Kurt Tucholsky: Deutschland, Deutschland über alles

Tucholsky war begeistert vom Medium der Photographie. 1929 veröffentlichte er seinen „Bildband“, eine satirische Liebeserklärung an Deutschland.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Ein Bild sagt mehr als viele Worte“: Tucholsky war schon früh begeistert von dem Medium der Photographie als Mittel des Ausdrucks und der Satire. 1929 verwirklichte er das Vorhaben eines „Bildbandes“, aber Tucholsky wäre eben nicht Tucholsky gewesen, wäre dies ein „Photoalbum, das man auf den Geburtstagstisch legt“. 1929 erschien „Deutschland, Deutschland über alles“: Ein Bild-Text-Band, beinahe schon ein kleines Kompendium über den Zustand der Weimarer Republik, ätzend scharf, bissig, satirisch, anklagend und anprangernd, aber auch eine Liebeserklärung an die Heimat.

Beginnen wir mit der Liebeserklärung, die Tucholsky an das Ende seines Buches gestellt hat:

„Nun haben wir auf 225 Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja-: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland. Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen. Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern? Es gibt so schöne. Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen „Sie“ zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.“

Dies schreibt Tucholsky, der selbst ab 1924 die meiste Zeit im Ausland verbrachte. „Deutschland, Deutschland über alles“ entstand, als Schweden bereits mehr und mehr zur Wahlheimat geworden war. Und doch formuliert der Autor:

„Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt…nein, wer gar nichts andres spürt, als daß er zu Hause ist; daß das mein Land ist, sein Berg, sein See – auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt…es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land.“

Tatsächlich war Tucholsky zu jener Zeit jedoch schon verzweifelt an dieser Liebe, verzweifelt vor allem an der Politik dieses Landes. Der Mann, der laut Erich Kästner „mit der Schreibmaschine eine Katastrophe aufhalten wollte“, begann zu resignieren – angesichts des jahrelangen vergeblichen Eintretens für eine Demokratisierung, gegen Militarismus und Despotie. Vom Prozess gegen Carl von Ossietzky – „Weltbühnen-Prozess“ – blieb auch Tucholsky nicht unberührt, auch gegen ihn wurde ermittelt, sein berühmtes Zitat „Soldaten sind Mörder“ von Ossietzky zugeschoben. „Deutschland, Deutschland über alles“ erscheint aus diesem Zusammenhang beinahe wie ein letztes Aufbäumen in einem bereits verlorenen Kampf.

Nun, was ist das für ein Buch, das an der Auflage gemessen, Tucholskys größter Bucherfolg werden sollte? Das der Börsenverein vor Erscheinen noch mit allen Mitteln verhindern wollte? Dessen Startauflage mit 15.000 Stück (aus der Tucholsky-Biographie von Rolf Hosfeld) sofort vergriffen war? Das Mitte 1930 die dritte Auflage mit 50.000 erreichte – auch für jene „belesene“ Zeiten eine ungeheure Zahl?

Zunächst hatte der Schriftsteller die Idee, das Wort durch die Macht des Bildes zu verstärken. Für die Zusammenarbeit gewann Tucholsky den Grafiker John Heartfield, der für den Malik-Verlag und die Arbeiter-Illustrierte in Berlin arbeitete. Tucholsky wollte aufklärerische und agitatorische Fotografie, ergänzt durch seine, größtenteils schon vorab in Zeitungen und Zeitschriften veröffentlichten Texte. Es entstand eine hochpolitische Satire, ein ganz neuer Buchtyp.

Ein Zitat aus Kindlers Neuem Literaturlexikon:

“Es ging Tucholsky im Jahr der Weltwirtschaftskrise mit seinem Deutschland-Buch um eine möglichst wirkungsvolle Beeinflussung von Wählermassen: gegen deutschen Militarismus, gegen soziales Unrecht und Klassenjustiz, gegen neuen deutschen Chauvinismus sowie gegen unfähige “Realpolitiker” aller Couleur. Tucholskys Engagement in humanistischen, sozialistischen und pazifistischen Organisationen, das ihn vorübergehend sogar seine tiefe Abneigung gegen Gruppen und Vereine Überwinden ließ, genügten dem erfolgreichen, um politische Wirkung bemühten Publizisten nicht länger. Anders als “Rheinsberg. Ein Bilderbuch für Verliebte” sollte sein neues “Bilderbuch” nicht amüsieren, sondern jenes Deutschland zur Besinnung rufen, das am Fließband stand, im Kaufhaus arbeitete oder an der Schreibmaschine saß. (…) Der in einer bald schon vergriffenen Startauflage von 20.000 Exemplaren gedruckte Band war das politische Resümee eines sensiblen Individualisten und radikalen Intellektuellen, der sich bewußt an die Seite der Unterprivilegierten, Rechtlosen und Ausgebeuteten gestellt hatte. Als kommunistische Funktionäre an ihm den Bürger und Schöngeist kritisierten, konterte Tucholsky: “Besser ein Anzug nach Maß als eine Gesinnung von der Stange.” (…)

„Deutschland, Deutschland über alles” ist ein provokantes Album zur Weimarer Republik. Als Motto ist dem Band der Satz aus Hölderins “Hyperion” “So kam ich unter die Deutschen” vorangestellt. Einzigartig in der deutschen Literatur zwischen den Weltkriegen ist an Tucholskys Deutschland-Buch einerseits das Niveau der einzelnen Texte, von denen viele bis heute nichts an politischer Brisanz verloren haben, andererseits die Vielfalt der literarischen Formen, neben zwanzig Gedichten und Chansons (“Aussperrung”; “Start”) pointierte Bildunterschriften (“Demokratie”) und provokante Fotostories (“Statistik”; “Nie allein”). Charakteristisch sind für Tucholsky (zum Teil umgangssprachliche) Monologe und Gespräche (“Herr Wendriner kauft ein”; Ich bin ein Mörder”), ein Dramolett zur deutschen Justiz (“Wiederaufnahme”) sowie Aphorismen, Parodien und Parabeln (“Feuerwehr”); der Band enthält Satire in Vers und Prosa (“Götzen der Maigoto-Neger”), dazu klassische Feuilletons (“Treptow”), kulturkritische Essays (zu Alltagskultur und Architektur), Polemiken, Reportagen, Rezensionen und Theaterberichte (“Der Linksdenker”).”

Aus: Kindlers Neues Literaturlexikon

Der „politische Baedeker“ zu Lage von Staat und Nation greift allerdings auch Alltagsdinge auf, räsoniert wird beispielsweise über die Frage, warum die deutschen Postkästen so häßlich sind (was würde Tucholsky heute zu den gelben Boxen sagen?), über Ladenfassaden und über „Mutterns Hände“ – auch dieses, eines der anrührendsten Gedichte Tucholskys, ist in dem Band enthalten.

Mutterns Hände

Hast uns Stulln jeschnitten
un Kaffe jekocht
un de Töppe rübajeschohm –
un jewischt und jenäht
un jemacht und jedreht …
alles mit deine Hände.

Hast de Milch zujedeckt,
uns Bobongs zujesteckt
un Zeitungen ausjetragen –
hast die Hemden jezählt
und Kartoffeln jeschält …
alles mit deine Hände.

Hast uns manches Mal
bei jroßen Schkandal
auch ‘n Katzenkopp jejeben.
Hast uns hochjebracht.
Wir wahn Sticker acht,
sechse sind noch am Leben …
alles mit deine Hände.

Heiß warn se un kalt.
Nu sind se alt.
Nu bist du bald am Ende.
Da stehn wa nu hier,
und denn komm wir bei dir
und streicheln deine Hände.

Nicht alle der rund 100 Foto-Text-Montagen haben heute noch die unmittelbare politische Wucht – manches wirkt 90 Jahre später natürlich auch technisch ungeschickt, manches ungehobelt bis unbedarft, manche Namen werden heutigen Lesern wohl kaum mehr etwas sagen. Und dennoch: Auch wenn man weiß, Satire darf alles, überspitzt und übertreibt, gibt dieser bissige Führer durch die Weimarer Republik ein eindrucksvolles Bild jener Zeit. Und viele von Tucholskys Texten, insbesondere über „die deutsche Seele“ sind schlicht und einfach zeitlos – vor allem, wenn man sieht, wie die „deutsche Seele“ in diesen Tagen wieder wallt und wabbert.

In seiner hervorragenden Biographie „Tucholsky – ein deutsches Leben“ schreibt Rolf Hosfeld:

“Schon (…) 1925 entdeckte er die Möglichkeiten der Tendenzfotografie. „Die Wirkung ist unauslöschlich und durch keinen Leitartikel zu übertreffen. Eine knappe Zeile Unterschrift – und das einfachste Publikum ist gefangen.“

Es gehört zur Ironie der Literaturgeschichte, dass ausgerechnet das Medium, das durch einfachste Aussagen Millionen Leser fängt, nicht nur ebenso diese Mittel nutzt, sondern 2013 gar Tucholskys Buch in einer Reihe der von den Nationalsozialisten verbotenen Bücher wieder auflegte. Was hätte er dazu wohl gemeint, der große Spötter? BILD Dir deine Meinung.

Tucholsky äußerte sich später selbstkritisch über dieses Buchprojekt: Es sei als künstlerische Leistung klobig. „Und zu schwach. Und viel zu milde.“

Dazu Rolf Hosfeld:

„Tucholsky ist mit „Deutschland, Deutschland über alles“ tatsächlich der Verführung eines Mediums unterlegen, was ihm selbst schnell klar geworden ist, nachdem das Buch einmal vorlag.“

Aber welche Mängel es auch immer hat – es ist das Buch eines großen Kämpfers, der seine Heimat schmerzlich liebte:

„Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.“

Noch mehr zu Kurt Tucholsky auf diesem Blog:

Ulrich Becher: Murmeljagd

„Murmeljagd“ von Ulrich Becher gilt als Geheimtipp. Dabei ist es eines der sprachmächtigsten und umwerfendsten Werke des vergangenen Jahrhunderts.

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Bild von analogicus auf Pixabay

Dieses Buch haut einen um wie eine Naturgewalt. Es macht atemlos. Und zunächst auch sprachlos. Als ich es zur Seite legte, war ich mir nicht sicher, ob ich überhaupt eine halbwegs anständige Besprechung dazu zustande bekäme. Sicher bin ich mir immer noch nicht. Aber es sollte, ja, es muss vorgestellt werden – denn jeder, der Sprache und das Spiel mit ihr liebt, der Wortkapriolen zu schätzen weiß, der sehen und lesen und lernen möchte, wie phantastisch phantasievoll man mit Sprache umgehen kann, der wird daran seine Freude haben. Und noch mehr: Einen langen, nachklingenden Genuss.

Ein ewiger Geheimtipp

1969 erstmals erschienen, ist „Murmeljagd“ von Ulrich Becher (1910-1990) lange so etwas wie ein Geheimtipp gewesen. Dabei brächten Buch und Autor alle Voraussetzungen mit, in eine Ruhmeshalle der sprachmächtigsten, exaltiertesten und umwerfendsten Werke des vergangenen Jahrhunderts zu gelangen. Und man hätte sogar den Vorteil, Ulrich Becher als „Drei-Länder-Schriftsteller“ für sich vereinnahmen zu können: Becher, zwar 1910 in Berlin geboren, hatte über seine Mutter, eine Pianistin, Schweizer Wurzeln. Sein Schwiegervater war in Österreich ein Berühmter: Roda Roda. Österreich und die Schweiz zudem Stationen im Exil.

Und vor allem war Becher wohl ein allseits talentierter Mensch: Er studierte Jura, wurde der einzige Meisterschüler von George Grosz und begann zu schreiben. 1932 erschien sein Debüt „Männer machen Fehler“ – das kaum ein Jahr später von den Nationalsozialisten als entartete Literatur eingestuft wurde.

„Er konnte etwa für sich beanspruchen, der jüngste Autor gewesen zu sein, dessen Bücher die Nazis verbrannten. Keine geringe Ehre, das musste einer erst schaffen: knapp über zwanzig, ein erster schmaler Band und schon ein entarteter Staatsfeind. Becher war, als bildender Künstler, als der er begann, Schüler von George Grosz, fing an zu schreiben, floh aus den genannten Gründen über Österreich und die Schweiz schließlich nach Brasilien, schrieb eine ganze Reihe Romane, Erzählungen und Theaterstücke und starb, relativ vergessen, 1990 in Basel. Sein Theaterstück “Der Bockerer”, das  er gemeinsam mit Peter Preses verfasste, ist seit der Verfilmung mit dem Volksschauspieler Karl Merkatz immerhin in Österreich nationales Kulturgut, wenngleich dort kaum ein Mensch weiß, wer es eigentlich geschrieben hat“, so die österreichische Schriftstellerin Eva Menasse in ihrem lesenswerten Artikel in der „Welt“.

Verfolgung und Exil zerstörte die Karriere

Der Verlag Schöffling brachte das Buch heraus (inzwischen ist es auch bei btb als Taschenbuch erschienen). Und in der Presse brach Begeisterung aus, als handele es sich darum, das Erscheinen eines fulminanten Debütromans zu feiern. Gut für das Buch, schade für Ulrich Becher: Der hätte die Aufmerksamkeit zu Lebzeiten genossen und verdient, Aber ihm ging es wohl, wie vielen seiner Schicksalsgenossen: Die Naziverfolgung, das Exil – es zerstörte viele Existenzen und Karrieren. Nicht alle von denen, die überlebten, fassten später wieder Fuß.

Das Überleben in finsteren Zeiten, die Flucht vor den Häschern, Exil und Vertreibung: Das sind auch die Hauptthemen dieser 700 Seiten starken, turbulenten Parforcejagd durch die Schweiz. Eine Berg- und Talfahrt, eine Tour de Force: Knallbunt und prallvoll wie das Leben, ab und an auch zappenduster und schwarz wie der Tod.

Geflüchtet in die Schweizer Bergwelt

Den abtrünnigen Adeligen Albert Trebla, der sich – noblesse oblige – dem Sozialismus verschrieb, hat es (nach dem Anschluss von Österreich „heim ins Reich“) mit seiner Frau Xane in die Schweiz verschlagen. Dort versucht man einigermaßen durchzukommen, ständig unter Kuratel durch die Schweizer Behörden, versucht, mit den Verwandten im Vielvölkerstaat Österreich Kontakt zu halten, und, wenn möglich, weiter Politik zu treiben. Plötzlich häufen sich im Umfeld Treblas jedoch undurchsichtige Unfälle mit tödlichem Ausgang. Der Exilant wird auch in der Schweizer Bergwelt zum Gejagten – in seiner Gedankenwelt jedenfalls. Zwei Murmeltierjäger geraten ihm ins Visier, sein Verdacht: Mögliche Nazischergen. Trebla wird zum „Murmelmurmeljäger“. Zugleich häufen sich die finsteren Nachrichten aus der Heimat von Freunden und Weggenossen, die in den Konzentrationslagern und am spanischen Himmel ihr Leben verlieren.
Was Trebla, der seine Frau zwar abgöttisch liebt, jedoch nicht davon abhält, sich durch die Lokalitäten zu charmieren, den einen oder anderen amourösen Fehltritt zu begehen und letztendlich doch seine geliebte Xane noch zu schwängern.

Man sieht: In diesem Buch liegt alles nahe beieinander, Liebe und Leid, Leben und Wahn. Und dies in einer Sprache, die in ihrer Lust zum Spiel an Arno Schmidt erinnert, die die elegante Grandezza eines Heimito von Doderer mit der speziell österreichischen Melancholie eines Joseph Roth vereint. Manches Mal kapriolt er vielleicht zu sehr, manches Mal macht ihm das Groteske so viel Freude, dass man als Leser um das Niveau zu bangen beginnt – aber schnell schlägt Becher dann die nächste Volte. Und man ist schon wieder im besten Sinne: Mitgenommen. Dazu kommen noch zahlreiche Anspielungen und Verweise auf Jahrhunderte europäischer Geschichte und Kultur, die man beim ersten Lesen des Buches wohl auch kaum in ihrer Fülle erfassen kann. Hilfreich ist da die grandiose Seite des Schweizers Dieter Häner – dank dieser Hilfe wird so manches aufgeschlüsselt und erläutert, nicht zuletzt auch den Fluch „Fix Laudon!“, den Trebla zu gerne in den Mund nimmt.

Eva Menasse lobt ihn seit Jahren

Noch einmal seine Verehrerin Eva Menasse zum Schluss:

„Mag sein, dass einige dramaturgische Volten zu gewagt sind, mag sein, dass in diesem Buch zu viel und zu aufsehenerregend gestorben wird, mag sogar sein, dass der Schluss des Romans gegen den Rest etwas abfällt – dies ist dennoch eines der ganz seltenen Bücher, die einen mit physischer Gewalt ergreifen, die einen ihre Geschichte hören, riechen, schmecken, erleiden lassen. Und schließlich beweist dieses Hauptwerk eines fast vergessenen Teufelskerls wieder einen Hauptsatz der Literatur: Nur wer, wie Ulrich Becher, der Katastrophe auch ihre Grotesken abzulauschen versteht, vermag seinen Leser wahrhaft zu erschüttern. Denn das tiefste Erschrecken liegt direkt neben dem brüllenden Lachen, nirgendwo sonst.“

Stoff zum Weiterlesen:

Eva Menasse über Murmeljagd in der „Welt“
„Murmeljagd“-Leseprojekt

Informationen zum Buch:

Ulrich Becher
Murmeljagd
Schöffling Verlag, 2020
ISBN: 978-3-89561-452-1

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen

Mit dem “kunstseidenen Mädchen” brachte Irmgard Keun einen weiblichen Ton in die Literatur, der so gar nicht zum Frauenbild der Nationalsozialisten passte.

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Bild von Sarah Lötscher auf Pixabay

„Tilli sagt: Männer sind nichts als sinnlich und wollen nur das. Aber ich sage: Tilli, Frauen sind auch manchmal sinnlich und wollen auch manchmal nur das. Und das kommt dann auf eins raus“.

Irmgard Keun, „Das kunstseidene Mädchen“


Sie vertrat die falschen Ansichten. Sie hatte eine Meinung. Und: Sie war selbstbewusst und frei. Alles, was eine Frau in Nazi-Deutschland nicht sein durfte. So musste auch Irmgard Keun (1905 – 1982) den Unrechtsstaat verlassen – kurz, nachdem sie mit dem „kunstseidenen Mädchen“, ihrem zweiten Buch, einen Sensationserfolg erzielt hatte. Aber die darin geschilderte Frauenfigur passte eben so gar nicht zum Frauenideal des Dritten Reiches: Zu kess, zu flatterhaft, zu eigenständig – das ist die 18jährige Doris, die Kunst- und Halbseidene, die in der Metropole Berlin unbedingt „ein Glanz“ werden möchte.

Glamour und Götterdämmerung

Das gelingt am Ende nicht – zum einem, weil Doris mit ihrem weichen Herzen und dem Hang zu falschen Männern halt doch nicht ganz zum Glanz taugt, zum anderen, weil die Umstände nicht so sind in der Weimarer Republik. Denn Doris schildert nicht nur das schillernde und glitzernde Berlin der 20er Jahre in ihrem unablässigen monologischen Gedankenfluss – Keun, als Vertreterin der „Neuen Sachlichkeit“ zeigt in diesem Roman, dass auch sie den „stream of consciousness“ perfekt beherrscht – sondern auch die Schattenseiten. Götterdämmerung ist angesagt: Armut, Arbeitslosigkeit, Nationalismus, Antisemitismus, Rassenhass…all das sind die Unter- und Hintergründe, die durch die (nur scheinbar) belanglose Plauderei der kleingroßen Naiven durchschimmern. Und nicht zuletzt ist „Das kunstseidene Mädchen“ auch einer der herausragenden Großstadtromane dieser Zeit. Die pulsierende Metropole, betrachtet aus den großen Augen einer staunenden Frau:

„Und ich kam an auf dem Bahnhof Friedrichstraße, wo sich ungeheures Leben tummelte. Und ich erfuhr, daß große politische Franzosen angekommen sind vor mir, und Berlin hatte seine Massen aufgeboten. Sie heißen Laval und Briand – und als Frau, die öfters wartend in Lokalen sitzt, kennt man ihr Bild aus Zeitschriften. Ich trieb in einem Strom auf der Friedrichstraße, die voll Leben war und bunt und was Kariertes hat. Es herrschte eine Aufregung! Also ich dachte gleich, daß sie eine Ausnahme ist, denn so furchtbare Aufregung halten auch die Nerven von einer so enormen Stadt wie Berlin nicht jeden Tag aus.“

Zeitgemäßes Frauenbild

Doris, die einerseits ein kunstseidenes Mädchen und andererseits doch eine ganz starke Frau ist, scheitert und bleibt allein – als hätte Irmgard Keun ihren eigenen Lebensweg vorgezeichnet. Man mag an dem Frauenbild und Frauentyp zweifeln – trotz ihres Ehrgeizes, aufzusteigen und aus den kleinen Verhältnissen ihrer Familie auszubrechen, verkörpert Doris eben nicht die neue, emanzipierte Frau, sondern das Mädchen, das sich verkauft. Aber auch das ist immer noch zeitgemäß:

“Aktuell sind gerade heute Stoff wie Schreibweise. Junge Mädchen, die als Germanys next Topmodel oder als Schlagersternchen “ein Glanz werden” wollen, sehen, wie Keuns Doris, in einer Krisenzeit keine anderen Möglichkeiten für sozialen Aufstieg.”

Sonja Hilzinger in einem Portrait bei der Deutschen Welle:

„Und so war auch das Buch, so wie das Leben, so wie im Film, schnell und oberflächlich und genau, weltmitschreibend, sich selbst verschenkend an die Welt, spielend mit der Welt, Schritt für Schritt Berlin erobern, die Männer erobern, das Leben erobern. Nicht mit Arbeit. Mit einem Glanz, der von innen kommt, mit einem Magnetismus, der die Welt tanzen lässt, um das kunstseidene Mädchen herum.“

Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“.

Doch der Tanz wird – die Zeitumstände sind schuld daran, zugleich aber auch eine charakterliche Disponierung zum Alles-Verschlingen, zur Sucht, zur Selbstzerstörung – der Tanz also wird zum traurigen Walzer. Denn Irmgard Keun war sicher nicht das, was man eine in sich ruhende Persönlichkeit nennen könnte – zu temperamentvoll, zu sprunghaft, zu lebenslustig und lebenshungrig.

Wenn man Glück mit den Männern haben will, muß man sich für dumm halten lassen.

Und manches Mal auch mutig bis hin zum Übermut: Ihr erster Roman „Gilgi – eine von uns“ (1931) machte sie über Nacht berühmt, 1932 folgt der Bestseller „Das kunstseidene Mädchen“, 1933 werden ihre Bücher von den Nazis beschlagnahmt und verboten. Bevor Keun jedoch ins Exil flüchtet (und dort Joseph Roth, ihrem Schicksalsmann, wie unter anderem auch in Weidermanns „Ostende“ beschrieben, begegnet), legt sie sich mit der Zensur an: Sie erhebt Schadensersatzklage wegen des Verdienstausfalls, den sie durch die Beschlagnahmung ihrer Bücher erlitten habe. Zugleich aber beantragt sie auch die Aufnahme in die Reichschrifttumskammer. Auch das ist ein wenig kunstseidene Doris – die Hin- und Hergerissenheit zwischen den Möglichkeiten und dem Notwendigen. Manches wird später zurechtgebogen von ihr selbst und überhöht – eine Gestapo-Haft erlebte sie nie, auch nicht Folter und Verhöre.

Die Keun-Biografin Hiltrud Häntzschel schreibt in ihrer Monographie (Rowohlt Taschenbuch) über Irmgard Keun:

„Irmgard Keun hatte zur Wahrheit ihrer Lebensumstände ein ganz spezielles Verhältnis: mal aufrichtig, mal leichtsinnig, mal erfinderisch aus Sehnsucht nach Erfolg, mal phantasievoll aus Lust, unehrlich aus Not, mal verschwiegen aus Schonung.“

Ganz so, wie auch das kunstseidene Mädchen war.

In ihrer Heimat kann sie nicht mehr arbeiten, verlassen will sie sie jedoch ebenfalls nicht. 1936 ist es jedoch unumgänglich, Irmgard Keun flieht in das Exil. Es folgen Wanderjahre, Existenzsorgen, zudem ein zunehmender Alkohol- und Tablettenmissbrauch, vor allem aber treibt Irmgard Keun die Sorge um die im Deutschen Reich zurückgebliebene Mutter und das Heimweh um. 1940 kehrt sie heimlich – aber von den Nazis wohl durchaus wahrgenommen – nach Deutschland zurück, überlebt in der Illegalität. Nach Kriegsende fällt es ihr, wie vielen anderen Autoren der Weimarer Republik auch, schwer, im Literaturbetrieb wieder Fuß zu fassen.

Kunstseidene wird Trümmerfrau

Eigentlich wäre „Das kunstseidene Mädchen“ auch eine Frau der zweiten Nachkriegszeit in Deutschland – eine, die sich durchschlagen muss, durchaus selbstbewusst und frech, die aus der Not heraus versucht, das Beste aus ihren Lebensumständen zu machen, eine Frau, die „ihren Mann“ steht. Aber es scheint, als habe die neue Zeit keinen Raum für diese schnodderige Sprache mehr, keinen Sinn mehr für diesen Stil, der doch eng auch mit den „Roaring Twenties“ verknüpft ist. Das Frauenbild der Weimarer Republik hat ausgedient, die Kunstseidene wird zur Trümmerfrau.

Bei Irmgard Keun im wahrsten Sinne des Wortes – sie verarmt immer mehr, lebt kurzfristig in einem zerbombten Haus, immer weiter geplagt von ihren Abhängigkeiten. Kurze Phasen von Produktivität wechseln sich mit Krankenhausaufenthalten ab, 1966 wird sie dann für Jahre in die Psychiatrie eingewiesen. Nach ihrer Entlassung 1972 erlebt sie wenigstens in ihren letzten Lebensjahren als Schriftstellerin neue Beachtung – sie wird als Stimme der Weimarer Republik von Jürgen Serke im Rahmen seiner Recherche für seine verdienstvolle Stern-Serie „Die verbrannten Dichter“ wiederentdeckt, ihre Bücher werden wieder aufgelegt und erfahren erneut größeres Interesse. 1982 stirbt Irmgard Keun in Köln.

Was von ihr bleibt?

Ihre Romane, nicht nur „Das kunstseidene Mädchen“, auch die „Gilgi“ oder das bedrückende Buch „Nach Mitternacht“. Eine Frauenstimme, die klingt zwischen Lebenshunger und Verzweiflung. Die Sehnsucht nach der dunkelblauen Glocke wie im kunstseidenen Mädchen:

„Ich wünsche mir sehr mal die Stimme von einem Mann, die wie eine dunkelblaue Glocke ist und in mir sagt: hör auf mich; was ich sage, ist richtig; und wünsche mir dann ein Blut in mein Herz, was ihm glaubt…“

 

Volker Weidermann: Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft

“Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft”: Ein Stimmungsbild, mit viel literaturwissenschaftlichem Know-how routiniert gepinselt von Volker Weidermann.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

“In Zeiten, die Zeit hatten, hatte man an der Kunst etwas aufzulösen. In einer Zeit, die Zeitungen hat, sind Stoff und Form zu rascherem Verständnis getrennt. Weil wir keine Zeit haben, müssen uns die Autoren umständlich sagen, was sich knapp gestalten ließe.”

Karl Kraus, „Heinrich Heine und die Folgen“


Volker Weidermanns biographischer Roman „Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft“ das wäre wohl so ein Büchlein, an dem Karl Kraus seine spitze Zunge geschärft hätte. Ein Ergebnis „impressionistischen Feuilletonismus“ hätte er es wohl genannt.

Sagen wir mal: Es ist ein Stimmungsbild, mit viel literaturwissenschaftlichem Know-how routiniert gepinselt. Solche Bücher sind geradezu en vogue – man denke nur an den Erfolg des anderen Sommer-Buches eines anderen Journalisten, “1913 – Der Sommer des Jahrhunderts”. Jüngere Geschichte, in anmutige Form verpackt, wohldosiert.

Ostende macht Appetit auf die Originale

Ja, Ostende – man muss es nicht lesen, es schadet aber auch keinem. Gesetzt den Fall, man greift denn doch noch (einmal) zu den Originalen, liest Stefan Zweig, Joseph Roth, neben deren Romanen und Essays auch ihren Briefwechsel, begegnet dem kunstseidenen Mädchen nach Mitternacht und dem rasenden Reporter in deren ECHTEN Büchern. Ostende erfüllt seinen Zweck allenfalls als Appetithäppchen. Dafür jedoch ist es mit viel feuilletonistischer Routine zusammengesetzt.

Weidermann beschreibt die Begegnung einiger Schriftsteller 1936 im Badeort Ostende. Vor allem das Zusammentreffen der beiden so unterschiedlichen Freunde aus Österreich steht im Mittelpunkt: Stefan Zweig, die Welt von gestern noch frisch betrauernd, aber im zweiten Frühling mit einer neuen Liebe, Joseph Roth, haltlos, orientierungslos, bodenlos dem Alkohol verfallen. Mit Irmgard Keun, die die Sommer- und Exilgemeinde aufmischt, kommt noch einmal ein Silberstreif an den Roth`schen Horizont. Dennoch: Alle wissen, es ist Götterdämmerung, das Heil besteht nur noch in der Flucht. Ostende, `36, das ist ein letzter „magischer“ Sommer, in dem persönliche und politische Hoffnungen wie kurze Leuchtfeuer aufflackern und ebenso schnell erlöschen.

Faktenreiches Feuilleton

Ein kurzes Feuer ist auch das wenig mehr als 150 Seiten umfassende Buch. Zwar durchaus: Informativ, sich auf die Quellen stützend, wörtliche Zitate aus Briefen und Aufsätzen einflechtend, faktenreich, dort, wo die Situation der Schriftsteller und Journalisten abgebildet wird, die vor den Nazis flüchten mussten. Dort, wo Weidermann jedoch vom Biographischen verstärkt in das Romanhafte gleitet, erreicht das Buch seine Grenzen.

„Ein paar Tage später sitzen sie noch einmal alle zusammen. Alle braun gebrannt, außer Roth, dem alten Sonnenfeind. Sie sitzen wieder im Flore, mit Blick aufs Meer und die Badehäuschen. Christiane Toller strickt trotzig vor sich hin, Gisela Kisch lacht, wann immer es etwas zu lachen gibt und auch wenn es nichts gibt, Lotte Altmann ist still, und nur wenn sie leise hustet, bemerkt die große Runde, dass sie noch da ist, Schachfuchs schaut aufs Meer, Stefan Zweig sitzt zwischen Lotte und Fuchs, raucht und hört zu, wenn Egon Erwin Kisch von Spanien spricht, vom Krieg der Kommunisten, neuesten Berichten von der Front, und Arthur Koestler von seinen Reiseplänen, die ihn in Francos Hauptquartier führen sollen.“

Es scheint, als habe Weidermann der Ehrgeiz gepackt, das „Who-is-who“ der Ostender Exilgemeinde 1936 in einen Satz zu pressen. Stimmungsvolle Stillleben – die Charaktere werden skizziert und angepinselt, mehr jedoch nicht. Von seinem (vermutlich) insgeheimen Vorbild Stefan Zweig, dem Meister des psychologisierenden biographischen Romans („Maria Stuart“, „Marie Antoinette“), bleibt der FAZ-Feuilletonchef weit entfernt.

Was bleibt von der Lektüre? Hunger nach Zweig und Roth im Original. Die Zeit sollte man sich, gerade in einer Zeit, die keine Zeit hat, etwas aufzulösen, dringend nehmen.


Bibliographische Angaben:

Volker Weidermann
Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft
Kiepenheuer & Witsch, 2015
ISBN: 978-3-442-74891-4

Joseph Roth: Hotel Savoy

Hotel Savoy löste bei Erscheinen ein großes Echo aus: So präzise hatte Roth den Untergang einer Epoche beschrieben, so sehr traf er den Geist seiner Zeit.

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„Mir gefiel dieses Hotel nicht mehr: die Waschküche nicht, an der die Menschen erstickten, der grausam wohlwollende Liftknabe nicht, die drei Stockwerke Gefangener. Wie die Welt war dieses Hotel Savoy, mächtigen Glanz strahlte es nach außen, Pracht sprühte aus sieben Stockwerken, aber Armut wohnte drinnen in Gottesnähe, was oben stand, lag unten, begraben in luftigen Gräbern, und die Gräber schichteten sich auf den behaglichen Zimmern der Satten, die unten saßen, in Ruhe und Wohligkeit, unbeschwert von den leichtgezimmerten Särgen.“

Joseph Roth, „Hotel Savoy“, 1924


Das Hotel als Mikrokosmos, in dem eine ganze Welt sich einfindet: Dies ist als Motiv in der Literatur nicht unbekannt. In diesem schmalen Frühwerk von Joseph Roth wird das Hotel jedoch sogar zum Sinnbild einer ganzen Epoche – als Schauplatz des Auseinanderklaffens der Klassen, als Ort der Verlorenheit der Kriegsheimkehrer, als Ausgangspunkt einer Revolution.

Das Hotel Savoy, gleichsam das Europa der Zwischenkriegszeit. Ein Ort, der alles ermöglicht:

„Mit einem Hemd konnte man im Hotel Savoy anlangen und es verlassen als Gebieter von zwanzig Koffern.“ Oder als toter Mann: „Viele Heimkehrer hat der Tod im Hotel Savoy erreicht. Er hatte ihnen sechs Jahre lang nachgestellt, im Krieg und in der Gefangenschaft – wem der Tod nachstellt, den trifft er auch.“

Von Kriegsheimkehrern und Desillusionierten

Die Handlung dieses Romans ist schnell erzählt. Roth hat das Geschehen im polnischen Lodz angesiedelt, man schreibt das Jahr 1919. Der Kriegsheimkehrer Dan sehnt sich nach einem Ort der Ruhe:

„Zum ersten Mal nach fünf Jahren stehe ich wieder an den Toren Europas. Europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens erscheint mir das Hotel Savoy mit seinen sieben Etagen, seinem goldenen Wappen und einem livrierten Portier. Es verspricht Wasser, Seife, englisches Klosett, Lift, Stubenmädchen in weißen Hauben, freundlich blinkende Nachtgeschirre wie köstliche Überraschungen in braungetäfelten Kästchen; elektrische Lampen, aus rosa und grünen Schirmen erblühend wie aus Kelchen; schrillende Klingeln, die einem Daumendruck gehorchen; und Betten, daunengepolsterte, schwellend und freudig bereit, den Körper aufzunehmen.“

Solcher Luxus bleibt dem ehemaligen Soldaten, der einst davon träumte, Schriftsteller zu werden, jedoch versagt. Er kommt dort im Savoy unter – jedoch dort, wo die Armen hausen, dahinvegetieren, sterben: In den oberen Stockwerken. Oben sie – unten die: Die Reichen, die Industriellen, die Kapitalisten, die in der Bar Schampus süffeln und nackte Mädchen tanzen lassen.

„Das Hotel Savoy“, sagt Zwonimir zu den Heimkehrern, „Ist ein reicher Palast und ein Gefängnis. Unten wohnen in schönen, weiten Zimmern die Reichen, die Freunde Neuners, des Fabrikanten, und oben die armen Hunde, die ihre Zimmer nicht bezahlen können und Ignatz die Koffer verpfänden. Den Besitzer des Hotels, er ist ein Grieche, kennt niemand, auch wir beide nicht, und wir sind doch gescheite Kerle. Wir haben alle schon lange Jahre nicht in so schönen, weichen Betten gelegen wie die Herrschaften im Parterre des Hotel Savoy. Wir haben alle schon lange nicht so schöne, nackte Mädchen gesehn wie die Herren unten in der Bar des Hotels Savoy.“

Die Hoffnungen der Arbeiter, der Kriegsversehrten, der verarmten jüdischen Bevölkerung richten sich vor allem auf die Ankunft eines der ihren, der in den USA sein Glück machte: Henry Bloomfield. Dan, aus dessen Perspektive das Geschehen erzählt wird, wird dessen Sekretär – ein Mittler zwischen den Welten, der ebenso voller Mitgefühl von dem Los der Entwurzelten und Verarmten zu erzählen vermag wie von der Befindlichkeit eines Bloomfields, der in der Heimatstadt zu einer Art „Heilsbringer“ erkoren wird. Eine Rolle, vor der dieser letztlich flüchtet. Nach dessen Abreise entlädt sich der Zorn, die Gewalt: Im „Hotel Savoy“ bricht eine Revolution aus, das Gebäude liegt am Ende in Trümmern. Und Dan reist ab – ohne Perspektive, ohne konkretes Ziel.

Roman löste bei Erscheinen großes Echo aus

Der Roman erschien zunächst 1924 in der Frankfurter Zeitung als Fortsetzung und löste ein großes Echo aus: So präzise, so ironisch hatte Roth in diesem Buch den Untergang einer Epoche beschrieben, so sehr traf er mit diesem Werk, das auch als Fabel gelten könnte, den Geist seiner Zeit. Es ist die Zeit der Entwurzelung, der Verunsicherung, der Heimatlosigkeit. Die Wunden des ersten Krieges bluten noch und werden zur nächsten Katastrophe führen.

Hellsichtig schreibt Roth:
„Es sah aus, als wollte ein neuer Krieg ausbrechen. So wiederholt sich alles: Der Rauch steigt wieder aus den Schornsteinen der Baracken, Kartoffelschalen liegen vor den Türen, Fruchtkerne und faule Kirschen – und Wäsche flattert auf ausgespannten Schnüren. Es wurde unheimlich in der Stadt.“

Insbesondere die Schicksale und Empfindungen der Kriegsheimkehrer schildert Roth eindringlich und eindrucksvoll – er selbst war zunächst zwar als kriegsuntauglich eingestuft worden und vertrat zudem eine pazifistische Haltung, meldete sich jedoch zum Militärdienst 1916 auch aus Gewissensbissen heraus – zu viele andere Weggenossen aus dem Literaturstudium in Wien hatten sich schon zuvor zur Front gemeldet.

„Es ist wieder die Zeit der Heimkehrer. (…) Der Staub zerwanderter Jahre liegt auf ihren Stiefeln, auf ihren Gesichtern. Ihre Kleider sind zerfetzt, ihre Stöcke plump und abgegriffen. Sie kommen immer denselben Weg, sie fahren nicht mit der Eisenbahn, sie wandern. Jahrelang mögen sie so gewandert sein, ehe sie hier ankamen. Sie wissen von fremden Ländern und fremden Leben und haben, wie ich, viele Leben abgestreift.“

Mit starken Bildern, präziser Sprache, melancholisch, aber unsentimental entwirft Roth auf den wenigen Seiten dieses Romans ein ganzes Bild seiner Epoche, ein Weltbild. Dies macht das Werk unbedingt empfehlenswert.

„Die Heimkehrer sind meine Brüder, sie sind hungrig. Nie sind sie meine Brüder gewesen. Im Felde nicht, wenn wir, von einem unverstandenen Willen getrieben, fremde Männer totmachten, und in der Etappe nicht, wenn wir alle, nach dem Befehl eines bösen Menschen, gleichmäßig Beine und Arme streckten.“

Die Kriegserfahrungen wurden für den 1894 in Ostgalizien geborenen Joseph Roth zu einem einschneidenden Erlebnis. Dies und der Untergang der alten Zeit, der Zerfall Österreich-Ungarns wurden Themen, die der Schriftsteller und Journalist immer wieder aufgriff. Roth erlangte schließlich mit den Romanen Hiob und Radetzkymarsch hohe Bekanntheit. 1933 musste der jüdische Schriftsteller nach Frankreich emigrieren, er starb, verarmt und an den Folgen seiner jahrelangen Alkoholerkrankung leidend, in Paris am 27. Mai 1939.