ von diesem Buch und Nicole Henneberg schreibt in ihrem Nachwort zu längst fälligen Wiederausgabe: „Was für ein großartiger Roman!“. Dem kam man mit keiner Silbe widersprechen: „Effingers“, das ist ein gewaltiger Familienroman, ein deutsches Epos, ein Generationenbuch, ein Berlinroman, lebendige Geschichtsschreibung am Beispiel zweier fiktiver Familien. Viel hat Gabriele Tergit (1894 – 1982), die wendige und intelligente Gerichtsreporterin und Autorin, dem Schicksal ihrer Familie entliehen, vieles, was sie beschreibt, kennt sie aus ihrem Erleben und ihrem Milieu: Und das macht dieses Buch so groß- und einzigartig.

Opulenter Generationenroman

Erzählt wird die Geschichte zweier Familien über mehrere Generationen hinweg, vom Kaiserreich über die Kriegsjahre und die kurze Zeit der Weimarer Republik bis hin zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Beide, sowohl die Effingers, die ursprünglich aus einem kleinen Handwerkerbetrieb in Süddeutschland kommen, als auch die Oppners, eine alteingesessene Bankiersfamilie, sind jüdischer Herkunft. Doch Religion und Zugehörigkeit spielen in ihrem Alltag meist eine nachrangige Rolle – in erster Linie sind sie deutsche Bürger.

Verglichen mit den Buddenbrooks

Der vielfach angeführte Vergleich mit den Buddenbrooks kommt nicht von ungefähr: Tergit erzählt auf diesen rund 900 Seiten vom Aufstieg und Fall einer Familie. Doch ihr Blick, ihr Tonfall ist ein ganz anderer als der Mann`sche: Weniger prätentiös, lebendiger, dialogreich, voller Verve, voller Wärme und Witz. Sie mag ihre Figuren, selbst mit deren Schattenseiten. Und davon gibt es viele genug: Denn mit dem Wandel der Zeiten, mit dem zunehmenden Reichtum und dem nachfolgenden Absturz kommen nicht alle gleichermaßen zurecht. Zudem wird die Orientierungslosigkeit, die Sinnentleerung, das Suchen nach Werten und einem Halt gerade der jungen Zwischenkriegsgeneration greifbar: Die alten Traditionen zählen nicht mehr, was kommen wird ist ungewiss.

Jens Bisky schreibt in seiner Besprechung in der Süddeutschen Zeitung:
„Dieser große Roman des zwanzigsten Jahrhunderts ist in vielem außergewöhnlich. Historisch glänzend informiert, aber nie belehrend vergegenwärtigt Gabriele Tergit ein Panorama der Berliner Geschichte zwischen Reichsgründung und Zerstörung der Stadt. Ihre Bankiers und Unternehmer sind, was selten ist in der deutschen Literatur, keine Karikaturen, vielmehr ehrliche, irrende, mehr oder weniger gescheite Geschäftsleute.“

Jüdische Lebenswelt detailliert geschildert

Diese Wahrhaftigkeit, diese realitätsgetreue Schilderung ist es, die mich an diesem Roman so zu begeistern mochte: Die Figuren des Romans werden beim Lesen zu Menschen, die man sich beinahe bildhaft vergegenwärtigen kann, man lebt mit ihnen, man lacht und leidet mit ihnen. Am Ende ist man erleichtert, dass es dem lebenslustigen Paar Lotte und Erwin gelingt, in das Exil zu flüchten, am Ende ist man traurig und wütend, weil der hochbetagte Waldemar – ein liberal gesinnter Jurist, lebensklug und weise, wenig anfällig für die Ideologien seiner Zeit – von den Nazischergen verschleppt wird.

In keinem anderen Roman habe ich so viel nicht nur über die Lebenswelt deutscher Juden, die von den Nationalsozialisten zerstört wurde, sondern überhaupt über die Mentalität und Gedankenwelt dieser Zeit erfahren. Denn noch eines unterscheidet die „Effingers“ von den „Buddenbrooks“: Der Roman ist noch viel weitgehender in das gesellschaftliche und politische Geschehen verankert.

Herauszuheben ist auch, dass das Buch im Grunde ein Buch der Frauen ist: Es zeigt, wie sich deren Rolle ändert – es reicht von der Welt der in Konventionen erstarrten Bankiersgattinnen Selma und Eugenie bis hin zu den jungen Frauen, die zwischen Anpassung an das Alte und Selbstbestimmung hin- und hergerissen sind.

Dass Gabriele Tergit so realitätsgenau schrieb, dass sie ihre Menschen als Menschen beschrieb, mit ihren Stärken und Charakterfehlern, dies war für die Veröffentlichung ihres Roman, den sie bereits in Berlin begann und an dem sie dann im Exil noch Jahre schrieb, in den 1950er-Jahren ein Hindernisgrund: Im Nachkriegsdeutschland wollte man solche Bücher nicht. Das Buch erschien zunächst nur in gekürzter Fassung und dann erst in den späten 1970er-Jahren im Zuge einer späten Wiederentdeckung der Autorin.

Dass der Schöffling Verlag es nun wieder herausgebracht hat, ist eine literarische Wohltat. Und einmal mehr kann ich mich nur der Aussage von Thea Dorn anschließen: „Dass dieses Buch nicht längst ein fester Bestandteil des deutschen literarischen Kanons ist, halte ich für einen Skandal.“


Bibliographische Angaben:

Gabriele Tergit
Effingers
Schöffling & Co., 2019
28, 00 Euro, 904 Seiten, gebunden, Lesebändchen
ISBN 978-3-89561-493-4

Else Feldmann: Flüchtiges Glück

Else Feldmann widmete ihr Schreiben einem Ziel: Auf das Elend der Armen in der Zwischenkriegszeit aufmerksam zu machen. 1942 wurde sie in Sobibor ermordet.

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„Hedwig schließt die Augen. Sie fühlt die Nähe des Geliebten wie einen Rausch. »Flüchtiges Glück!«, denkt sie. Wenn man jetzt einschlafen könnte und nicht mehr erwachen. Hier ist es warm und licht, hier war Vergessenheit. Vergessen war die Mariahilferstraße – Fräulein, kann ich diese Socken auch in Grau haben? Was kosten sie? Achtstundentag – ja – die Arbeiter werden es einmal besser haben. Es kommt eine glücklichere Zeit. Menschendämmerung!, hatte jemand in einer Versammlung ausgerufen.“

Else Feldmann, “Flüchtiges Glück”

Hedwig, die Schwerkranke aus der 1919 von Else Feldmann veröffentlichten Erzählung „Im Warenhaus“ wird diese glücklichere Zeit nicht mehr erleben. Ihr, der Todgeweihten, ist nur ein flüchtiges Glück gegönnt – so wie das Glück für die meisten Protagonisten in den Geschichten und den Reportagen dieser österreich-jüdischen Schriftstellerin eine Schimäre ist. Selbst der Wohlstand der Reichen trägt wenig zu deren Glück bei, führt zu Verbitterung, Neid, Hass und Einsamkeit. Das Glück, das der Kapitalismus dem Einzelnen durch Streben nach Gewinn und Macht verspricht, ist auf dem Unglück vieler gebaut: So könnte man die Texte, die die Sozialreporterin zwischen 1918 und 1938 in österreichischen Tageszeitungen und Publikationen, vor allem sozialdemokratischer und linker Provenienz, veröffentlichte, zusammenfassen.

Das letzte Buch von Herausgeber Adolf Opel

„Flüchtiges Glück“ ist das letzte Buch des im Juli 2018 verstorbenen Schriftstellers und Herausgebers Adolf Opel. Für den unabhängigen Wiener Verlag „edition atelier“ machte Opel unermüdlich auf Schriftstellerinnen aufmerksam, die in der Nachkriegszeit vergessen worden waren, darunter beispielsweise auch Lina Loos. Folgerichtig ist dieser Band, in dem erstmals die Reportagen und Texte Else Feldmanns für Zeitschriften in Buchform zu finden sind, ihm gewidmet.

Es sind Texte, die in ihrer fast kunstlosen, kargen Schlichtheit einen unverstellten Blick auf das Elend der Zwischenkriegszeit werfen. Feldmann berichtet aus Polizeistationen, von Streiks, führt Interviews mit Gefängnisdirektoren, bewegt sich in den Armen- und Arbeitervierteln:

„Es gibt viele tausend Häuser mit Kellerwohnungen in allen Bezirken Wiens. Wenn man diese Häuser besucht, fällt vor allem eines auf: Die Ausnutzung des Raumes ist bis ins Fanatische gesteigert. Es gibt Häuser, in denen mehr als hundert Kinder leben. Ich habe vor zwei Tagen in der Brigittenau ein Haus gesehen, es ist das Doppelhaus Rauscherstraße 8/10, in dem nie Stiegen gekehrt werden, ein Hof, in dem vier Fensterfronten von vier Stockwerken gehen, es ist ein einziger Kehrichthaufen; alle Parteien des Hauses entladen in diesen Hof – wahrscheinlich durch die Fenster – den Mist. Eine Straßenreinigung gibt es in diesen Gegenden überhaupt nicht, es wurde mir gesagt, der »Mistbauer« komme oft wochenlang nicht. Wie der Gesundheitszustand dieser Menschen aussieht, bei denen die zehn Plagen der alten Ägypter zu Hause sind, läßt sich denken.“

Else Feldmann wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf

Else Feldmann kannte diese Zustände, die sie in ihren Reportagen beschrieb, aus eigenem Erleben. 1884, als zweites von insgesamt sieben Kinder geboren, ist sie, so Opel, zweifellos ebenfalls in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Die biographischen Spuren zum Leben der Autorin sind jedoch so dünn wie das literarische Vermächtnis schmal ist, so der Herausgeber in seinem Vorwort:

„Drei Buchveröffentlichungen und ein ausgeführtes Theaterstück zu Lebzeiten, ein Fortsetzungsroman (…), einige ebenfalls in Zeitungen in mehreren Folgen publizierte längere Erzählungen und viele Kurzgeschichten und Tageszeitungen und Zeitschriften: Das bis heute aufgefundene schriftstellerische Lebenswerk von Else Feldmann besticht nicht so sehr durch seinen Umfang als durch die unbeirrte Konsequenz, mit der die Autorin die Thematik verfolgt, die sie zu der ihren gemacht hat – den Erniedrigten, Unterdrückten, Ausgegrenzten und im Leben Zu-kurz-Gekommenen eine Stimme zu leihen.“

Und diese Stimme klingt, wie beim „Blick aus dem Hotelzimmer“ mal versonnen und melancholisch, sie klingt beim Erzählen „Von Dienenden“ mal aufgewühlt und wütend, sie klingt manches Mal sanft, traurig, manchmal appellierend und in die Zukunft schauend. Aber niemals klingt sie: gleichgültig. Ob in ihren Sozialreportagen, ob in ihren Portraits des Sozialreformers Popper-Lynkeus, des Dichters Peter Altenbergs oder von Käthe Kollwitz, aber auch in den belletristischen Texten: Else Feldmann will auf eine bessere Welt, bessere Zustände schreibend hinarbeiten. Das mag literarisch nicht immer allzu bestechend sein – aber allein diese persönliche Aufrichtigkeit, diese Genauigkeit des Blicks und der Beobachtung, der schreibende Einsatz für andere Zustände, dies alles macht diesen Band so äußerst lesenswert. Man beginnt unter dem Eindruck dieser Lektüre auch auf die eigene Welt einen schärferen Blick zu werfen.

Else Feldmann erlebte von dieser Zukunft, an der sie schreibend mitarbeiten wollte, nichts: Ab 1934 hatte sie kaum mehr Publikationsmöglichkeiten. 1938 wurde ihr Werk von den Nationalsozialisten verboten. 1942 wurde sie im Vernichtungslager Sobibor ermordet.

Informationen zum Buch:

Else Feldmann
Flüchtiges Glück
Reportagen aus der Zwischenkriegszeit
Edition Atelier, 2018
ISBN: 978-3-903005-44-0

Biographie von Else Feldmann bei der Theodor Kramer Gesellschaft:
http://theodorkramer.at/archiv/exenberger/mitglieder/else-feldmann

Hans Sahl: Memoiren eines Moralisten

Die Erinnerungsbände von Hans Sahl sind mit das Beste, was man an autobiografischer Exilliteratur über das 20. Jahrhundert lesen kann.

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Unser Schicksal steht unter Denkmalschutz.
Unser bester Kunde
ist das schlechte Gewissen der Nachwelt.
Greift zu, bedient euch.
Wir sind die Letzten.
Fragt uns aus.
Wir sind zuständig.

Aus: „Die Letzten“ von Hans Sahl


In den „Memoiren eines Moralisten“ und dem Erinnerungsband „Exil im Exil“ (beide zum Auftakt der Werkausgabe vom Luchterhand Verlag 2008 wiederaufgelegt) schildert der deutsche Schriftsteller und Journalist Hans Sahl, wie es ist, einer der Letzten zu sein. Einer jener, die von einer bedeutsamen Epoche der Geschichte berichten konnten, die sogar mittendrin standen in den kulturellen Umbrüchen und politischen Wirrnissen, die man dann im Nachkriegsdeutschland zwar als Gast (auch bei der Gruppe 47) duldete, aber eigentlich nicht mehr hören wollte.

„Wie kann ich über die zwanziger Jahre sprechen, ohne an ihr Ende zu denken, wie über jene Epoche, ohne das Bewußtsein, einer der Letzten zu sein, der noch über sie berichten kann. Diese Epoche hatte einen eigenen Zungenschlag, einen Verständigungs-Volapük, der zur Voraussetzung hatte, daß man das letzte Stück von Brecht, die letzte Inszenierung von Piscator, Jessner, Reinhardt gesehen, die letzte Kritik von Kerr oder Ihering gelesen hatte, daß man auf dem laufenden war über die Konzerte von Furtwängler, Toscanini, Klemperer, Kleiber, Bruno Walter, über Tairows „Entfesseltes Theater“, den „Dybbuk“ der Habima und Meyerholds letztes Gastspiel in Deutschland, über die Negertänzerin Josephine Baker und den flüsternden Bariton Jack Smith, über Eisensteins „Potemkin“ und Chaplins „Goldrausch“, über Gershwins „Rhapsody in Blue“ und den „Zauberberg“ von Thomas Mann und Hermann Hesses „Steppenwolf“ (…)“

Allein dieser kurze Ausschnitt lässt erahnen, wie sehr Sahl selbst Teil dieser Kultur war. Und wie unermesslich groß die kulturelle Lücke war und ist, die die braunen Diktatoren schließlich schlugen. Berlin in der Weimarer Republik: Es waren ideell reiche, manchmal überreiche Zeiten, in denen alles möglich schien. Hans Sahl sieht den Menschen jener Zeit prototypisch in Tucholskys Herrn Wendriner verkörpert:

„Diese Neugier auf das Neueste eines überraschend schnell zum Weltbürger gewordenen Berliners, dem es nur um eins ging: dabeizusein. Und als das Neueste vom Neuen kam, nämlich Hitler, mußte er auf die grausamste Weise mit dabeisein, entweder als Opfer oder als Opfernder.“

Es lohnt sich, diese Erinnerungen zu lesen. Nicht nur, weil Hans Sahl sie alle kannte und ebenso klug und lebendig über sie zu berichten weiß: Bert Brecht, Joseph Roth, Alfred Döblin, Erich Kästner, Kisch und Konsorten, alle die berühmten Literaten der Weimarer Jahre, später auch Thornton Wilder, Arthur Miller und Tennessee Williams, deren Werke er ins Deutsche übersetzte.

Das schlechte Gewissen der Nachwelt

Es lohnt sich diese Memoiren zu lesen. Und dies nicht nur, weil viele der Geschehnisse der Weimarer Republik, die schließlich in den Nationalsozialismus mündeten, gerade heute als aktuelle Warnung dienen könnten. Nicht deshalb, weil uns als Leser „das schlechte Gewissen der Nachwelt“ schlägt – sondern weil wir Hilfestellung suchen für die Welt von morgen. Wo es rechts außerhalb gewisser Parteien nichts mehr geben darf, wo alles, was nicht links ist, sich als rechts verdächtig macht, kurzum, wo politisches Kastendenken und Populismus um sich greifen, da tut so eine Ermahnung aus der Vergangenheit not.

Es lohnt sich vor allem, diese Bücher zu lesen, weil dieser Hans Sahl einfach ein ganz großartiger Mensch gewesen sein muss, der klug von vergangenen Zeiten berichtet, liberal, weltoffen, witzig, nachdenklich, gut reflektierend.

Selbst in eine gutbürgerliche, deutschnational angepasste jüdische Familie hineingeboren, sucht Sahl (1902 – 1933) einen Gegenpol zum Bürgertum der Eltern, indem er sich politisch links engagiert.

„An dem Tage, da der deutsche Außenminister Walther Rathenau in der Königsallee von politischen Fanatikern ermordet wurde, begann der Religionsphilosoph Ernst Troeltsch, bei dem ich hörte, seine Vorlesung: „Der Feind steht rechts!“ Nichts ging mehr zusammen. Rechts war a priori schlecht, und links a priori gut. Dazwischen gab es ein bürgerliches Niemandsland, in dem Kellner mit serviler Geschäftigkeit eine Gans über die Teller verteilten und die Geige zum Maronenpüree spielte. Die Bürgertugenden unserer Eltern sagten uns nichts mehr, wir waren gegen das Eigentum und für eine freie Verteilung der Güter, was uns jedoch nicht daran hinderte, von den Vorteilen, die uns die „Profitwirtschaft“ bot, entsprechend Gebrauch zu machen. Der Riß ging mitten durch das Elternhaus und führte zu öffentlichen Konfrontationen, da in den Straßen Berlins die Parteien demonstrierten. Ich marschierte mit den Kommunisten, mein Vater mit den Demokraten.“

Später, nach dem Hitler-Stalin-Pakt, als Sahl auch gute Freunde, wie beispielsweise die Schauspielerin Carola Neher, bei den Moskauer Schauprozessen und in den Untiefen der Gulags verliert, rückt er immer weiter von den Kommunisten ab. Und gerät dadurch – ähnlich wie der in einem anderen Beitrag hier portraitierte Gustav Regler – im Exil ins Exil: 1933 noch mit knapper Not vor den Nationalsozialisten über Prag und Zürich nach Paris geflüchtet, kommt Sahl in die USA, wird dort aber vom linksgerichteten Kreis anderer europäischer Exilanten aufgrund seiner kritischen Stalin-Haltung geächtet. Er lebt im Exil im Exil – so erklärt sich der Titel seines zweiten Erinnerungsbandes.

Isoliert im Exil

Sahl sieht die Zwischentöne, während viele andere in diesen erhitzten Zeiten nur noch schwarz oder weiß gelten lassen. Doch nicht von ungefähr betitelt der Autor seinen ersten  Erinnerungsband auch als „Memoiren eines Moralisten“: Da schreibt ein Mann, der vieles durchlebt hat. Und alles durchdacht. Auch das eigene Tun und Wirken:

„Warum begann ich zu schreiben? Sicher nicht aus Eitelkeit, auch nicht nur aus Geltungsbedürfnis oder dem Wunsch, mich mitteilen zu können, auch nicht nur aus der Freude am Wort und der Sprache als Selbstgenuß, ich schrieb, weil ich beschlossen hatte, ein Schriftsteller zu werden. Schriftsteller waren bessere Menschen, ich wollte ein besserer Mensch werden, wie alle die anderen besseren Menschen, die Söhne aus gutem Hause; die jetzt auf den Tribünen, in Büchern und Zeitschriften, für eine neue Gesellschaft eintraten, für Freiheit und Gerechtigkeit hienieden.“

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erwägt Sahl vorübergehend, aus den USA nach Deutschland zurückzukehren. Nach einem längeren Aufenthalt zieht er eine nüchterne Bilanz:

„Ich blieb fünf Jahre in Deutschland, schrieb für Zeitungen, sprach im Rundfunk und suchte nach einem Ansatzpunkt, um die politische Entfremdung von dem Land meiner Geburt zu überwinden. Ich war ein exterritorialer Mensch geworden, ein „Gast in fremden Kulturen“, wie ich es für Hermann Kestens Sammelband „Ich lebe nicht in der Bundesrepublik“ formuliert habe. Ich versuchte, der Alternative zwischen zwei Provisorien ein Ende zu machen, indem ich mich für das entschied, was mir vertrauter geworden war. Ich ging also nach Amerika zurück, nicht mehr als Flüchtling, sondern als Berichterstatter deutscher Zeitungen. Erst als ich mich entschlossen hatte, nicht mehr von Amerika zu leben, schloß ich Frieden mit Amerika.“

Zumal man in der „alten Heimat“ noch nicht allzu viel von den Emigranten wissen will. 1991 sagt Hans Sahl anlässlich der Verleihung des Internationalen Exil-Preises:

„Ich war zum ersten Mal 1949 mit einem Haufen von Manuskripten, mit Gedrucktem und Ungedrucktem, mit Gedichten, Essays, Erzählungen und Einaktern aus dem Exil gekommen sowie mit einem Roman „Die Wenigen und die Vielen“, der jedoch von fast allen Verlegern abgelehnt wurde, bis er schließlich doch noch bei S. Fischer erscheinen konnte. Die einen sagten, es sei zu früh, die anderen, es sei zu spät, und die dritten sagten, es sei zu früh oder zu spät …“

Aber er sagt auch:

„…als Antwort auf Ludwig Marcuse, der von der Exilliteratur nichts anderes verlangte, als zu überleben, schrieb ich unter anderem den Satz: „Exil ist nicht nur ein von Hitler aufgezwungener Verlagswechsel, Exil ist eine Verpflichtung.“

Erst spät, „zu spät“ nach seinem Empfinden, wird Hans Sahl in der Bundesrepublik wahrgenommen und gehört. 1989 kehrt er zurück, um hier seine letzten Jahre zu verbringen. Zum 90. Geburtstag des Autoren schreibt Michael Rohrwasser im „Tagesspiegel“ von einer „späten verlegerischen Wiedereinbürgerung“, als auf Initiative der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung Sahls Texte wiederaufgelegt werden.

Besser jedoch spät als nie, denn:

„Das gefährliche Wort von der Wiedergutmachung an einem Autor sollte man, auf Sahls Werk bezogen, tunlichst vermeiden. Welcher Leser möchte schon aus Pflichtschuldigkeit lesen? Es gibt freilich einen legitimen Grund, zu Hans Sahls Büchern zu greifen: Der liegt in ihrer Qualität.“

Und damit hat Rohrwasser einfach recht: Die Erinnerungsbände von Hans Sahl sind mit das Beste, was man an autobiografischer Exilliteratur zu jener Epoche lesen kann.


Weiterführende Quellen:
Zum 25. Todestag erschien im Deutschlanfunk dieses Portrait:
http://www.deutschlandfunk.de/25-todestag-der-exilschriftsteller-hans-sahl.871.de.html?dram:article_id=416497
Eine umfassende Einordnung in der Trans:
http://www.inst.at/trans/15Nr/05_02/reiter15.htm
Informationen beim Verlag:
https://www.randomhouse.de/Autor/Hans-Sahl/p74339.rhd#publication


Bibliographische Angaben:

Hans Sahl
Memoiren eines Moralisten
Luchterhand Verlag, 2008
ISBN: 978-3-630-87278-0