Vom Gift des Verschweigens – wie der Faschismus eine Familie prägt

Als die italienische Philosophin und Autorin Michela Marzano entdeckt, dass ihr Großvater ein Faschist der ersten Stunde war, ist das ein Schock für sie. In ihrem Buch arbeitet sie sowohl ihre Familiengeschichte auf als auch die Geschichtsvergessenheit eines ganzen Landes.

„Die Geschichte lässt sich nicht auslöschen“, hatte der Bürgermeister von Campi 2017 gesagt, als er gefragt wurde, warum er einen Platz in der Stadt nach Guiseppe Guarino, dem ehemaligen faschistischen Podestà und Schwager von Starace, benannt habe. Warum konnten andere Teile der Geschichte Campis dann einfach unterschlagen werden? Die Geometrie dieser Geschichte scheint äußerst variabel zu sein.“

Michela Marzano, „Falls ich da war, habe ich nichts gesehen“


Als ich vor einigen Jahren in Rom vor dem sogenannten „Mussolini-Obelisk“ stand, wurde mir erstmals richtig bewusst, wie deutlich anders mit der Erinnerung an den Faschismus in unserem Nachbarland umgegangen wird. Denkmäler mit Inschriften, die an den „Führer“ erinnern, der Verkauf entsprechender Devotionalien, offener „Duce“-Kult: All das wäre bei uns nicht denkbar. Und das aus gutem Grund.

Hat auch dieser seltsam „entspannte“ Umgang Italiens mit seiner faschistischen Vergangenheit dazu geführt, dass der Rechtsextremismus immer irgendwie doch „hoffähig“ blieb? Das Getöse, das italienische Neofaschisten wie Salvini, Berlusconi und Meloni in den vergangenen Jahren auf dem Stiefel veranstalteten, nahm ich wahr, aber sah es nicht als wirkliche Gefahr. So kann man sich täuschen – es war ein Schock für mich, als im vergangenen Herbst die Fratelli d’Italia von Giorgia Meloni mit rund 26 Prozent die italienischen Parlamentswahlen gewann.

Das Buch von Michela Marzano ist im Jahr vor der Wahl erschienen. Und wurde in den Medien gefeiert. So wird vom Eichborn Verlag, bei dem das autobiographische Werk der italienischen Philosophin, Autorin und Politikerin heute in deutscher Übersetzung erscheint, auf dem Cover „La Republica“ zitiert: „Dieses Buch legt das Schweigen eines Landes offen, das sich niemals seiner Geschichte gestellt hat. Politisch und zugleich sehr persönlich.“

Das Gift des Faschismus wirkt weiter

Das hat heute ein wenig einen bitteren Nachgeschmack: Zeigt das Buch doch angesichts des italienischen Rechtsrucks wie sehr das nicht aufgearbeitete Erbe der faschistischen Vergangenheit weiterwirkt, wie billig die Rattenfänger mit der angeblichen Erinnerung an alte, vermeintlich bessere Zeiten ihre Anhänger sammeln könnten. Das Gift wirkt weiter – und Marzanos Buch legt auch offen, wie im Falle einer einzelnen Familie der Faschismus die Menschen prägt, sogar über Generationen hinweg, auch wenn die Nachkommen sich politisch ganz anders verorten.

Eher zufällig stolpert Michela Marzano, die selbst als Abgeordnete für die Partito Democratio einige Jahre im italienischen Parlament war, über die Information, dass ihr Vater Ferruccio bei seiner Taufe mit fünf Vornamen ausgestattet wurde – darunter auch mit Benito, nach dem faschistischen Diktator. Nach und nach ergründet Marzano ein „offenes“ Familiengeheimnis: Ihr Großvater Arturo, ein Richter und nach dem Zweiten Weltkrieg Abgeordneter der Monarchistischen Partei, war ein Mussolini-Anhänger der ersten Stunde. Bereits am 15. Mai 1919 schreibt er sich in die Partito Nazionale Fascista ein, nimmt am berüchtigten Marsch auf Rom teil und übt selbstverständlich auch sein Richteramt getreu der faschistischen Gesetzgebung aus.

Immer tiefer gräbt sich Marzano in ihre Familiengeschichte ein, sichtet verschimmelte Unterlagen ihres Großvaters, die bei Verwandten in Campi in einem Keller lagern, liest die Briefe an seine Frau Rosetta, liest Akten über Gerichtsverfahren und die Dokumente, mit denen sich Arturo nach dem Ende des Faschismus um eine schnellstmögliche berufliche Rehabilitierung bemüht. Bezeichnend: Die Empörung, die aus diesen Briefen spricht, er selbst, Faschist der ersten Stunde, versteht nicht, warum er in seiner Doppelfunktion als Parteigänger und Richter Justitia beschädigt haben soll.

Als die italienische Philosophin und Autorin Michela Marzano entdeckt, dass ihr Großvater ein Faschist der ersten Stunde war, ist das ein Schock für sie. In ihrem Buch arbeitet sie sowohl ihre Familiengeschichte auf als auch die Geschichtsvergessenheit eines ganzen Landes.

Scham und Schuldgefühle

Weitaus sensibler reagiert da die Enkelin, die an den Großvater selbst (er starb, als sie gerade sechs Jahre alt war), nur noch wenige Erinnerungen hat:

„Es ist der 25. April 2020, der 75. Jahrestag der Befreiung Italiens. Und zum ersten Mal kann ich ihn nicht ruhigen Gewissens feiern. Auch ich möchte voller Stolz #iorestalibera (ich bleibe frei) in den sozialen Medien posten (…). Meine Geschichte ist eine andere als die der Enkelkinder, Nichten und Neffen der Widerstandskämpfer:innen. Im Gegensatz zu ihnen, habe ich keinen Grund, stolz zu sein.“

Beim Lesen dieser Worte wurde mir jedoch auch nochmals bewusst, dass zwar die öffentliche „Erinnerungskultur“ in Deutschland eine andere sein mag, die familiäre dagegen unterscheidet sich wohl in vielen Fällen nicht. Die Fragen, die Michela Marzano in ihrem Buch stellt –

„Haben sie für die Freiheit gekämpft oder im letzten Moment die Seiten gewechselt? Waren sie im Widerstand oder verspätete Überläufer:innen?“

– sie wurden auch in deutschen Familien nur vage beantwortet, wenn es hieß: „Was hast du getan von 1933 bis 1945?“

Zwar kann Marzano die eine große Frage, die nach dem WARUM, warum ihr Großvater dem Faschismus anhing, nicht entschlüsseln, nicht erklären. Zu Beginn des Buches, noch unter Schock stehend, hält sie dies zudem für unnötig:

„Ich kann und will keine Entschuldigung finden, denn es wäre nicht gerecht. Alles, was ich empfinde, ist Scham.“

Eine Scham, die „von Generation zu Generation weitervererbt wird“. Und so wird ihr Text vor allem zu einer Auseinandersetzung mit ihrem Vater, einem linksliberalen Wirtschaftsprofessor, der politisch zwar alles andere als ein Faschist ist, im Privaten jedoch zu patriarchalischen Wutausbrüchen neigt und eine lieblose Ehe führt, die auch seine Kinder prägt. Michela Marzano leidet als junge Frau an Magersucht, unternimmt einen Suizidversuch, braucht jahrzehntelang psychotherapeutische Unterstützung. Die Recherche zu ihrem Großvater öffnet ihr die Augen, wie sehr ihr Vater selbst durch diese Familiengeschichte geprägt wurde und darunter litt. Und so hat das Buch wenigstens auf der privaten Ebene ein versöhnliches Ende, kann das letzte Kapitel mit „Vergebung“ betitelt werden.

Historische Fakten und aktuelle Politik

Geschickt verknüpft Marzano ihre Familiengeschichte mit historischen Fakten und Kommentaren zur aktuellen italienischen Politik. Sie zeigt auf, wie während Mussolinis Diktatur streikende Arbeiter, Kommunisten, Demokraten, Widerstandskämpfer verfolgt wurden, wie mit Einführung der Rassengesetze jüdische Richter und Anwälte ihrer Ämter enthoben wurden, wie zahllose Menschen Opfer des Faschismus wurden. Und wie die Täter beinahe nahtlos weitermachen konnten.

„Die Zahlen zur Epurazione im Gerichtswesen sind vielsagend: Im März 1946 wurden 4052 von 11 400 Mitarbeitenden des Justizministeriums einem Entfaschisierungsprozess unterzogen, 589 Prozesse wurden eröffnet, 575 beendet und nur 56 Personen verurteilt (…). Andere sagen, dass irgendwann beschlossen wurde, nach vorn zu blicken, um nicht in der Vergangenheit stecken zu bleiben.“

Die Form des Buches, das zwischen persönlicher Erzählung, fiktionalen Passagen, wenn Marzano beispielsweise Dialoge ihrer Großeltern rekonstruiert, introspektiven Betrachtungen und historischer Dokumentation wechselt, mag manchem ein wenig wildwüchsig erscheinen. Zugleich ist es aber ein Ausdruck für die Aufgewühltheit der Erzählerin angesichts ihrer Familiengeschichte und ein emotionaler Aufschrei der Fassungslosigkeit. Michela Marzano macht am Beispiel ihrer Familie deutlich, was diese Geschichtsvergessenheit, das Verschweigen, das Verleugnen und das Lügen, die Menschen kostet. Und was es eine Gesellschaft kosten wird, das, so befürchte ich, werden die nächsten Jahre unter einer neofaschistischen Regierung erst noch zeigen.


Bibliographische Angaben:

Michela Marzano
Falls ich da war, habe ich nichts gesehen
Übersetzt von Lina Robertz
Eichborn Verlag, 25.8.2023
ISBN: 978-3-8479-0150-1

Gianrico Carofiglio im Gespräch: “Der Plot ist für mich fast nur ein Vorwand, um über Menschen zu schreiben.”

Ein kleiner, stiller Roman des berühmten Krimiautoren Gianrico Carofiglio: Eine Vater-Sohn-Beziehung, die sich während zweier schlafloser Tage völlig wandelt.

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EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Der italienische Autor Gianrico Carofiglio über seinen soeben auf Deutsch erschienenen Roman Drei Uhr morgens.

Er ist einer der berühmtesten italienischen Krimiautoren, war Anti-Mafia-Staatsanwalt, Berater des italienischen Parlaments und Senator – Gianrico Carofiglio aus Bari weiß, wovon er spricht, wenn er seinen Avvocato Guerrieri oder seinen Maresciallo Fenoglio in seiner Heimatstadt ermitteln lässt. Dass Carofiglio auch außerhalb des mörderischen Milieus ein Meister der psychologischen Beobachtung ist, ist bei seinen Lesern diesseits des Brenners weniger bekannt. Nun hat der in Wien und Bozen ansässige Folio Verlag einen kleinen, stillen Roman Carofiglios auf Deutsch herausgebracht: Drei Uhr morgens erzählt von einer Vater-Sohn-Beziehung, die sich völlig wandelt, als die beiden Protagonisten 48 schlaflose Stunden miteinander verbringen müssen. Veronika Eckl traf Gianrico Carofiglio vor der Präsentation der Neuerscheinung im Münchner Literaturhaus. Der Autor trank während des Gesprächs nur Wasser, war aber vor allem eins: hellwach.

Signor Carofiglio, wir sind es gewohnt, dass Ihre Bücher uns ab der ersten Seite nach Apulien versetzen – in die Bars und Gerichtssäle von Bari, in graue Carabinieri-Kasernen, ans Meer. Warum spielt Drei Uhr morgens im französischen Marseille?

Carofiglio: Drei Uhr morgens ist der einzige meiner Romane, der auf einer wahren Begebenheit beruht. Schriftstellern passiert es oft, dass sie zum Beispiel auf einem Fest angesprochen werden: Ach, Sie sind Schriftsteller? Ich habe da etwas erlebt, darüber müssten Sie schreiben! Normalerweise taugen diese Anekdoten nicht für einen Roman, aber diese Erzählung eines Freundes hat mich sofort elektrisiert. Er berichtete mir, dass er als Jugendlicher Epileptiker war und von dem berühmten französischen Neurologen Henri Gastaut in Marseille behandelt wurde, in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Koryphäe auf dem Gebiet der Epilepsie. Für eine abschließende Untersuchung musste er sich einer Art Reizüberflutung aussetzen und durfte zwei Tage und Nächte nicht schlafen – was heute kein Arzt mehr so anordnen würde. Vater und Sohn waren also 48 schlaflose Stunden, der Sohn gepuscht von Wachmacher-Pillen, in Marseille unterwegs. Mir war sofort klar, dass die unterschwellige Energie, die in dieser besonderen Situation steckt, perfekt für einen Roman ist.

Marseille und Bari sind einander ja gar nicht so unähnlich….

Carofiglio: Nein, beide sind mediterrane Hafenstädte. Aber Marseille ist etwas ganz Besonderes. Ich habe 2010 einen Monat als Schreibstipendiat dort verbracht und war fasziniert. Man glaubt in manchen Straßenzügen in Nordafrika zu sein, sieht Hässliches, Verwahrlosung, spürt Gefahr, die in der Luft liegt – und fährt dann morgens mit dem Boot hinaus in die Calanques, durch ein türkisblaues Meer, und alles ist voller Schönheit und Licht. Dieser Kontrast zwischen Licht und Schatten macht Marseille zum idealen Ort für die Geschichte von Antonio und seinem Vater.

Gianrico Carofiglio_© Francesco Carofiglio
Gianrico Carofiglio: Bild: © Francesco Carofiglio

Der Titel des Romans spielt mit einem Zitat des amerikanischen Autors F. Scott Fitzgerald: „In der dunklen Nacht der Seele ist es immer drei Uhr morgens.“ Der fast 18 Jahre alte Antonio und sein Vater wirken beide sehr einsam. Warum?

Carofiglio: Die Dunkelheit in uns, mit der wir uns auseinandersetzen müssen und die viele meiden, ist eine Grundsituation der menschlichen Existenz. Im Roman verkehre ich das Ganze jedoch ins Gegenteil: Es kommt Licht ins Dunkel, der ernste, korrekte, etwas unnahbare Vater und sein Sohn, der in so jungen Jahren bereits durch eine Krankheit verunsichert wurde, lernen einander kennen. Der Sohn, der bis dahin der Meinung war, der Vater habe ihn und die Mutter verlassen, entdeckt, dass die Geschichte der Eltern sich anders zutrug, als er glaubte. In Marseille entfliehen die beiden ihrer Einsamkeit für zwei Tage.

Vater und Sohn flanieren durch die Stadt, um sich wach zu halten. Dabei entdecken sie die Talente des jeweils anderen und lernen, stolz aufeinander zu sein…

Carofiglio: Ja, der Vater entdeckt, dass der Sohn dasselbe mathematische Talent hat wie er selbst…

… und der Sohn ist zum ersten Mal richtig stolz auf seinen Vater, als der bei einer Jam-Session in einem Marseiller Club auf dem Klavier improvisiert. Warum ist Jazz so wichtig in dieser Geschichte?

Carofiglio: Das Wesen des Jazz ist es, dass er unvollendete Musik ist. Die Unvollendetheit, das Unperfekte interessieren mich. Ich habe beim Schreiben aber auch an meinen Vater gedacht. Er hat als alter Mann nach und nach sein Gedächtnis verloren, aber was er noch konnte, war Jazz spielen.

Man hat als Leser den Eindruck, dass sie für diesen Roman sehr viel recherchiert haben. Über Jazz, über Epilepsie, über die Figur des Arztes, den es ja wirklich gab und der auch so hieß…

Carofiglio: Ja, das habe ich tatsächlich. Der Roman handelt von Krankheit und Heilung, das kann man nicht einfach so aus dem Ärmel schütteln. Ehrliches Schreiben, das den Leser ernst nimmt, ist gut informiertes Schreiben. Als ich in Italien mit dem Buch auf Lesereise war, kam es zu bewegenden Szenen. Eine junge Frau, die Epileptikerin ist, sagte mir, sie habe dank des Romans ihrer Mutter verständlich machen können, wie sie sich fühle. Eine andere erhob sich von ihrem Platz und erklärte, sie sage jetzt zum ersten Mal in der Öffentlichkeit, dass sie Epileptikerin sei – viele empfinden Epilepsie als Stigma. Ich werde jetzt sogar zu ärztlichen Fachkongressen eingeladen, weil ich die Krankheit angeblich so realistisch dargestellt habe.

Trotzdem ist es kein Buch über Krankheit.

Carofiglio: Es ist, um es mit diesem schönen deutschen Wort zu sagen, ein Bildungsroman. Antonio macht eine Entwicklung durch. Er lernt, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen. Ohne diese zwei schlaflosen Nächte hätten Vater und Sohn einander wahrscheinlich nie richtig kennengelernt. Viele Menschen leben ja nebeneinander her, ohne sich zu kennen.

Aus der Finsternis ans Licht – im Grunde ist das doch gar nicht so weit weg von Ihren Kriminalromanen mit ihren einsamen Ermittlern, oder?

Carofiglio: Nein, denn als Schriftsteller versucht man, Ordnung ins Chaos der Welt zu bringen. Mich interessiert die Entwicklung, die Menschen durchmachen, auch im Krimi. Der Plot ist für mich fast nur ein Vorwand, um über Menschen zu schreiben.

Antonios Entwicklung geht am Ende recht schnell vonstatten. Als Vater und Sohn am Meer zwei Französinnen kennenlernen, glaubt man als Leser, der Vater werde sich jetzt in ein erotisches Abenteuer stürzen. Dann aber ist es Antonio, der bei einem Fest in einer Villa seine sexuelle Initiation erfährt. Zuvor hat sein Vater ihm noch erzählt, dass er selbst als Jugendlicher seine Unschuld bei einer Prostituierten verloren hat. Ist das nicht ein wenig dick aufgetragen? Wer erzählt seinem Sohn denn so etwas?

Carofiglio: Finden Sie? Hm, das ist natürlich schon auch der Ausnahmesituation geschuldet, in der beide sich befinden.

Kann man eigentlich wirklich 48 Stunden lang nicht schlafen?

Carofiglio: Ja, ich habe das einmal durchgezogen, als ich noch Staatsanwalt war und wir mit Hochdruck an einem Mordfall arbeiteten. Danach hat sich um mich herum alles gedreht, aber wir haben den Mörder gefasst.

Haben Sie irgendwelche Pillen eingeworfen?

Carofiglio: Nein, aber ich habe sehr viel Espresso getrunken.

Informationen zum Buch:

Gianrico Carofiglio
“Drei Uhr morgens”
Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
Folio Verlag, Bozen und Wien
Gebunden mit Schutzumschlag, 186 Seiten, 20 Euro
ISBN 978-3-85256-769-3

Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.

Francesca Melandri: Alle, außer mir

Ein großer Roman über Lebenslügen, individuelle und kollektive Verdrängung und das giftige Erbe der Geschichte. Ein Gastbeitrag von Veronika Eckl.

EIN GASTBEITRAG VON VERONIKA ECKL

Der Esquilin ist einer der sieben Hügel Roms und heute der bunteste. Chinesen, Pakistani, Bangladesher, Marokkaner, Rumänen sind in die einst gutbürgerlichen Palazzi unweit des Hauptbahnhofs Stazione Termini eingezogen, die der noch junge italienische Staat nach seiner Gründung Ende des 19. Jahrhunderts für seine Beamten errichten ließ. Im Straßenbild sichtbar sind seit einiger Zeit aber vor allem viele Flüchtlinge aus Afrika, die tagsüber auf der Straße schlafen, weil es nachts zu gefährlich ist.

Ilaria, die mittelalte Protagonistin von Francesca Melandris Roman Sangue Giusto (Alle, außer mir), im vergangenen Jahr nominiert für den italienischen Literaturpreis Premio Strega, wohnt hier, seit ihr der vermögende Vater eine Wohnung gekauft hat. Das ist ein Glück für sie, die linksliberale, schlecht bezahlte, aber überzeugte Lehrerin, die gerne im Multikulti-Viertel lebt, die Gerüche aus der Küche der Pakistanis achselzuckend akzeptiert und die dennoch der Meinung ist, es sei auch eine Form von Rassismus, Immigration einfach nur toll zu finden.

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Bild von Andrea Albanese auf Pixabay

Eines Tages sitzt auf dem Treppenabsatz vor Ilarias Wohnung ein junger Äthiopier, der fließend Italienisch spricht, sich als ihr Neffe vorstellt und einen Pass mit dem Namen Shimeta Ietmgeta Attilaprofeti vorzeigt, der auf den Namen ihres Vaters verweist: Attilio Profeti. Der ist inzwischen 95 Jahre alt und lebt dement in der Obhut seiner zweiten Ehefrau, kann also nicht mehr zu dieser unerhörten Begebenheit befragt werden. Ilairia schwant Böses, musste sie doch bereits als Sechzehnjährige entdecken, dass ihr Vater noch eine andere Familie hat als ihre und sie und ihre beiden Brüder einen Halbbruder, den der charmante Profeti mit seiner Sekretärin zeugte. Nun also eine dritte Familie?

Autorin erforschte die Kolonialgeschichte Italiens

Die Mittvierzigerin öffnet dem jungen Schwarzen, der in Afrika wie sie selbst als Lehrer arbeitete, einem Foltergefängnis entkam und die Flucht übers Mittelmeer antrat, ihre Wohnungstür und beginnt zu recherchieren. So wie es auch Francesca Melandri tat, die zehn Jahre lang in Archiven und vor Ort in Äthiopien die Kolonialgeschichte Italiens erforschte.

Ilaria entdeckt schnell einen Attilio Profeti, von dem sie nichts wusste: Einen, der als junger Mann dabei war, als Mussolinis Truppen ab 1935 das damalige Abessinien mit einer Spur der Verwüstung überzogen, Hunderttausende Männer, Frauen und Kinder töteten, um das afrikanische Land für Italien zu vereinnahmen. Einen, der als Assistent eines Rassenkundlers arbeitete, in den Dörfern Gipsabdrücke von den Einheimischen anfertigte und gleichzeitig mit einer Äthiopierin seine erste Familie gründete, von der später, daheim in Rom, niemand etwas ahnt. Nur gelegentlich bekommt er über einen alten Kriegskameraden, der in Adis Abeba geblieben ist und dort eine Autowerkstatt eröffnet hat, Botschaften von der Zurückgelassenen. Dabei ist die schöne Äthiopierin wohl die einzige Frau, für die Attilio in seinem Leben starke Gefühle hegte, stärkere zumindest als für die beiden italienischen Ehefrauen. Dass es in der Liebe nicht immer streng nach Theorie geht, weiß auch Ilaria, die seit vielen Jahren eine Affäre mit einem Abgeordneten der Berlusconi-Partei hat, dessen politische Überzeugungen sie vehement ablehnt – von dem sie aber trotzdem nicht lassen kann.

Abschiebungen bringen den Polizisten an seine Grenzen

Nach und nach lernt der Leser die gesamte Familie Profeti kennen, und hier enthüllt sich auch das Erzähltalent der Autorin: Wenn sie etwa schildert, wie Attilios Vater, ein einfacher Bahnhofsvorsteher in der Emilia-Romagna, am letzten Tag vor seiner Pensionierung inmitten der Gleise stirbt, die sein Leben waren. Aber auch zahlreiche Nebenfiguren kommen zu Wort: Beeindruckend, wie Melandri in wenigen Seiten das Elend eines Polizisten entfaltet, der den Job hat, Abgeschobene im Flugzeug in ihre Heimat zurückzubegleiten und dabei selbst an seine physischen und psychischen Grenzen gelangt.

Andere Figuren des Romans bleiben blass, manche Passagen des Romans ziehen sich, auch wenn sie nur so von historischem Wissen strotzen. Freilich ist dieses Wissen auch ein Trumpf. Die Einblicke in die Vergangenheit fesseln jeden Italien-Interessierten, geht es hier doch um ein weitgehend unbekanntes Kapitel der Geschichte des Landes. Nicht viele wissen, wie brutal der General Rodolfo Graziani gegen die ostafrikanische Bevölkerung vorging, was für ein Faszinosum die schwarzen Frauen für die jungen italienischen Soldaten darstellten – eine Faszination, die gelegentlich in Liebe, oft aber nur in brutale Vergewaltigung mündete – oder dass heute noch viele Äthiopier Italienisch sprechen. Melandri schreibt über individuelle und kollektive Verdrängung, über eine Verdrängung, die jetzt in sich zusammenbricht, weil so viele Afrikaner, metaphorisch gesehen, wie Ilarias junger Verwandter auf dem europäischen Treppenabsatz sitzen. Da ist die kleine, elegant präsentierte Überraschung am Ende des Romans dann nur noch eine nebensächliche Volte, weil sowohl für die Familie Profeti als auch für den Leser längst feststeht, dass es kein „richtiges, gerechtes Blut“ (so die Übersetzung des Originaltitels sangue giusto) und auch kein falsches geben kann.

Informationen zum Buch:

Francesca Melandri
Alle, außer mir
Wagenbach Verlag
Aus dem Italienischen von Esther Hansen
Quartbuch. 2018
608 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
Buch 26,– € / E-Book 23,99 €
ISBN 978-3-8031-3296-3

Über die Autorin dieses Beitrags:

Veronika Eckl studierte Romanistik und Germanistik. Es folgten journalistische Lehr- und Wanderjahre bei der »Süddeutschen Zeitung«, der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«, der »Katholischen Nachrichten-Agentur« und beim »Bayerischen Rundfunk«. Nach ihrer Redakteursausbildung ging sie nach Rom, wo sie längere Zeit als Journalistin arbeitete und das Latium für sich entdeckte. Heute arbeitet sie hauptberuflich als Lehrerin für Deutsch, Französisch und Italienisch.