Joy Williams: Stories

In den USA ist Joy Williams lange schon eine literarische Größe, bewundert von Lauren Groff, Don DeLillo, Raymond Carver und anderen. Auf dem deutschen Buchmarkt wird das Werk der fast 80-jährigen Autorin erst jetzt entdeckt. Höchste Zeit!

Bild von Robert Balog auf Pixabay

„Dann, eines Nachmittags, kam Walter von der Arbeit in der Autowerkstatt nach Hause, und es schien, als wäre er aus einem seltsamen Schlaf erwacht. Sein Erwachen schien ihn nicht zu erschrecken. Seine kummervollen Tage und Nächte endeten mit einer Wucht, die nicht größer war als das Auflaufen eines Bootskiels am Ufer eines Flusses.“

Aus der Erzählung „Letzte Generation“
Joy Williams, „Stories“


Es sind diese beinahe beiläufigen Bilder, sacht wie das Auflaufen eines Bootskiels, die Joy Williams zu einer Meisterin des Untergründigen machen. In den USA ist die 1944 in Chelmsford, eine Kleinstadt in Massachusetts geborene Schriftstellerin, lange schon eine literarische Referenz: Bewundernde Noten von Don DeLillo, Bret Easton Ellis, Lauren Groff und Raymond Carver sind auf der Rückseite der deutschen Buchausgabe ihrer „Stories“ zu lesen.

In ihrer Heimat vielfach ausgezeichnet, hierzulande bislang noch völlig unbeachtet: Zwei übersetzte Bände erschienen vor über drei Jahrzehnten, danach las man nichts mehr über die Erzählerin. Umso erfreulicher, dass der Band „Stories“ nun von der ganzen Bandbreite des Feuilletons besprochen wurde. Zu Recht: So grandios taucht kaum eine in das menschliche Herz der Finsternis ein. „Stories“ versammelt eine kluge Auswahl aus dem Werk von Joy Williams, sozusagen ein „best of“ von den 1970er-Jahren bis 2014, die die Bandbreite dieser Schriftstellerin zeigen.

Mit einer bissigen Lust an der Entlarvung ihrer Figuren

Mit kurzen, pointierten Sätzen nimmt sie ihren Figuren die Masken vom Gesicht, entlarvt sie mit einer gewissen bissigen Lust. Über Jack, einen egozentrischen forensischen Anthropologen, der sich bei einem Jagdunfall mit einem Pfeil durchs Auge selbst das Gehirn wegschießt, lässt sie dessen frustrierte Lebensgefährtin Miriam sagen:

„Aus der Reha kam er mit einem Gesicht nach Hause, das so ausdruckslos war wie ein glasierter Kuchen.“

Miriam begibt sich in der Erzählung „Kongress“ schließlich mit Jack und dessen Studenten Carl, dessen Besitzansprüche an den behinderten Forscher immer massiver werden, auf einen Roadtrip, beginnt mit einer Lampe mit Tierfüßen zu sprechen und übernimmt am Ende die Stelle eines Präparators in einem Naturkundemuseum mitten in der Pampa. Frank Schäfer kritisierte in seiner Rezension in der “taz” diese Story als einzige, die zu sehr in eine Traumlogik abgleite, andere erkennen in solchen Erzählungen die Nähe zu George Saunders.

„Auch Williams betrachtet die Realität so lange, bis sie einem irgendwann ganz fremd erscheint“, meint Frank Schäfer. „Kongress“ aber zeigt in meinen Augen: Ebenso beherrscht Williams die Kunst, das Irreale ganz normal, ganz real erscheinen zu lassen. Warum nicht öfter mit einer Lampe sprechen?

Ein Abbild amerikanischer Tristesse

Tatsächlich fällt „Kongress“ unter den insgesamt 13 Erzählungen in „Stories“ etwas aus dem Rahmen. Gemeinsam haben sie jedoch alle eines: Sie sind Skizzen dieser speziellen amerikanischen Tristesse, die man auch aus Werken anderer US-Schriftsteller – neben Williams‘ Studienkollegen Raymond Carver sowie Lucia Berlin wären da auch die etwas älteren Richard Yates und John Cheever zu nennen – kennengelernt hat.

Doch neben der Genauigkeit des Beobachtens und der feinen Zeichnung ihrer Figuren (meist Verzweifelte, Abgehängte, Ausgebrannte), der Kunst der feinen psychologischen Skizzierung, die Charaktere in wenigen Bildern greifbar macht und untergründigen Melancholie, die diese Autor*innen gemeinsam haben, sind die Stories von Joy Williams in einem Wesenszug einzigartig: Sie verströmen eine Aura des Unheimlichen, Abgründigen, die einen immer wieder erschauern lässt. Es wundert nicht, dass Bret Easton Ellis „der Mut fehlt, die Geschichten ein zweites Mal zu lesen“.

In „Liebe“ erblickt ein kleines Mädchen bei einer winterlichen Autofahrt einen „Schneeschuhhasen“:

„Der Hase ist prächtig! Und so schnell! Er gleitet um unsichtbare Hindernisse, wie ein Wesen aus einem freundlichen Traum, fliegt über den Graben, die Pfoten wie Paddel, leicht gelblich, von der Farbe rohen Holzes.“

Sekunden später ist der Hase tot und „stürzt, wie eine Kugel, Pfoten und Kopf eng an den Körper gepresst.“

Immer nah am Kipppunkt zur Tragödie

Urplötzlich kommt in diesen Erzählungen der Kipppunkt, in denen die Normalität zur großen Tragödie wird. Oder zumindest schleicht sich die Ahnung ein, dass das Ganze böse enden könnte, sei es nun in „Lu-Lu“, als eine junge Frau die Boa Constrictor ihrer alten Nachbarn entführt oder in der Erzählung „Rost“: Der weitaus ältere Ehemann von Lucy, Dwight, entflammt für einen rostigen Ford Thunderbird, dem keine Autowerkstatt noch eine Chance gibt. Schließlich landet das Auto im Wohnzimmer und das ungleiche Paar im Auto, aus der Fensterscheibe starrend. Das unspektakuläre Ende ist ganz groß. Man kann nur das Schlimmste fürchten:

„Ein leichter Regen fiel, ein warmer Frühlingsregen. Während sie hinsah, fiel er rascher. Er war silbrig, doch je rascher er fiel, desto weniger wirkte er wie Regen, und sie konnte es fast klirren hören, als er auf die Straße traf.“

Warum Joy Williams erst jetzt im deutschsprachigen Raum als große Entdeckung gefeiert wird, mag vor allem darin liegen, dass die Form der Erzählung es auf dem deutschen Buchmarkt allgemein schwer hat. Was die Gründe dafür sind, ist mir ein Rätsel: Für mich ist es große Kunst, eine ganze Welt und ein ganzes Leben, dichte Atmosphäre und funkelnde Sätze auf wenige Seiten zu packen, ohne alles erzählen. Die Kunst der Andeutung – diese beherrscht Joy Williams meisterhaft.


Informationen zum Buch:

Joy Williams
Stories
Übersetzt von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz
Dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28321-2

Kurz&knapp: Das Leben der Männer bei Salter, Stegner und Williams

Eine Frage, die sich jeder einmal stellt, der über die Endlichkeit des Lebens reflektiert: Was bleibt? Sie prägt diese drei Romane großer amerikanischer Autoren.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Als William Stoner sehr jung war, hatte er die Liebe für einen vollkommenen Seinszustand gehalten, zu dem Zugang fand, wer Glück hatte. Als er erwachsen wurde, sagte er sich, die Liebe sei der Himmel einer falschen Religion, dem man mit belustigter Ungläubigkeit, vage vertrauter Verachtung und verlegener Sehnsucht entgegen sehen sollte. Nun begann er zu begreifen, dass die Liebe weder Gnade noch Illusion war; vielmehr hielt er sie für einen Akt der Menschwerdung, einen Zustand, den wir erschaffen und dem wir uns anpassen von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick durch Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte.“

John Williams, „Stoner“


Was zählt, wenn man die Bilanz für sein Leben zieht, die Jahre in der Summe nimmt? Was ist, was bleibt, war es gut? Drei amerikanische Romanciers haben sich dieses zum Thema gemacht – bilanzierende Werke, sprachlich brillant und mit einem großen Schuss Melancholie ausgestattet. Und noch eine Parallele: Alle drei Romane handeln von Männern, deren Berufung weniger das Leben, sondern die Sprache ist – das Schreiben, das Lehren, das Lektorieren. Bei zweien möchte man am Ende sagen: Wenigstens hatten sie dies, hatten sie schon die Liebe nicht.


James Salter – dezente Lakonie

„Irgendwann wird einem klar, dass alles ein Traum ist und nur geschriebene Dinge die Möglichkeit haben, wirklich zu sein.“

Bezeichnend, was James Salter (Jahrgang 1925) seinem Roman „Alles, was ist“ als Motto voranstellt. Die ersten zehn Seiten des Buches branden an wie eine Bugwelle: Der Leser wird wie der junge Philip Bowman hineingerissen in eine Schlacht im Zweiten Weltkrieg im Pazifik. Alles, was folgt – die erste Liebe, das Werben, die Heirat, die Scheidung, der Aufstieg in einem Verlag, Reisen, weitere Geliebte, weitere Trennungen, Freundschaften, Todesfälle, Verluste – nimmt weit weniger Raum ein.

Jede Begegnung mit einer Frau zunächst voller Emotion, Bowman spricht schnell von Liebe – aber mehr und mehr perlen Emotionen von ihm ab, werden Trennungen beiläufiger, scheinen Enttäuschungen und Verluste keine Risse zu hinterlassen. Das Leben läuft so vor sich hin – oder ihm davon, je nach Perspektive. Und am Ende war es das. Und man bedauert diesen Mann, der doch mit allen Möglichkeiten ausgestattet war: Tja, wenn das nun alles war.

Salter erzählt von einem Leben, das von außen glamourös erscheint, voller Ereignisse, in einem lakonischen, beiläufigen, manchmal dezent zynischen Stil, der an John Cheever erinnert. Doch trotz des angefüllten Lebens – es ist am Ende leer. Weil: „Alles, was ist“ ist wenig, wenn man auf Distanz zum Leben bleibt – zum Leben, zu den Lieben, zu den Freunden. Bowman, der eigentlich abwesende Antiheld.

James Salter, “Alles was ist”, OA 2013, in deutscher Übersetzung beim Berlin-Verlag.


John Williams – stille Agonie

„Er hatte jene Phase in seinem Leben erreicht, in der sich ihm mit wachsender Dringlichkeit eine Frage von solch überwältigender Einfachheit stellte, dass er nicht wusste, wie er darauf reagieren sollte. Er begann sich nämlich zu fragen, ob sein Leben lebenswert sei, ob es das je gewesen war (…). Er fand ein ebenso grimmiges wie ironisches Vergnügen an der Möglichkeit, ihn habe jenes bisschen Bildung, das er sich erworben haben mochte, zu folgender Einsicht geführt: Letzten Endes war alles, selbst das Studium, das ihm dieses Wissen ermöglichte, sinnlos und vergeblich und gerann zu einem unabänderlichen Nichts.“

Stoner ist der vollkommene Gegenpart zu Salters Bowman: Ein stiller Mann, der, aus ärmlichen Verhältnissen kommend die Liebe zur Literatur entdeckt, sich ein Leben an der Universität erwählt und geradezu erkämpft, der weder so scheinbar abgeklärt noch zynisch ist wie Salters Held und sich beinahe naiv, still und „unschuldig“ den Verhältnissen in die Hand gibt. Steht Bowman für Eleganz und Glamour, viel Oberfläche, steht Stoner für Arbeit und Dienen, und das in der zweiten Reihe.

Aber er ist einer, der irgendwie mit zäher Kraft überlebt – auch gegen die Umstände: Eine gescheiterte, lieblose Ehe, die geliebte Tochter verfällt dem Alkohol, er selbst wird an der Universität angefeindet und in seiner Berufung beschnitten. Und dennoch behält Stoner Liebe, Mitgefühl, Verständnis und vor allem auch seine Würde. Nur einmal ist ihm im Leben das reinste Glück mit einer Frau vergönnt – Aber auch dies muss scheitern, die Verhältnisse, sie sind nicht so. Ein stiller Held, mit dem man mitleidet und mitlebt – bis zum Ende:

„Die Finger lockerten den Griff, und das Buch, das sie gehalten hatten, rutschte langsam und dann immer rascher über den reglosen Leib und fiel in die Stille des Zimmers.“

Der Roman „Stoner“ erschien 1965 und blieb ohne große Resonanz. Dass er wiederentdeckt wurde, ist eines der kleinen Wunder der Literatur. Stoner, für mich einer der traurigen Helden – ein Mann der Hingabe und der Hinnahme, einer, der sich in Würde in sein Schicksal begibt.

John Williams, “Stoner”, OA 1965, in deutscher Übersetzung bei dtv.


Wallace Stegner – gelassene Melancholie

„Ich stelle mir vor, sie wäre im Kindbett gestorben, unter den Händen jenes Arztes, bei dessen Erinnerung mich heute noch die Wut befällt und dessen Namen ich wohlweislich vergessen habe. Ich hätte diesen Kreißsaal als ein Nichts verlassen, vernichtet durch das blutige Etwas, das auf dem OP-Tisch blieb, aber ich hätte sie überlebt. Ich hätte weitergelebt und wahrscheinlich weitergeschrieben, denn das Schreiben war neben Sally das Einzige, was meinem Leben Sinn und Halt gab.“

In „Zeit der Geborgenheit“ erzählt Wallace Stegner ganz unaufgeregt und gelassen von zwei Ehepaaren, die über Jahrzehnte hinweg miteinander eng verbunden sind. Larry, der Erzähler aus der Ich-Perspektive, hat viel mit „Stoner“ gemeinsam: Er erarbeitet sich den Weg an die Universität, er kommt aus „kleinen“ Verhältnissen, er erobert sich die Literatur. Doch anders als „Stoner“ begegnet ihm das Glück – mit Sally, der Frau, mit der er sein Leben lang zusammenbleiben wird. Als Spiegel dient dem Paar das Ehepaar Sid und Charity – privilegiert, begütert, aber weniger in Liebe als in Reibung aneinander gekettet. Als Charity im Sterben liegt, zieht der Erzähler auch seine Bilanz: Abgeklärt, weise und voller Dankbarkeit für das Glück, dem einen Menschen begegnet zu sein, der sein Leben zusammenhielt.

Wallace Stegner (1909-1993), unterrichtete unter anderem in Stanford, erhielt für seine Bücher den Pulitzer-Preis und den National Book Award und ist dennoch im deutschsprachigen Raum noch einer der weniger Bekannten der modernen amerikanischen Klassiker. Schade – ich schätze seinen ruhigen, gelassen Erzählstil sehr.

Wallace Stegner, “Zeit der Geborgenheit”, OA 1987, in deutscher Übersetzung bei dtv.


Drei Romane, drei Leben, eine Bilanz:

Jedes Buch für sich kann ich wärmstens empfehlen. Jedes bietet einen Anstoß dazu, nachzudenken, was das Leben alles ist. Was uns zufrieden macht, was uns streben lässt, was gut ist, was wichtig ist.
Für mich war jedoch nach James Salter und John Williams die Lektüre von Wallace Stegner der perfekte, tröstliche Abschluss. Denn woran Salters Held scheitert und was „Stoner“ nicht vergönnt ist, das zumindest erfährt der Erzähler in Wallace Stegners Roman:

„…einen Zustand, den wir erschaffen und dem wir uns anpassen von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick durch Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte.“

Kurz&knapp: Richard Yates und John Cheever in der Vorstadthölle

Die Konformität der amerikanischen Vorstadt, in der Träume junger Ehepaare schnell ersticken, sie war das Thema einiger großer amerikanischer Autoren.

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Bild von Free-Photos auf Pixabay

In der amerikanischen Literatur der 1950-er bis 1970-er Jahre finden sich einige großartige Romane über ein ganz spezielles Biotop: Über die mittelständischen (und natürlich ausschließlich „weißen“) suburbs. Selten wurde die Vorhölle der Vorstadt und ihre spezielle Einwohnerschaft so klarsichtig, unnachgiebig und auch zynisch geschildert wie in einigen Romanen der großen amerikanischen Autoren dieser Zeit – Richard Yates vorneweg, aber auch bei John Updike, Sloan Wilson und bei John Cheever.

Das Suburbia-Leben scheint sich in diesen Büchern nur alkoholisiert ertragen zu lassen: Der Ehemann gehört zur Spezies Pendler, der mittags mit den Kollegen (oder der Geliebten in der Stadt, oft eine Sekretärin aus der Firma) gerne schon die ersten Drinks kippt. Derweil verabschiedet sich die Gattin, langsam resignierend, von eigenen Lebensentwürfen und ertränkt im Kreise ihrer Leidensgenossinnen die Langeweile in Cocktails. Auch die gemeinsamen Stunden am Abend sind nur promillegeschwängert zu ertragen. So sind die Vorstadtromane oftmals auch Psychogramme junger Ehepaare auf dem Weg hin zu einer eheimmanenten Altersgereiztheit – wenn der Tod sie nicht schon vorher scheidet. Liebe, die kurz und manchmal schmerzhaft erstickt wird von den Konventionen der Vorstadtgesellschaft. Zwei grandiose Beispiele dafür in näherer Betrachtung: “Zeiten des Aufruhrs” von Richard Yates und “Die Lichter von Bullet Park” von John Cheever.


Zwei Jahre zuvor hatten sie diese Strecke, als zustimmend nickende Beifahrer im Kombi von Mrs. Helen Givings, einer Immobilienmaklerin, zum ersten Mal zurückgelegt. Am Telefon war Mrs. Givings höflich, aber zurückhaltend gewesen – oft genug kamen Leute aus der Stadt hier heraus und verschwendeten die Zeit der Maklerin damit, dass sie unakzeptable Kaufbedingungen aushandeln wollten -, doch schon von dem Augenblick an, als die Wheelers aus dem Zug gestiegen waren, hatte Mrs. Givings, wie sie später ihrem Mann erzählte, in den beiden ein Paar erkannt, mit dem es, trotz der niedrigen Preiskategorie, nur wenig Probleme geben würde.

Richard Yates, Zeiten des Aufruhrs, 1961

So kann man sich täuschen – denn das Haus in der Revolutionary Road (so der Originaltitel des Romans) bringt dem Paar kein Glück. Nur anfangs scheinen April und Frank voller Ambitionen und Hoffnungen, voller Liebe und Zuneigung. Doch die Vorstadt kriegt sie alle: Es gibt keine Revolution in der Straße der Revolution. Es ist der falsche Ort, es ist das  falsche Leben. Während Frank sich zunächst bei seinem Job langweilt, hofft April immer noch, dass die einstmaligen Träume von der Bühne wahr werden könnten. Doch das Leben läuft anders: Frank beginnt die übliche Karriere und April verblüht in der Vorstadt.

Ein letztes Aufbäumen ist ihr Plan, nach Frankreich auszuwandern. Während April noch an Aus- und Aufbruch glaubt, entpuppt sich Frank als Blender. Seine hochfliegenden Träume von einer kreativen Karriere verpuffen, er gibt sich – weil er sich seine eigenen kleinen Freiheiten herausnehmen kann – gerne mit dem kleinen Leben in der kleinen Stadt zufrieden. April jedoch bezahlt dafür einen hohen Preis. Ein Roman, der sich flüssig liest, der seine vielen inhaltlichen Ebenen bei wiederholten Lektüren nach und nach offenbart.


“Im Ort gibt es vier Kirchen. Vom Gorey Brook Country Club haben Sie wahrscheinlich schon gehört. Dort gibt es einen herrlichen, von Pete Ellison entworfenen Achtzehn-Loch-Golfplatz, vier regenfeste Tennisplätze und ein Schwimmbad. Hoffentlich sind Sie kein Jude. Da gelten hier nämlich strenge Prinzipien. Ich selbst habe keinen Pool und empfinde das, ehrlich gesagt, als Manko. Wenn sich die anderen über Chemikalien und so weiter unterhalten, ist man vom Gespräch ausgeschlossen.

John Cheever, Die Lichter von Bullet Park, 1969

Wer meint, hinter- und untergründiger ließe sich Vorstadt-Tristesse nicht beschreiben, der täuscht. Das giftigste, böseste Buch zum Thema stammt von John Cheever: „Die Lichter von Bullet Park“, 1969 erschienen. Was in dieser fiktiven, aber wirklichkeitsnahen Vorhölle von denen, die sich hier ansiedeln wollen, erwartet wird, das wird schon beim Hausverkaufsgespräch ganz klar.

Cheever, der auch mal gerne als „Tschechow Amerikas“ oder „Chechov of Suburbia“ bezeichnet wird, erzählt hier mit einem gnadenlosen Blick auf die Mittelschicht. Nichts ist und bleibt dabei so „herrlich, herrlich, herrlich, herrlich wie früher“, um den allerletzten, bösen Satz dieses Buches zu zitieren.

Im Roman wird der Blick auf zwei Familien geworfen: Zunächst steht der unauffällige Marketingangestellte Nailles im Fokus. Die blendende Fassade kann er jedoch nur noch mit Medikamenten aufrechterhalten. Eliot Nailles trifft auf seinen neuen Nachbarn Paul Hammer, dem der zweite Teil des Buches gewidmet ist. Ein Alkoholiker, der mit dem psychopathischen Plan, Nailles zu töten, nach Bullet Park gezogen ist. Die Verbindung der beiden Männer, die selber nur Opfer dieser Hölle der Vorgärten sind, erschließt sich erst im Laufe des Buchs. Doch eines wird schnell klar: In diesem Biotop bigotter, judenfeindlicher, schwulenhassender Vorstadtscheinheiliger braucht man so oder so alle Geisteskräfte, um nicht den Verstand zu verlieren.

Lucia Berlin: Was ich sonst noch verpasst habe

Lucia Berlin erzählt von Menschen, meist Frauen, die im alltäglichen Elend ihre Würde und den Lebenswillen bewahren. Und sie erzählt damit von sich selbst.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Mein Leben begann ruhig, ich wohnte in Bergbaustädten und zog zu oft um, um Freunde zu haben. Ich suchte mir einen Baum oder einen Platz in einem alten verlassenen Hüttenwerk und saß in der Stille. Meine Mutter las normalerweise oder schlief, und so sprach ich meistens mit meinem Vater. Sobald er zur Tür hereinkam oder wenn er mich in die Berge und ins tiefe Dunkel der Minen mitnahm, redete ich ununterbrochen. Dann ging er ins Ausland, und wir lebten in El Paso, Texas, wo ich die Vilas-Schule besuchte. In der dritten Klasse konnte ich gut lesen, hatte aber vom Addieren keine Ahnung. Ein schweres Korsett auf meinem Rücken. Ich war hochgewachsen, aber immer noch wie ein Kind. Ein Wechselbalg in dieser Stadt, als hätten mich Bergziegen in den Wäldern aufgezogen.”

Lucia Berlin, „Was ich sonst noch verpasst habe“
Zitat aus der Erzählung „Stille“


Ein Wechselbalg, eine Außenseiterin, von Kindheit an unterprivilegiert, niemals dazugehörend. Stille, Einsamkeit, Melancholie als Erbe. Sie dringen durch jede dieser Erzählungen. Zugleich aber auch eine Sprödigkeit, eine Lakonie, trockene Humorsicht auf die Welt, das Streben der Ehrgeizigen nach einem Quäntchen mehr an Glück leise belächelnd. Lucia Berlin erzählt von jenen – meist Frauen – die sich dennoch behaupten, im alltäglichen Elend ihre Würde bewahren, den Lebenswillen auch. Sie erzählt von unterbezahlten Krankenschwestern, ausgebeuteten Putzfrauen, illegalen Einwanderinnen, Suchtkranken in der Reha, Alkoholikerinnen im wiederholten Entzug, von den Underdogs, die sich in Waschsalons, auf der Straße, auf der Flucht treffen – und sie erzählt immer auch von sich selbst, an ihrer eigenen Biographie entlang.

Dunkle Königinnen der Selbstbehauptung

Die Frauen, von denen sie erzählt, das sind trotz ihrer Schwächen, ihrer Demütigungen und Verletzungen jedoch keine Gebrochenen – es sind die dunklen Königinnen der Selbstbehauptung. Ein Abbild dieser Schriftstellerin vielleicht, die in einem Brief an einen Freund über sich selber schrieb: „Keine Gefühle zeigen. Nicht weinen. Lass niemanden an dich ran.“ Nicht gerade das Heilsrezept, das die moderne Psychotherapie Menschen mit einer Biographie ähnlich derer der amerikanischen Autorin (1936 – 2004) verordnen würde – Sprechen lautet da die Diagnoseempfehlung. Manches ist jedoch vielleicht einfach auch unsagbar. Und nur durch die Verwandlung in Literatur findet es seinen Ausdruck – so stelle ich mir das Schreiben der Lucia Berlin vor, für die vielleicht (das ist meine Spekulation) das Verfassen von Texten der einzige Ruhepol in einem unruhigen Leben war, die einzige Möglichkeit, Schläge abzuwehren, Verletzungen zu heilen.

Ein Blick auf die Biographie: In Alaska geboren, der Vater Bergbauingenieur, der beruflich bedingt ein unstetes Leben führen muss, die Mutter eine Trinkerin. Im Alter von zehn Jahren erkrankt Lucia Berlin in Chile an Skoliose, der Vater verlässt die Familie, die bei den Großeltern unterkommt. Großvater und Onkel sind ebenfalls Trinker, wie in zwei Erzählungen angedeutet ist, wird Lucia Berlin zudem Opfer sexuellen Missbrauchs durch den Großvater. Sie selbst kämpft später ihr Leben lang gegen den Alkoholismus an, heiratet Männer, die selbst am Abstürzen sind, erzieht ihre vier Söhne größtenteils alleine, wechselt häufig die Wohnorte. Und ist daneben noch, vor allem in den 1960er bis 1980er Jahren literarisch überaus produktiv – wenn auch öffentlich kaum beachtet.

Berühmtheit erst nach ihrem Tod

„Lucia Berlin“, so heißt es in einer wunderbaren Annäherung an die Schriftstellerin durch Mara Delius in der „Welt“, „blieb so unbekannt, dass sie noch nicht einmal vergessen werden konnte, als sie gestorben war.“ Tatsächlich gelangt die amerikanische Autorin erst jetzt, eine Dekade nach ihrem Tod, zu einer Art literarischen Berühmtheit. Als 2015 die Erzählungen unter dem Titel „A  Manual for Cleaning Women“ erschienen, wurde diese Wiederentdeckung zu einer literarischen Sensation. Und auch im deutschen Sprachraum  bekommt Lucia Berlin nun die Aufmerksamkeit, die ihr – und davon bin ich fest überzeugt – gebührt. Der Arche Verlag brachte die Erzählungen Anfang 2016 unter dem Titel „Was ich sonst noch verpasst habe“ heraus, wunderbar übersetzt von Antje Rávic Strubel.

Diese zeigt sich in ihrem Vorwort begeistert von der Amerikanerin – eine Begeisterung, die ich nur teilen kann:

„Mit ihrer unbehauenen Sprache, ihren ungeschönten Schilderungen und komplexen Figurenporträts, durchwoben von abgründigem Witz, hat Lucia Berlin allerdings ein unverkennbar eigenes, einzigartiges literarisches Universum geschaffen. Diese Autorin schaut dorthin, wo es wehtut. Den Schmerz fängt sie in einem dunklen Lachen auf.“

Das dunkle Lachen, das vom Schmerz in jeder Freude weiß – es klingt durch viele dieser Erzählungen, die sind wie „Tigerbisse“ – so lautet der Titel einer Erzählung über eine geplante Abtreibung in Mexiko:

„Und da war sie, Bella Lynn! Auf dem Parkplatz des Betriebsbahnhofs. Stand aufrecht winkend in einem taubenblauen Cadillac-Cabrio, in fransenbesetzten wildledernen Cowgirl-Klamotten. Sie war bestimmt die schönste Frau in West-Texas und hatte tausend Schönheitswettbewerbe gewonnen. Langes hellblondes Haar und goldbraune Augen. Ihr Lächeln, nein, es war ihr Lachen, ein dunkles, tiefes, wasserfallartiges Lachen, das Freude verströmte, das vom Schmerz in jeder Freude wusste und sich darüber lustig machte.“

Meisterwerke der kurzen Form

Schon in etlichen Feuilletons besprochen, ist Lucia Berlin jedoch wohl immer noch so etwas wie ein Geheimtipp. Für mich jedoch sind diese Erzählungen das Beste, was ich in der vergangenen Zeit aus der amerikanischen Literatur gelesen habe.

Man nehme die Stories von Carver, Cheever und Yates, gebe ihnen einen weiblichen Blick auf das Amerika der 1970er- bis 1980er Jahre, verdunkle sie, intensiviere sie, mache sie noch vollkommener, kristallklarer, diamantenhart – und dann stößt man auf die Essenz der Lucia Berlin. Doch anders als die erwähnten erzählenden Männer lässt sich Lucia Berlin ihren Blick auf die Welt nicht durch abgeklärten Zynismus verstellen – anders als sie überrascht sie auch in den dunkelsten Ecken ihres erzählerischen Daseins durch Freude.

Ihr Herausgeber und enger Freund Stephen Emerson sagt über ihre Art des Erzählens:

„Freude ist ein wesentliches Element in ihrem Werk. Ein seltenes Gut, das man nicht so oft findet. Balzac, Isaac Babel, García Márquez fallen einem ein. Eine Prosa, die so tief in die Welt hineingreift wie die Lucia Berlins, feiert sie. Ihr Werk ist von einer Freude durchdrungen, die von dieser Welt abstrahlt.“

Lesen! Und über die Wiederentdeckung dieser Autorin freuen!


Informationen zum Buch:

Lucia Berlin
Was ich sonst noch verpasst habe
Übersetzt von Antje Rávic Strubel
dtv Verlag, 2017
ISBN: 978-3-423-14586-2

Ebenso zu empfehlen: Die amerikanische Erzählerin Joy Williams.

John Cheever: Ach, dieses Paradies

Er war ein perfekter Stilist: John Cheever. Dies zeigt auch sein letzter Roman “Ach, dieses Paradies.” Eine ironische Erzählung über das Scheitern.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Wenn er im Kino sah, wie sich ein Mann und eine Frau leidenschaftlich küssten, fragte er sich stets, ob das ein Land war, dass er schon am nächsten oder übernächsten Tag verlassen musste.“

John Cheever, „Ach, dieses Paradies“


Den letzten Roman des 1982 verstorbenen US-Amerikaners als ökologisches Lehrstück zu beschreiben, wie es auch schon geschehen ist, greift viel zu kurz. Sicher, vordergründig ist dies der Plot. Lemuel Sears, ein alternder Geschäftsmann, zieht seine Kreise auf Kufen über den vereisten Lake Beasley seiner Kindheit. Kurz darauf wird der Teich zur Mülldeponie erklärt, ein Kampf um den Erhalt Arkadiens beginnt.

Dieser wenige Zeit vor Cheevers Tod veröffentlichte Kurz-Roman (Cheever, der zunächst durch seine Erzählungen berühmt und mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet wurde, bestand auf die Bezeichnung „Roman“) ist jedoch mehr als eine Lang-Erzählung über die Zerstörung der Natur durch den Menschen. Die Vermüllung der Kindheit – das ist eine Metapher, ein Sinnbild für die andauernde Suche des Menschen nach dem Paradies. Auf dem Weg dorthin macht das Tier auf zwei Beinen sich und den anderen solange das Leben perfekt zur Hölle. Und vor allem ist es eine Erzählung über Verluste: Den Verlust der Unschuld, der Reinheit, der Kindheit, der Liebe, des Verlangens. Erzählt wird der vergebliche Kampf gegen das Altern, das Verschwinden der Schönheit, der Kampf gegen die kindlich-menschliche Urangst vor der Vertreibung aus dem Paradies,

Perfekter Stil

John Cheever beschreibt das Treiben seiner Protagonisten – neben Sears beinhaltet der Roman trotz seiner Kürze noch etliche bemerkenswerte Nebenstories mit ebenso bemerkenswerten Figuren – auf der Höhe seiner Erzählkunst. In seinen ersten, den Wapshot-Romanen, erzählte Cheever die Geschichten aus – von „Die Lichter in Bullet Park“ über „Falconer“ bis hin zum Paradies kann man die Perfektionierung eines Stils, der die hintersinnige Andeutung beherrscht, mit-erlesen.

Im Paradies sind die Fäden lose miteinander verknüpft, die Erzählung ist ein wunderbar leichtes Gespinst, kommentiert von einem ironisch-distanzierten Erzähler. Ein bitterschönes Stück Literatur, das Cheever mit vollendetem Understatement durch seinen Erzähler enden lässt: „…und wie ich schon zu Beginn sagte, ist dies bloß eine Geschichte, die sich vortrefflich als Bettlektüre für eine Regennacht in einem alten Haus eignet.“


Informationen zum Buch:

John Cheever
Ach, dieses Paradies
DuMont Buchverlag, 2013
ISBN: 978-3832196912