
Lange Zeit hat uns Peggy Richter auf ihrem Blog “Entdecke England” mit ihren Beiträgen über Land und Leute, Geschichte und Kultur, Führungen durch die Museen und Dichterhäuser in London und ganz Großbritannien begeistert. Mit ihr ließ sich England wunderbar entdecken. Wer ihren Blog verfolgt, weiß jedoch, dass der Brexit auch hier seine Folgen hat: Peggy und ihre Familie verlassen England in Richtung Dubai. Ich möchte ihr und ihren Lieben an dieser Stelle noch einmal alles Gute für den Neustart wünschen – und ich freue mich auf ihre Beiträge aus einer ganz anderen Welt.
Zuvor hat Peggy mich jedoch mit ihrem Klassiker ziemlich überrascht: Eigentlich rechnete ich mit einem der großen britischen Schriftsteller. No way! Faust sollte es sein. Grandios, fand ich – denn was wäre eine Klassikerreihe ohne Goethe?
Ich kann mich noch genau erinnern, als ich die alte geschwungene Treppe in meiner neuen Schule hochging. Es war 1990 und es roch nach Bohnerwachs und großen Erwartungen. Ein knappes Jahr zuvor war die Mauer gefallen und ich, in der DDR aufgewachsen, fühlte, dass mir die ganze Welt offenstand. Alles, was ich tun musste, war, meinen Weg mit Bedacht wählen und ihn zielstrebig verfolgen. Aber welcher Weg war der Richtige? In dieser Zeit, als die Möglichkeiten grenzenlos schienen, es aber keine Orientierungspunkte gab, weil alles bisher Bekannte plötzlich keinen Bestand mehr hatte; in dieser Zeit, als das gesellschaftliche Chaos mit meinem pubertären Gefühlschaos Hand in Hand ging, traf ich einen Gelehrten auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Sein Name war Faust. Er hatte viel studiert, fühlte sich aber weiter denn je davon entfernt, das Geheimnis des Lebens zu lüften. Auf den ersten Blick war er kein sehr sympathischer Zeitgenosse, ein Nörgler, einer, der nie zufrieden war. Aber je näher ich ihn kennenlernte, desto mehr fühlte ich mich ihm verbunden.
Wie bei Faust schlugen auch in meiner Brust zwei Herzen: Einerseits wollte ich wissen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, andererseits wirkten die Mädchen und Jungs, die sich heimlich vom Schulhof schlichen, um zu rauchen, cooler und irgendwie näher am Leben. Faust entflieht der Studierstube, die ihm zum Gefängnis geworden ist, mithilfe von Mephisto. Auf der Suche nach dem höchsten Glücksgefühl, probiert er alles aus, was das Leben zu bieten hat: ein Saufgelage in Auerbachs Keller, die Verführung Gretchens und allerlei andere Zerstreuungen. Ich stürzte mich derweil mit einer Packung Zigaretten ins Leben. Aber genau wie Faust stellte ich bald fest: Nur weil ich irgendwo dabei war, fühlte ich mich noch lange nicht zugehörig. Ich war Zuschauer in einem Stück, das mich nicht wirklich interessierte. Und die Zigaretten haben mir auch nicht geschmeckt. Ich musste meinen eigenen Weg zum Glück finden.
Faust hat mich, die ich selbst eine Suchende war, tief berührt. Dieser innere Kampf zwischen dem, was man ist, und dem, was man gerne sein will, die richtige Mischung aus Pflicht und Kür, Forscherdrang und Lebensfreude zu finden, das waren und sind für mich die Kernthemen des Lebens. Wer ist schon immer voll und ganz mit seinem Leben zufrieden? Und was würde einen noch antreiben, wenn man es wäre? Leben ist vor allem Veränderung. Es besteht aus einem ständigen Austarieren der verschiedenen Kräfte, die in einem selbst und in der Gesellschaft wohnen. Diese werden zum Teil von Mephisto, dem „Geist, der stets verneint“, der „das Böse will und das Gute schafft“, verkörpert. Er lockt mit Versuchungen und führt in Sackgassen, aber er ist auch der Mut, gegen den Mainstream zu schwimmen und Neues zu entdecken.
Am Ende des zweiten Teils findet Faust seine Erfüllung, als er dem Volk hilft, neues Land zu gewinnen. Und auch im wahren Leben gibt es meiner Erfahrung nach keine Zufriedenheit, wenn man nicht eine Aufgabe hat, in der man aufgeht. Wer kennt nicht dieses tiefe innere Glücksgefühl, nachdem man etwas geschafft hat – sei es im Beruf, am Ende einer langen Wanderung, wenn man Tomaten im eigenen Garten erntet oder einen Blogartikel online gestellt hat? Oder, um es mit Faust zu sagen:
„Das ist der Weisheit letzter Schluss:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.“
Der besondere Reiz von Faust liegt für mich allerdings darin, dass er viele Facetten hat. Gleich zu Beginn streiten Dichter und Theaterdirektor darüber, ob ein Stück nur dann gut ist, wenn es ein Kassenschlager ist. Fausts Seele ist der Wetteinsatz eines Spiels zwischen Gott und Teufel, was dem Stück eine transzendentale Note verleiht. Faust verkauft dem Teufel seine Seele, um etwas zu erreichen, das er aus eigener Kraft nicht schafft – eine immer wieder gern verwendete Metapher in Film und Literatur. Und da ist Gretchen, von Faust verführt und verlassen und dadurch zum Kindsmord getrieben. Das Werk strotzt vor Themen, die in abgewandelter Form nichts an Aktualität verloren haben, die oft ambivalent sind und deshalb zum Nachdenken anregen. Deshalb ist er der Klassiker, der mich bis heute am nachhaltigsten beeindruckt hat.
Peggy Richter
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