Emma Bonn – Spurensuche nach einer deutsch-jüdischen Schriftstellerin

Emma Bonn (1879 – 1942) entstammte einer großbürgerlichen deutsch-jüdischen Familie. Für sie war das Schreiben auch eine Flucht aus familiärer Enge. Ein selbstbestimmtes Leben als Schriftstellerin konnte sie jedoch nicht lange führen. 1942 starb sie in Theresienstadt.

Am Starnberger See. Bild von Albrecht Fietz auf Pixabay

Traum-Deutung

Noch traumverhängt sprach ich von Menschenbeet
Und wusste doch zuvor nicht um das Wort.
Ein kühler Raum, drin Bett an Bette steht,
Ein großer wohlgehegter Krankenhort.

Die Reihen eng, so wie man Pflanzen setzt,
Die großen in der Mitte, rings die kleinen.
Im Traum betrat ich ihn, von Angst gehetzt
Und ganz erschöpft von dem verhaltnen Weinen.

Ein andrer fing das Wort vom Mund mir auf
Und gab ihm Deutung, Werden und Vergehen,
Des Menschenschicksals ewiger Verlauf,
Trotz des Gesetzes, dem wir unterstehen.

Emma Bonn, 1936


Es ist, als habe Emma Bonn in der „Traum-Deutung“ ihr späteres Schicksal schon vorausgesehen: Im Mai 1942 muss die 63-jährige Frau ihr Haus am Starnberger See, wo sie lange Jahre lebte, verlassen. Sie wird in das Israelitische Kranken- und Schwesternheim in München abtransportiert, eine Sammelstelle für Menschen jüdischen Glaubens, die in die Lager deportiert werden. Noch im Juni 1942 wird die schon seit Jahren schwerkranke und bettlägerige Frau nach Theresienstadt transportiert, wo sie am 24. Juni 1942 stirbt.

Ein Schicksal, wie es Millionen von Jüdinnen und Juden erlitten. Und wie viele andere Opfer des Nationalsozialismus wäre auch Emma Bonn – zudem als alleinstehende Frau, deren Verwandte entweder ebenfalls im Holocaust ermordet wurden oder ins Exil gingen – vergessen, gäbe es da nicht Menschen, die stetig erinnern und gegen das Vergessen arbeiten. In diesem Fall Angela von Gans, eine Großnichte der Schriftstellerin und Dichterin.

Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte

„Wenn ich mich mit Lebensgeschichten von Deutschen jüdischen Glaubens – meist im weiteren Sinne Mitgliedern meiner Familie – befasse, steht dahinter ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit, denn ich glaube fest an die individuelle Verantwortung eines jeden Deutschen, Verständnis dafür zu entwickeln, was damals in der Zeit des Nationalsozialismus passierte“, schreibt Angela von Gans im Vorwort zu ihrem Buch über ihre Großtante, das 2021 in der STROUX edition erschien.

Wie ihre Biographin entstammte die 1879 in New York geborene Emma einer der assimilierten jüdischen, großbürgerlichen Familien aus Frankfurt, die nicht nur die Mainmetropole durch ihr bürgerschaftliches Engagement bereicherten. In Frankfurt erinnert heute noch die Villa Bonn, Sitz der Frankfurter Gesellschaft, an die Familie: Emmas Vater Wilhelm Bernhard hatte das repräsentative Haus 1897 erbauen lassen, das Emma und ihr Bruder Max 1923 an die Frankfurter Gesellschaft verkauften. Auch Emma Bonn selbst zeichnete sich durch Wohltätigkeit an ihrem Wohnsitz in Feldafing am Starnberger See aus, eines der akribisch recherchierten Details, die in die Emma Bonn-Biographie eingeflossen sind.

Emmas Vater hatte den Grundstein für den Wohlstand seiner Familie in den Vereinigten Staaten gelegt: Mit 19 Jahren ging er nach einer Bankausbildung in Frankfurt zu „Speyer & Co“ nach New York, wo er wenige Jahre später bereits Geschäftsführer wurde und in dieser Funktion den Bau der Eisenbahnlinien „Central & Southern Pacific“ und „Union Pacific“ finanzierte.

Früher Tod der Mutter prägt die Familie

Der frühe Tod von Emmas Mutter, die kurz nach deren Geburt verstarb, legte einen Schatten über die Familie: Emma, ein kreatives, verträumtes, aber auch von Beginn an kränkliches Kind, litt unter ihrer Einsamkeit und einer despotischen Großmutter. 1933 schrieb sie:

Was wirklich lebt, kann nie und nie ersticken
Es keimt und sprosst und grünt, es steigt der Saft,
Mag Dich die Zeit, in der du lebst, auch nicht erquicken,
Die Zeit, in der du lebst, hält Dich in Haft.

Auch die Rückkehr der Familie nach Frankfurt änderte an ihrer Situation wenig. Angela von Gans schreibt:

„Ihren Traum, Opernsängerin zu werden, kann Emma nicht durchsetzen, da sie als Frau bei der Berufswahl auf die Einwilligung ihres Vaters angewiesen ist. Die Bühne ist nach Wilhelm Bonns Ansicht nicht standesgemäß. Außerdem findet er seine Tochter dafür zu zart und anfällig.“

Unveröffentlichte Gedichte spät wieder entdeckt

Für Emma Bonn wird das Schreiben zum Ventil und Ausdrucksmöglichkeit. In der Folge kommen aus ihrer Feder Novellen, Erzählungen, Romane und Lyrik, vieles davon heute jedoch verschollen und vergessen. Es ist der Arbeit des Arbeitskreises „Feldafinger Chronik“, der 2006 beschloss, Emma Bonn zu würdigen, zu verdanken, dass ihr autobiographischer Roman „Kind im Spiegel“ (1935) wieder ausfindig gemacht wurde. Und Angela von Gans erhielt unerwartet von einem amerikanischen Familienmitglied eines Tages ein Paket mit unveröffentlichten Gedichten von Emma Bonn, für die vorliegende Biographie besorgte die Lyrikerin Dagmar Nick eine Auswahl.

Ab 1910, dem Todesjahr des Vaters, wandelt sich das Leben Emmas von Grund auf:  Sie und ihr Bruder Max erben das große Vermögen, zur finanziellen Unabhängigkeit kommt 1913 mit dem Kauf eines Hauses am Starnberger See auch ein Leben, das nicht mehr allzu sehr von der Atmosphäre einer erdrückenden Großfamilie geprägt ist – in Frankfurt und Kronberg leben zeitweise ganze Zweige der Bonn-Familie unter einem Dach. In Bayern pflegt Emma Bonn einen regelmäßigen Kontakt unter anderem zu Thomas Mann und Bruno Frank, zwar, so schreibt auch Angela von Gans, gibt es keine wirkliche kollegiale Wertschätzung, „aber sie wird wahrgenommen und vielleicht durch die Gespräche mit ihm (Thomas Mann) und mit Bruno Frank zu weiteren Romanen inspiriert. So erscheint 1923 der Novellenband „Das blinde Geschlecht“, 1931 der Roman „Die Sonne im Westen“.

Eingeschränkt wird ihre schriftstellerische Tätigkeit einerseits durch ihre Erkrankung – ab 1929/30 ist Emma Bonn fast vollständig ans Bett gefesselt. Andererseits macht sich das antisemitische Klima im aufkommenden Nationalsozialismus mehr und mehr bemerkbar, die Schriftstellerin ist, insbesondere als Thomas Mann und Bruno Frank im Exil sind, isoliert.

Scherben (1939, Auszug)

Man hat mir das Land genommen,
Ich wohn‘ noch in meinem Haus.
Die Wolken gehen und kommen,
ich schau in die Wipfel hinaus.

Die Bäume sind ganz die gleichen,
Der Rasen ist satt und grün,
Über Seufzer und Ängste und Leichen
Die gleichen Blumen blühn.

Vor allem in dieser zunehmend einsameren Zeit verfasst Emma Bonn Gedichte, diese „halten Rückschau, reflektieren ihren körperlichen und geistigen Zustand, sind in gewisser Weise fast als eine Art Tagebuch der sich zuspitzenden politischen Ereignisse zu lesen“, so Angela von Gans. Die Haushälterin von Emma Bonn, Schwester Josefa, behütet die Manuskripte und bringt sie nach dem Krieg in die Vereinigten Staaten – über diesen Umweg ist es zu verdanken, dass sie nun, fast ein Jahrhundert später, doch noch zum Teil an das Licht der Öffentlichkeit gelangt sind.


Bibliographische Angaben:

Angela von Gans
Emma Bonn 1879 – 1942.
Spurensuche nach einer deutsch-jüdischen Schriftstellerin
STROUX edition, 2021
ISBN 978-3-948065-20-1

Das Buch wurde vom Freistaat Bayern mit dem Preis „Bayerns beste Independent Bücher“ ausgezeichnet.

Eine besondere Würdigung gibt es heuer für die Dichterin bei den 10. Feldafinger Musiktagen: Der Pianist und Komponist Kit Armstrong vertont ihr Gedicht „Flüchtlinge“, die Uraufführung findet am Sonntag, 23. Juli statt.


Transparenzhinweis:

Für den Verlag STROUX edition bin ich in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit tätig. Dieser Beitrag entstand unabhängig von dieser Tätigkeit. Er fügt sich ein in eine Reihe von Portraits jüdischer Schriftstellerinnen, die hier bereits auf dem Blog veröffentlicht wurden. Sie alle traf die Verfolgung im Nationalsozialismus in unterschiedlicher Weise: Durch Ermordung und Tod in einem der Konzentrationslager wie bei Lili Grün, Else Feldmann, Ite Liebenthal, Selma Meerbaum-Eisinger oder Carry Brachvogel, auf der Flucht verhungert wie Maria Leitner, ins Exil gegangen wie Rose Ausländer, Trude Krakauer und Ilana Shmueli oder geprägt durch die besondere „Last der Überlebenden“ wie beispielsweise Ruth Klüger und Lily Brett.

Ite Liebenthal: Gedichte

Die Philosophin und Lyrikerin Ite Liebenthal veröffentlichte schon früh eigene Gedichte. Unter den Nationalsozialisten verstummte sie, 1941 wurde sie ermordet.

liebenthal
Bild: (c) Michael Flötotto

Mein Vaterland, du bist vor mir gestorben,
doch wirst du auferstehn und ich mit dir.
Die dich vernichteten und mich verdorben,
sie sind verflucht, und leben werden wir!

Ite Liebenthal (1886 – 1941)


Dass diese ausdrucksstarke Lyrikerin, die von Rilke gefördert wurde, nicht ganz ins Vergessen geriet, ist einigen wenigen zu verdanken: So vor allem dem Literaturprojekt „Poesie schmeckt gut“. Die beiden Herausgeber widmeten ihr einen Band ihrer Lyrikreihe „Versensporn“. Enthalten sind darin nicht nur die frühen Gedichte, die Ite Liebenthal zu Lebzeiten veröffentlichen konnte, sondern auch Texte aus dem Nachlass. Sie stammen von Abschriften, die sich bei den Nachkommen ihrer Ite Liebenthals erhalten hatten: Während ihre Schwester und ihr Bruder nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten emigrierten, entschied sich Ite Liebenthal, in ihrem Geburtsort Berlin zu bleiben, allein, vereinsamt und in ständiger Furcht vor der Verfolgung. Eine fatale Entscheidung: 1941 wurde sie von Berlin nach Riga deportiert, schon wenige Tage später wurde sie – wie alle 1052 Insassen dieses Massentransportes – im Wald von Rumbula ermordet.

Der erste Gedichtband erschien 1906

Das Vaterland, es dankte ihr die Treue schlecht. Mit ihr starb eine weitere kluge, starke Stimme, eine Vertreterin der weiblichen jüdischen Intelligenz. Die junge Ite Liebenthal ist eine begabte Schülerin, ein kreativer Geist: Bereits als 20-jährige veröffentlichte sie ihren ersten Gedichtband „Aus der Dämmerung“, der 1906 erscheint.

Ihre frühen Gedichte sprechen vor allem von der Sehnsucht nach einem Gegenüber, nach einer geistigen und seelischen Verwandtschaft oder gar Verbrüderung:

Nachts gehen alle Uhren lauter,
und jede Stunde schlägt mit Doppelklang.
Doch auch dein Herzschlag ist mir dann vertrauter.
Laß gehn die Zeit. Mir ist nicht bang.

In deiner Seele Brudernähe
beruhigt sich die Angst der Mitternacht.
Und wenn mir morgen bitter Leid geschähe, –
du bist bei mir! du hast mit mir gewacht.

Manches Mal auch etwas pathetisch, elegisch im Ton:

Wüßt ich, daß ich nur zu sterben brauchte
und mein Herz, in Silber dann gefaßt,
einen Talisman für dich bedeute:
Ach, ich tötete mich heute! (…)

Sie schreibt von Hingabe, von der Suche, aber auch von Trennungsschmerz und dem Wissen darum, dass alles endlich ist:

Nur zu Gruß und Lebewohl berührten
wir einander scheu mit kalten Händen.
Und es war, als ob in Feuerbränden
wir mit ölgetränkten Zweigen schürten.

Und wir sehen, wie die Flammen stiegen,
doch verrieten nicht, daß wir es sahen.
Und so fühlten wir das Ende nahen,
lächelten, verließen uns und schwiegen.

Von 1909 bis 1916 studierte sie Philosophie an der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin und an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Sie hört unter anderem Vorlesungen zu Literatur und Philosophie bei Emile Haguenin, Adolf Lasson, Heinrich Rickert und Karl Jaspers. Die Auseinandersetzung mit philosophischen Fragen schlägt sich auch in ihrer Lyrik nieder, der Ton wird mit der Zeit reifer, das Suchen weniger drängend, in die Gedichte tritt mehr und mehr Ruhe und ein wenig Gelassenheit ein – doch Schwermut bleibt der Grundton.

Still kehr ich heim von langen Wanderfahrten.
Noch decken Nebel meine liebe Küste,
als ob ein Freund mir langsam erst mit zarten
Trosthänden diese Welt enthüllen müsste.

Nimm fort das Tuch! Ich weiß: in weiter Fläche
dehnt sich das Land zur Ferne. Seine Wunder
sind dunkle Wälder, stille, breite Bäche
und Gärten unter Birken und Holunder.

Rilke ist von ihren Werken beeindruckt. Am 18. Januar 1922 schreibt er in einem Brief an Ite Liebenthal:

„Noch diesen Morgen, als ich die ›Gedichte‹ wieder vornahm, fiel mir eine köstliche alte Apotheke ein, die ich vor Jahren einmal in der einstigen Bischofstadt Carpentras, um ihres künstlerischen Werthes willen, zum Kauf angeboten bekam. Ihre Verse, heute, brachtens mit sich, daß ich auf einmal im Dunkel des schönen, offenen, die Wände auffüllenden Geschränkes, die geschlossenen Vasen vor mir sich hinreihen sehe: jede anders im blaublumigen, ausdrucksvollen Ornament, und doch wieder alle gleich; jede ein Gift, eine Gluth oder eine Kühlung einschließend, mit dem vollen großen, ja geschwungenen Namen dieses Inhalts, ihn so offen ansagend ― und doch wieder ihn völlig verhaltend, jede einzelne, in ihrer, die Verschließung so unübertrefflich aussprechenden Gestaltung…“

Sein Bemühen, ihre Gedichte beim Insel Verlag unterzubringen, bleibt jedoch vergeblich. Zwar erscheint 1921 noch ein weiterer Lyrikband zu ihren Lebzeiten, „Gedichte“ im Verlag Erich Lichtenstein in Jena, doch danach wird es leiser um sie, die trotz ihres Studiums ihren Lebensunterhalt als Sekretärin fristen muss. In der Folge erscheinen nur noch einige Gedichtveröffentlichungen in verschiedenen Zeitschriften, was ihr Leben darüber hinaus ausmachte, was ihren Alltag prägte, was ihre Wünsche und Träume waren, davon ist wenig mehr bekannt.

Erhalten blieben ihre Gedichte, die von einer tiefen Sehnsucht sprechen:

Ich hab meine Füße wund gegangen,
weißt du, um wen?
Und konnte doch nicht bis zu dir gelangen.
Ich hab dich nicht einmal von fern gesehn.

Ich hab meine Hände müd gerungen,
weißt du, warum?
Nicht Rufes Hauch ist bis zu dir gedrungen.
Die Welt ist allzuweit, und du bliebst stumm.

Ich hab meine Augen blind geweint,
frage nicht, wann.
Ich weiß schon lang nicht mehr, ob Sonne scheint,
der Tag sich wendete und Nacht begann.


Bibliographische Angaben:

Ite Liebenthal
Versensporn – Heft für lyrische Reize Nr. 10.
Herausgegeben von Bo Osdrowski & Tom Riebe.
Edition Poesie schmeckt gut, Jena 2013.