KRÖNER VERLAG: Eimar O’Duffy – King Goshawk und die Vögel

»Hast du jenen Abend vor langer Zeit in meines Vaters Garten vergessen, als wir Hand in Hand dem Lied der Nachtigallen lauschten? Und als ich sagte: ›Welch trauriger Gedanke, dass überall auf der Welt so viele Vögel singen, die ich niemals hören werde.‹ Und als du antwortetest: ›Geliebte, wenn ich erst meine Herrschaft angetreten habe, werden dir alle Singvögel auf der ganzen Welt gehören.‹«

Ein Mann ein Wort – King Goshawk hat Guzzelinda alle Singvögel der Welt versprochen, und die soll sie auch bekommen. Warum er das kann? Weil der der reichste Mann der Welt ist. Wer fortan ein Vögelchen singen hören will, muss dafür bezahlen. Nur einem geht das gründlich gegen den Strich, und der, da von den Menschen keine Hilfe zu erwarten ist, ruft einen sagenhaften irischen Krieger herbei, der antritt, um die Singvögel – und die Welt – zu retten.

So beginnt Eimar O’Duffys sprachmächtige, wütende Satire auf eine Welt, die uns immer bedenklicher bekannt vorkommt, je weiter der Roman voranschreitet. Dass dieser Roman schon 1926 veröffentlicht wurde, ist kaum zu glauben. Dass er erst jetzt wiederentdeckt und auch erstmals ins Deutsche übersetzt wurde, dagegen schon, denn O’Duffy war seiner Zeit so deutlich voraus, dass es fast wirkt, als hätte er hellsehen können. Wiederentdeckt und kongenial übersetzt von Gabriele Haefs.

Douglas Adams lässt grüßen
Bezeichnet wird das Werk als Missing Link zwischen Jonathan Swift und Flann O’Brien (Auf
Schwimmen-zwei-Vögel) – warum hier der Name Douglas Adams nicht fällt? Tatsächlich erinnert King Goshawk immer wieder so stark an Per Anhalter durch die Galaxis, dass alle, die noch immer sehnsüchtig einer Fortsetzung nachtrauern, sich hier über einen Ahnherrn freuen dürfen. Köstliche Unterhaltung ist in jedem Fall garantiert.

Eimar Ultan O’Duffy (1893–1935) wurde in Dublin geboren und studierte dort und in Lancashire. Zunächst Mitstreiter, dann Kritiker der irischen Unabhängigkeitsbewegung,
torpedierte er die Pläne für den Osteraufstand von 1916, indem er dem Chef der Irish Volunteers, der gegen jede gewaltsame Intervention war, verriet, dass er für die darauffolgende Woche geplant sei, woraufhin alle Aktionen der Volunteers abgesagt wurden. 1925 ging O’Duffy nach England. Als Mann zwischen allen Stühlen starb er 1935 in einem Vorort von London.

Gabriele Haefs ist eine der bekanntesten Übersetzerinnen Deutschlands (u.a. von Jostein Gaarder, Håkan Nesser, Anne Holt). Sie wurde u.a. mit dem Gustav-Heinemann-Friedenspreis ausgezeichnet, 2008 mit dem Sonderpreis für ihr übersetzerisches Gesamtwerk, 2011 mit dem Königlich-Norwegischen Verdienstorden.

Informationen zum Buch:

Eimar O’ Duffy
King Goshawk und die Vögel
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart, 2019

Stimmen zum Buch:

“Eine sensationell hellsichtige, kühne, sprachgewaltige, wildkomische und bitterböse Gesellschaftssatire.” – Gitta List, Magazin Schnüss

“Mit diesem Roman gelingt es dem Kröner-Verlag erneut, in Deutschland eher unbekannte irische Autoren vorzustellen, deren Werke ein Lesegenuss sind und die uns zum Nachdenken anregen.” – Joachim Schwend, Kreuzer Leipzig

“Bigotterie, Propaganda, Politiklügner, Kriegstreiber – staunenswert aktuell ist dieser gallige Roman des irischen Außenseiters.” – Alexander Kluy, Buchkultur

“Dieser Roman ist durch und durch politisch und extrem provokant. Satirisch? Keine Frage und irgendwie auch verbittert, vielleicht auch desillusioniert.” – Petra Kuhn, Petras Bücherapotheke

“O’Duffy war nicht nur ein visionärer Sozialkritiker, sondern auch als Schriftsteller seiner Zeit weit voraus.” – Stefan Härter, Bookster HRO

“Selten hatte ich ein so gutes Buch in der Hand! Der Sprache merkt man die 100 Jahre an, die das Buch alt ist, doch ich liebe die Poesie und den Anspruch. Die Sätze sind lang und kompliziert, es ist wohl ein Buch, das man nicht so nebenbei weglesen kann, jeder Satz will beachtet werden. Eimar O’Duffy schreibt intelligent, philosophisch, bissig, satirisch.” – Julia Moldenhauer, ausgebucht

Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für den Kröner Verlag.

Edna O`Brien: Das Mädchen

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Bild von Etinosa Yvonne auf Pixabay

„Nicht, Maryam … Nicht“, sagte Buki in tadelndem Ton. Ich schluckte meine Tränen herunter, schämte mich. Was war mit dem Mädchen passiert, das ich einmal gewesen war. Es war fort. Ich hatte keine Liebe mehr in mir. Ich wollte sterben. Ich will sterben, flüsterte ich. Ich wusste nicht, was ich sagte. Ich wusste nicht, wie nah der Tod sein konnte, dass er über uns schwebte.

Edna O`Brien, „Das Mädchen“.

Edna O`Brien geht nicht nur dahin, wo es schmerzt, sondern wo es beinahe unerträglich wird. Die große, streitbare irische Schriftstellerin hat schon mit ihren ersten Romanen Frauen eine Stimme gegeben, Damals den jungen Frauen Irlands, die sich aus der Enge ihrer Heimat befreien wollten. Ihre Stimme, so klar, so scharf und präzise, so eindringlich und aufrüttelnd: Ihre Trilogie um die „Country Girls“ erboste die Etablierten, wurde vom Iris Censorship Board verboten und in einigen irischen Städten öffentlich verbrannt.

Das könnte ihrem jüngsten Buch auch passieren, wenn auch in einem anderen Teil der Welt. 2016 und 2017 bereiste die Schriftstellerin, die heuer 90 Jahre alt wird, Nigeria. Eine Zeitungsmeldung von einer der 2014 von der islamistischen Terrormiliz Boko Haram verschleppten Schülerinnen, der die Flucht gelungen war und die monatelang im nigerianischen Urwald überlebt hatte, ließ die große Dame der irischen Literatur nicht mehr los.

Die Geschichte der 276 Schülerinnen, die nachts aus einem christlichen Internat in Chibok entführt wurden, ging vor sechs Jahren um die Welt. Jahre später wurden 82 Schülerinnen nach Verhandlungen der nigerianischen Regierung von Boko Haram freigelassen, anderen gelang die Flucht. Doch immer noch ist der Verbleib von über 100 der jungen Frauen ungeklärt. Ihr Schicksal ist längst schon von anderen Nachrichten verdrängt, kaum einer mehr fragt nach ihnen oder dem Leben, das die Frauen nach ihrer Befreiung führen. Wäre da nicht Edna O`Brien.

Sie begegnete bei ihren Reisen den Überlebenden des Terrors, fand Zugang zu ihnen, hörte ihre Geschichten. All dies verdichtete sie in einer Figur, dem Mädchen Maryam. Eine fleißige Schülerin, deren Erzählung mit den Worten beginnt:

„Ich war einmal ein Mädchen, aber ich bin es nicht mehr.“

Die Perspektive der Ich-Erzählerin, die Erzählweise im Präsenz, dies beides macht diesen Roman so unmittelbar, die Sprache so direkt, als stünde dieses Mädchen außerhalb ihres geschundenen Körpers und blickte aus dieser Distanz auf das Geschehen. Anders ist es vielleicht für die Betroffenen auch kaum zu ertragen – fällt es doch schon der Leserin schwer, den Misshandlungen und Vergewaltigungen der Frauen auf dem Papier zu folgen. Am Beispiel der Boko Haram zeigt Edna O`Brien auf, warum Frauen unter Kriegen und Terror doppelt und dreifach leiden: Sie sind nicht nur Vertriebene und Verletzte, ihre Körper werden instrumentalisiert, unterworfen, die psychischen Schäden wirken sich auf die Vergewaltigten selbst, aber auch auf ihre Angehörigen aus.

„Werde ich jemals die Liebe kennenlernen.
Werde ich je wieder irgendwo zu Hause sein.“

Maryam, die zwangsverheiratet wird und ein Kind bekommt, gelingt schließlich mit ihrer Freundin Buki bei einem Luftangriff auf eines der Lager der Terrormiliz die Flucht. Monatelang irren die beiden Frauen durch den Urwald, Buki stirbt schließlich an einem Schlangenbiss, Maryam wird von Nomaden gerettet. Doch die Rückkehr, wo sie zunächst durch einen Empfang beim Präsidenten gefeiert und ein weiteres Mal verdinglicht wird, wie eine Trophäe des Krieges ausgestellt, ist schwierig: Von ihrer Familie hat nur die Mutter überlebt, im Dorf wird sie als „Buschfrau“ misstrauisch beäugt, das Kind wird ihr zunächst weggenommen.

Nur wenige Menschen begegnen ihr menschlich, so wie der Kommandant eines kleinen Militärpostens, von dem sie aufgegriffen wird:

„Er entschuldige sich, wenn die beiden Tölpel etwas grob gewesen seien, ich müsse mir klarmachen, dass ich für sie kein Mädchen sei, nicht einmal ein Mensch, ich sei eine Todesbotin, ein Lockvogel, zur Ablenkung von einem Angriff gesandt.“

Maryam, vom misstrauischen Stiefvater im einstmaligen Elternhaus eingesperrt, gelingt schließlich ein zweites Mal die Flucht – weg vom Heimatdorf in die Anonymität der Stadt. In einem Kloster und später in einer kirchlichen Schule auf dem Land, wo sie als Hilfslehrerin arbeiten kann, findet sie Unterschlupf und eine neue Perspektive.

Nigeria, eines der bevölkerungsreichsten Länder der Erde und die größte Volkswirtschaft auf dem afrikanischen Kontinent, ist zugleich seit der 1999 beendeten Militärdiktatur auch ein zerrüttetes Land: Von Korruption der Elite und Armut der Masse geprägt, von zahlreichen ethischen und politischen Konflikten. Der Kommandant führt Maryam vor Augen, wie wenig ein einzelnes Frauenleben da zählt:

„Ich bin, könnte man sagen, zum letzten Akt erschienen. Dieselben Bäume, dieselbe Dunkelheit, dieselbe dräuende Ungewissheit. Warum erzähle ich dir das … Weil ich dich nicht kenne und weil du mich nicht kennst, und weil du nicht weißt, in welche Welt du zurückgekommen bist.“
Er nimmt einen Zeitungsausschnitt aus der Schublade und liest mir die neueste Statistik vor:
„In diesem Land sind bis zu zwei Millionen Menschen aus ihrer Heimat geflohen, 1,9 Millionen Menschen sind vertrieben, 5,2 Millionen Menschen hungern, und geschätzte 450 000 Kinder leiden an Unterernährung.“

Doch Edna O` Brien wäre nicht diese großartige Schriftstellerin, gäbe sie nicht ihrem Mädchen eine Kraft, die vielen Frauen innewohnt, innewohnen muss. Den Worten ihrer Mutter, es läge nicht in ihrer Kraft, etwas zu ändern, weil sie Frauen seien, setzt Maryam eine Tat entgegen: Sie nimmt ihr Kind, geboren aus einer erzwungenen Ehe in der Sklaverei, gegen alle Widerstände an, sie nimmt ihr Kind und ihr eigenes Leben in die Hand.

Informationen zum Buch:

Edna O`Brien
Das Mädchen
Hoffmann und Campe Verlag, 2020
Übersetzung: Kathrin Razum
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 256 Seiten, 23,00 Euro
ISBN: 978-3-455-00826-5


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Lesarten: 50 Jahre unabhängig, unerwartet, unbeirrt – der MaroVerlag

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Sarah Käsmayr bekam das Literatur-Gen von ihrem Vater mit: Sie bilden den Augsburger MaroVerlag. Alle Bilder: Birgit Böllinger

Eigentlich begann alles mit einem kleinen Schwindel. Weil er unbedingt auf ein Gymnasium wollte, die Eltern aber dagegen waren. Also lockte der junge Benno die Frau Mama mit der Anzeige eines katholischen Internats und der vagen Aussicht, man könne ja vielleicht irgendwann einen Pfarrer in der Familie haben.

Da saß er nun, in Dillingen a.d. Donau, und fühlte sich völlig fehl am Platz. „Ich habe mich aus allem ausgeklinkt und nur eines getan: Lesen, lesen, lesen.“ Und eben nicht katholische Erbauungsliteratur, sondern all das, was zu jener Zeit neu und wild war, beeinflusst von der Literatur der Beat Generation. „Wir im Internat und draußen die freie Welt – die Literatur hat mich gerettet“, erzählt Benno Käsmayr heute.

Ein Pfarrer wurde aus dem Augsburger nicht, aber aus dem Lesen und der Leidenschaft für Literatur folgte der nächste logische Schritt: 1969 gründete er mit seinem Freund Franz Bermeitinger, den er aus dem Internat kannte, einen eigenen Verlag. „MARO“, zusammengesetzt aus den Vornamen zweier Brieffreundinnen, hieß der Kleinbetrieb, und damals wie heute galt das Motto, Bücher zu verlegen, die „man sonst nicht findet.“

Die erste Publikation: „Das große Scheißbuch“, ein wildes Kompendium aus Bildcollage und Dichterparodien. Immerhin verkaufte sich das „Scheißbuch“ für fünf Mark einige Male und bildete damit den Grundstock für die Herausgabe einer eigenen Literaturzeitschrift: „UND – zeitschrift für angebliche literatur und andere branchenunübliche kommunikationsformen in dementsprechender aufmachung“. Neben dem Studium arbeitete Benno Käsmayr noch in einer Druckerei, die sich vor allem auf Dissertationen spezialisiert hatte, da konnten dann – im Tausch gegen Arbeitszeit – die ersten Maro-Veröffentlichungen gedruckt werden.

„Wir sind da eigentlich so reingestolpert, der Franz und ich“, erzählt Käsmayr aus den Anfängen, „wir haben uns zum Beispiel nicht gefragt, wieviel Arbeit in einem Projekt steckt, sondern auf der Basis kalkuliert, was wir selber zahlen würden.“ Neben Überzeugung und Leidenschaft gehört jedoch auch eine Portion Glück dazu – und das hatten die beiden, als sie einen Einkäufer der Montanus-Buchfilialen, der ersten deutschen Buchhandelskette, die später mit Thalia zusammenging, trafen. „Der fand das, was wir machten, zwar anarchistisch und ein wenig lausig, aber meinte, das würde den Zeitgeist ansprechen und ein bestimmtes Publikum in ihren Läden.“

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Der große Durchbruch für den Verlag kam mit ihm – Charles Bukowski.

Damit war aber auch klar: Jetzt war „Maro“ in der Produktionskette drin. Dennoch hätte sich der Verlag vielleicht nicht halten können, hätte es 1974 nicht dieses Buch gegeben: „Gedichte, die einer schrieb bevor er im 8. Stockwerk aus dem Fenster sprang.“ Carl Weissner, der Übersetzer und Kenner der amerikanischen Underground-Literatur, war zuvor schon bei großen Verlagen mit den Gedichten von Charles Bukowski abgeschmettert worden, als er zu Maro damit kam. Unter welch teilweisen abenteuerlichen Bedingungen das Buch gedruckt wurde, erzählte Käsmayr unter anderem 2008 in einem Interview mit „Zeit Online“. Zunächst blieb die Nachfrage überschaubar, bis einige Literaturkritiker und Kenner für Bukowski trommelten. Rund 150.000 Exemplare von Bukowski-Büchern hat Maro verkauft – kein Wunder also, dass der Name des amerikanischen Schriftstellers eng mit dem Augsburger Verlag verbunden ist. Käsmayr traf ihn 1978 bei der legendären Hamburg-Lesung und vergrub zwei Jahre später mit ihm Mandarinen im kalifornischen Garten – aber das sind nur einige der vielen Geschichten und Anekdoten, die der Augsburger zu erzählen hat. Das wäre schon noch ein eigenes Buch wert.

Bis hin zu der Szene, wie Käsmayr unter der Druckmaschine liegt, dort etwas repariert, und ihm das wild klingelnde Telefon zugeschoben wird: „Plötzlich gaben sich die großen Verlage buchstäblich die Klinke in die Hand, alle wollten die Taschenbuch-Lizenzen für Bukowski.“ Auch das war für den Jungverleger etwas Neues, auch daraus lernte er, wie der Markt funktioniert, „aber auch, was ich für meinen Verlag nicht wollte.“

Reich geworden ist der Verleger, der das deutschsprachige Publikum mit Charles Bukowski, John Fante und Harold Norse bekannt machte und unter anderem mit Tiny Stricker und Jörg Fauser die „jungen Wilden“ der 1970er-Jahre publizierte, in den 50 Jahren Maro-Verlagsgeschichte nicht. „Unabhängig – unerwartet – unbeirrt“ zu sein und zu bleiben, das funktionierte nicht nur, weil der Verleger das „Spontitum“ der 68er-Generation mit  schwäbischen Charakterzügen vereint, sondern auch, weil lange Jahre eine eigene Druckerei für den Familienunterhalt mit sorgte und das Ganze als Familienbetrieb läuft: Tochter Sarah, die ebenfalls ein tolles Gespür für besondere Bücher hat, ist in den Verlag eingestiegen und aus den Interessen ihrer Mutter entstand eine Textilbuchreihe – was man auf den ersten Blick bei Maro nicht vermuten würde, die jedoch Umsatz in die Betriebskasse bringt.

Erst 2017 wurde der Verlag mit dem Preis für einen unabhängigen Verlag durch den Freistaat Bayern ausgezeichnet –  die Bezeichnung „Kleinverlag“ scheuen die „Maroaner“ nicht. „Mir ist es lieber, ein gutes denn ein großes Programm zu machen“, sagt Benno Käsmayr. Dazu gehört auch, die alten Titel nach Möglichkeit lieferbar zu halten, nachdrucken zu können.

In einem Interview mit Frank Schäfer in der Zeit Online sagte Benno Käsmayr 2008:

„Es gab dann später durchaus Übernahmeversuche, da kamen Leute, die das Handwerk gelernt hatten und bei mir einsteigen wollten. Als die dann aber sahen, welche Philosophie ich habe, sind die alle wieder abgesprungen. Ich will ja auch die alten Titel, etwa von Tiny Stricker und anderen, nach Möglichkeit immer lieferbar halten. Die gehen ja davon aus, bei einer Auslieferung verursacht jeder Titel jeden Monat so und so viel Lagerkosten. Deshalb gibt es ja dieses Verramschen, Kaputtmachen, Makulieren, oder wie die das nennen, das habe ich ja nie gemacht. So ticke ich nicht.“

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Ein Verleger, der am liebsten alles selber macht – bis zur Auslieferung mit handschriftlichem Gruß an den Kunden.

Das Interview beendet den 2016 erschienenen Sammelband „Marotte“, optisch und handwerklich ein beispielhaftes „Maro“-Buch: Gestaltet von Design-Studierenden der Hochschule-Augsburg, sorgfältig gedruckt und mit farbig gestalteten Einlegern versehen. „Marotte“ versammelt Texte zahlreicher Maro-Autoren, darunter auch die herrliche Geschichte von Barbara Kalender und Jörg Schröder über ihren ersten Kontakt zu Benno Käsmayr, der ihnen in einem Brief vorkalkuliert, wie man ein Buchprojekt wirklich durchzieht. Ihre Charakterisierung ist herrlich – und auch treffend, wie ich bei meinem Verlagsbesuch feststellte. Ich hatte mich – nichtsahnend – für 13.00 Uhr bei den Käsmayrs verabredet und fand eine Szene vor, wie sie Jörg Schröder beschreibt:

„In der Buchbinderei stand außerdem eine zusammengewürfelte Küchenzeile mit Kühlschrank, Herd, Spüle und Geschirrspülmaschine, und der große Resopaltisch vor den Küchenschränken wurde nicht nur zum Zusammentragen von Druckwerken benutzt, sondern auch – nicht gerade im Sinne der Berufsgenossenschaft – zum  Mittagessen für die ganze Mannschaft. Wir (…) erfuhren, dass jeder Mitarbeiter mal mit dem Kochen dran sei. Um eins wurde gemeinsam gegessen. Das gefiel uns gut, selbst ohne syndikalistischen Überbau.“

Die Tradition des gemeinsamen Mittagessens gibt es bis heute noch – und ich wünsche dem MaroVerlag, dass der Tisch, an dem man lecker schmausen kann und einfach gute Literatur serviert bekommt, noch lange Jahre gedeckt ist!


Weitere Informationen:

Homepage des MaroVerlags: https://www.maroverlag.de/

Verlagsportraits bei Deutschlandfunk Kultur und der Süddeutschen Zeitung.

Einige Titel von Maro bei Sätze&Schätze: “Kleine Satelliten” von Lydia Daher, “Little Italy” und “Voll im Leben” von John Fante

Sebastian Barry: Tage ohne Ende

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Sprengt die Grenzen des Genres: “Tage ohne Ende” ist mehr als “nur” ein Western. Bild von Free-Photos auf Pixabay

„Als ich John Cole begegnete, war ich nichts als ne menschliche Laus; selbst böse Menschen gingen mir aus dem Weg, und die guten hatten keine Verwendung für mich. Das war mein Ausgangspunkt. Gibt Ihnen eine Vorstellung von dem Triumph, den die Begegnung mit John Cole für mich bedeutete. Zum ersten Mal fühlte ich mich wieder wie ein Mensch. Und damit Schluss, sag ich, mehr will ich nicht erzählen. Schweigen.
Ich erzähl`s auch nur deswegen, weil ich glaube, wenn ich`s nicht erzähle, lässt nichts sich richtig verstehen. Dass wir in der Lage waren, Gemetzel mit anzusehen, ohne mit der Wimper zu zucken. Denn zunächst mal warn wir ja selber nichts.“

Sebastian Barry, „Tage ohne Ende“.

Thomas McNulty ist der wohl ungewöhnlichste Held eines Westerns seit dem Mädchen Mattie in „True Grit“. Der junge Ire, der in diesem Roman seine Lebensgeschichte erzählt, flüchtet, nachdem der Hunger auf der grünen Insel seine komplette Familie hingerafft hat, nach Amerika. Doch der „Wilde Westen“ erweist sich als zwiespältiges Paradies: Brutal, grausam, eine Natur, die den Menschen an seine Grenzen bringt und Kriege, in denen über menschliche Grenzen gegangen wird. Kein Leben, wäre da nicht John Cole, den der minderjährige Thomas beim Herumstreunen trifft, ein vagabundierendes Kind wie er.

„Dann John Cole. John Cole war meine Liebe. Meine große Liebe.“

Die beiden Jungen verdingen sich zunächst als Eintänzer in Frauenkleidern in einer Bar, wohl eine gängige Lösung für den notorischen Frauenmangel in den Bergarbeiterstädten. Als sie in die Höhe schießen und die Bärte sprießen, ist es damit jedoch vorbei. Als Ausweg bleibt die Armee, jenes Sammelbecken Tausender verarmter Einwanderer. Thomas zieht zwar auch die Uniform an, doch schlüpft, wenn es die Gelegenheit zulässt, immer wieder in Frauenkleider:

„Ich fühle mich als Frau, mehr als ich mich je als Mann gefühlt habe, trotzdem ich einen Großteil meines Lebens Soldat gewesen bin. (…) Es steckt einfach in dir drin, du kannst es nicht leugnen. (…) Als Frau bin ich entspannt, als Mann bin ich verkrampft. Als Mann sind alle meine Glieder gebrochen, als Frau geheilt.“

Das Besondere an diesem Roman ist: So unaufgeregt, so ruhig, beinahe lakonisch wie der Protagonist von seinem Familienleben erzählt – er und John Cole heiraten und nehmen als Quasi-Adoptivtochter ein Indianermädchen zu sich – so schildert er auch die Katastrophen, in die Cole und er durch ihren Armeedienst geschleudert werden: Sie sind Teil jener Vernichtungsmaschinerie, die die indianischen Ureinwohner niedermetzeln, sie kämpfen im Sezessionskrieg gegen Soldaten der Südstaaten, oftmals ebenso gebürtige Iren wie Thomas (der sich später Thomasina nennt), selbst.

Es ist die Stärke dieses Buches, das es das Übelste, was Menschen anderen Menschen antun können, in einer ganz besonderen Sprache benennt: Nüchtern, ohne Voyeurismus zu wecken, direkt, ohne in eine Abenteuer- und Wildwest-Geschichten abzugleiten, in oft einfachen Worten, die durch ihre Einfachheit erst so richtig berühren. Hans-Christian Oeser hat dafür in seiner Übersetzung die passenden Worte, den richtigen Ton gefunden.

Nachdem Thomas und andere seiner Kompanie – beinahe aus Versehen – alle Frauen und Kinder eines Indianerdorfes niedergemetzelt haben, sagt er:

„Man konnte die versehrten Gesichter sehen und das gegrillte Fleisch riechen, in der Hitze krümmten die Leichen sich seltsam zusammen; von den Wänden nicht länger gehalten, fielen und rollten sie auf das versengte Gras. Noch mehr Funken flogen auf, es war eine vollständige Vision vom Ende und Untergang der Welt, in diesem Augenblick konnte ich nicht mehr denken, mein Kopf war blutleer, gedankenleer, er dröhnte, ich war fassungslos. Soldaten weinten, aber es waren keine mir bekannten Tränen. (…) Wir waren ohne Ort, wir waren nicht vorhanden, wir waren nur noch Gespenster.“

Thomas wird im Laufe der Geschichte zu einem Helden, einer Heldin, die ans Herz wächst: Einer, der trotz der Gräuel, die er erlebt, sich Mitgefühl, Mitmenschlichkeit und Liebe bewahrt.

Am Ende, durch die Zeitläufe geworfen wie ein zweiter Melchior Sternfels von Fuchshaim, kehrt Thomas alias Thomasina zu seinen Liebsten zurück:

„Noch nie hatte ich ein so reines Gefühl, eine so feurige Freude empfunden. Ich bin wie ein Mann, der nicht nur dem Tod entgangen ist, sondern seinem eigenen verwirrten Ich.“

Ein außergewöhnlicher Held, ein außergewöhnliches Buch, das Genregrenzen sprengt und ähnlich wie „Butcher`s Crossing“ von John Williams weit mehr ist als „nur“ ein Western: Es ist ein Buch, das existentielle Fragen stellt.

Sebastian Barry gilt als einer der besten zeitgenössischen irischen Autoren: Mehrerer seiner Theaterstücke und Romane wurden mit renommierten Preisen ausgezeichnet, darunter auch „Days Without End“, das 2016  im Original erschien und 2018 in der Übersetzung von Hans-Christian Oeser beim Steidl Verlag.

Informationen zum Buch:

Tage ohne Ende
Sebastian Barry
Steidl Verlag
Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser
22,00 Euro
256 Seiten, geb. mit Leineneinband
ISBN 978-3-95829-518-6

Eine weitere Rezension findet sich bei Zeichen & Zeiten.


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Edna O`Brien: Die kleinen roten Stühle

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Sarajevo. Bild von olafpictures auf Pixabay

„Das Letzte, was sie von ihm sahen, war seine große Gestalt, ungebeugt, aber gedemütigt, als er aus dem Bus ausstieg, und so wie das Sonnenlicht zuvor das junge Eschenlaub umschmeichelt hatte, schabte es jetzt über das metallene Armband, mit dem seine Hände gefesselt waren.
Es war alles so schnell gegangen, so „unspektakulär“, wie sie fanden, dass keiner recht wusste, was er sagen sollte.“

Edna O`Brien, „Die kleinen roten Stühle“, OA 2015, Steidl Verlag Göttingen, 2017.

So unspektakulär wie die Festnahme eines der schlimmsten europäischen Kriegsverbrecher, so scheinbar unspektakulär beginnt dieses Buch. Ein Fremder kommt in eine abgelegene irische Gemeinde Cloonoila. Geheimnisvoll und charismatisch. Und trotz seiner esoterisch angehauchten Therapiepraxis, die er bald eröffnet, gewinnt „Dr. Vlad“ die Sympathien der Dorfleute, des Pfarrers und der anderen Obrigkeiten, der Kneipengänger, vor allem aber auch die Herzen der Frauen und Kinder.

Ganz sacht, ganz sanft führt die großartige irische Erzählerin Edna O`Brien – hier kongenial übersetzt von Kathrin Razum und Nikolaus Stingl – in das Geschehen ein. Und dennoch spürt man, dass unter der idyllischen Oberfläche das Böse lauert, dass es darauf wartet, hervorzubrechen. Es wird die attraktive Fidelma treffen, mit aller Grausamkeit und Gewalt. In Fidelmas Wesen liegt es, anders zu sein, auszubrechen aus diesem Soziotop, in dem sie kinderlos, die Reste eines unrentablen Modegeschäfts abwickelnd, an der Seite ihres muffigen Ehemann unausgefüllt verharrt. Der Ausbruch wird anders, grausamer kommen, als sie es sich denkt – und doch vielleicht in ihren Träumen schon vorwegnimmt. In ihren Träumen nimmt Vlad Besitz von ihr, zeugt ihr ein Kind, „unser Kleines, kostbare Frucht unseres Verrats.“

„Es war der Nebel, der mich dazu brachte. Ein weißer Nebel, der wie ein fließender Mousselin hin und wieder unsere Gegend einhüllt. Manchmal kommt er nachts, manchmal in den frühen Morgenstunden. Er setzt sich über Grenzen hinweg, verwebt benachbarte Grafschaften. Ich war darin unsichtbar und mein kleiner hellgrüner Citroën ebenso, ungesehen schwebten wir durch ihn hindurch.“

Tatsächlich wie benebelt erscheint Fidelma, als sie Vlad bedrängt, ihr ein Kind zu zeugen – und der Fremde zeigt bei den intimen Treffen erstmals sein eigentliches, sein wahres Gesicht: Dominant und manipulierend, ohne Empathie. Als durch einen Zufall seine wahre Identität an das Licht kommt, ist es die schwangere Fidelma, die auf unbeschreiblich schreckliche Weise einen Preis für ihren Wunsch zu zahlen hat. Wie ihr das ungeborene Kind genommen wird, das ist eine Szene von unvorstellbarer Grausamkeit, für mich war sie kaum auszuhalten – und dennoch ist sie zugleich notwendig für die weitere Entwicklung dieses Romans. Der Leser wird, buchstäblich mit der Brechstange, mit der Fidelma vergewaltigt wird, von der Fiktion in die Realität getrieben. Was Menschen anderen Menschen antun können, das, so zeigt diese Schlüsselszene vielleicht sogar eindrücklicher, als es die in einem nüchternen Gerichtssaal verlesenen Protokolle vermocht hätten. Diese Grausamkeit, sie entspringt nicht der Phantasie einer Autorin, sondern sie ist in der Welt, sie ist bittere Realität.

Auch Martin Zähringer geht in seiner Buchvorstellung für den NDR auf diese Szene ein:

„Die nun geschilderten Grausamkeiten sind fiktiv, aber sie sind keineswegs nur Schockeffekte einer Romanerzählung. Denn die literarisch in Irland inszenierte Sphäre der Gewalt führt nach und nach zu ihrem Sitz im wirklichen Leben: Das ist die Stadt Sarajewo, die im Bosnienkrieg vom 5. April 1992 bis zum 29. Februar 1996 von bosnischen Serben und Paramilitärs belagert und bombardiert wurde.“

Quelle:
http://www.ndr.de/kultur/buch/Edna-OBrien-Die-kleinen-roten-Stuehle,diekleinenrotenstuehle100.html

Dr. Vlad, das ist der Kriegsverbrecher Radovan Karadžić, der 2016 vom UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zu 40 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ein Psychiater (der unter anderem auch für den FC Barcelona tätig gewesen war) und ein Poet. Und zugleich ein Massenmörder. Unfassbar, unbegreiflich: Wie kann das zusammen gehen? Wie kann ein Mensch überhaupt zu solchen „un“menschlichen Taten fähig sein?

Das ist die Grundfrage, die Fidelma – die aus der Gemeinschaft verstoßen, vom Mann verflucht, ins englische Exil vertrieben, ihr Leben als Reinigungsfrau in London fristet und dort andere Ausgestoßene, Flüchtlinge, Verfolgte und deren traumatische Geschichten kennenlernt – schließlich bis nach Den Haag treibt. Und die Edna O`Brien zu diesem Roman, ihrem großartigen Alterswerk, bewegte.

In einem Interview mit Thomas David in der NZZ äußert sich die 87jährige dazu:

„Wie kann ein Mann für den Tod Tausender Menschen verantwortlich sein und sich zum Abendessen an einen Tisch setzen, ohne zusammenzubrechen? Wie kann man ein Leben als Despot führen, ohne in einem Ozean der Schuld zu versinken? Für meinen Roman bediente ich mich eines Kriegsverbrechers aus jüngerer Zeit, der sich bereits in Den Haag befand, als ich mit der Arbeit an dem Buch begann. Ich sah Radovan Karadžić oft im Fernsehen: diesen Ritter in seiner Rüstung, der mit wehendem Haar einen Berg erklomm. Ich habe seine Eitelkeit gesehen, seinen Eroberungs- und Besitzwillen. Den Gotteskomplex, der Menschen wie ihm eigen ist.“

Quelle:
https://www.nzz.ch/feuilleton/edna-obrien-zweitklassige-literatur-ist-ueberfluessig-ld.1321794

Doch, so sagt sie im Gespräch weiter, eine Antwort darauf, ob es im Menschen eine Saat des Bösen gibt, die fand sie beim Schreiben und bei der Verfolgung des Prozesses – auch Edna O`Brien war in Den Haag anwesend – so wenig wie ihre Figur Fidelma bei einer letzten Begegnung mit Dr. Vlad Antworten erhält. Auch in der fiktiven Begegnung zeigt sich Vlad so uneinsichtig wie es der tatsächliche Radovan Karadžić im Gerichtssaal war:

„Ich bin Dichter, ich bin Künstler, ich bin Humanist, Herr des Himmels, und werde in diesem stinkenden Universum für Verbrechen eingesperrt, die ich nicht begangen habe.“

Seine zentrale Frage, die nach der Ursprung des Bösen, kann der Roman nicht beantworten. Aber Edna O`Brien gelingt es auf eindrückliche, bewegliche Art und Weise zu zeigen, welche Folgen die Grausaumkeit für die Opfer hat, welche Schmerzen der Fanatismus verursacht, wie viel Leid Unschuldige erdulden müssen. Ein Buch, das Spuren hinterlässt.

PS: Der Titel „Die kleinen roten Stühle“ erinnert an die Gedenkaktion in Sarajewo am 6. April 2012, zwanzig Jahre nach Beginn des Bosnienkrieges. 11 541 rote Stühle an der Hauptstraße standen für Menschen, die während der Belagerung in Sarajewo umgekommen waren, 643 kleine rote Stühle standen für die ermordeten Kinder.

Verlagsinformationen zum Buch:
https://steidl.de/Kuenstler/Edna-O-Brien-0714253349.html

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James Joyce: Die Katzen von Kopenhagen

LEIDER!
KANN ICH DIR KEINE KOPENHAGENER KATZE SCHICKEN,
WEIL ES IN KOPENHAGEN KEINE KATZEN GIBT.

James Joyce, der liebevolle Opa: Ganz begeistert bin ich von einem Brief, den der Schriftsteller vermutlich 1936 aus Dänemark an seinen Enkel Stephen James schickte. Er teilt dem Vierjährigen auf eine recht skurrile, lyrisch-versponnene Art und Weise mit, warum er ihm keine Katze aus Kopenhagen schicken kann – mit Süßigkeiten gefüllte Katzen waren zu dieser Zeit ein beliebtes Geschenk.
Statt über Süßigkeiten schreibt Joyce seinem Enkel aus Kopenhagen über dänische Polizisten, die den ganzen Tag im Bett liegen und Buttermilch trinken, über rote Jungs auf roten Rädern, die den Job der Polizisten erledigen – und kommt ganz am Schluss auf eine geniale Idee. Aber die wird hier nicht verraten…

Schließlich mussten auch die Joyce-Anhänger viel Geduld haben, bis „Die Katzen von Kopenhagen“ erscheinen durften: Es dauerte bis 2012, bis die rechtlichen Voraussetzungen für die „Welturausgabe“ geklärt waren. Das Kinderbuch zeigt den augenzwinkernden, humorvollen Joyce, wie er auch im „Ulysees“ aufblitzt und dem Harry Rowohlt mit seiner Übersetzung den passenden Ton gibt. „Die Katzen von Kopenhagen“ erschien beim Hanser Verlag. Die Illustrationen von Wolf Erlbruch (2003 für sein Lebenswerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet) stehlen dem skurrilen Text beinahe die Schau – so richtig schöne, dicke Buttermilch-Katzen und faulenzende Polizisten, die als Illustrationen auch für sich stehen können.


Verlagsangaben:
https://www.hanser-literaturverlage.de/buch/die-katzen-von-kopenhagen/978-3-446-24159-6/

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#MeinKlassiker (31): Bernhard Rusch spaziert mit James Joyce durch Dublin

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Bild von Couleur auf Pixabay

Autor, Zeichner, Verleger und noch einiges mehr: Bernhard Rusch ist ein Multitalent. Ein Portrait von ihm findet sich hier auf dem Blog paperwork, ein Einblick in seine Arbeiten unter Elwood.

Bernhard Rusch ist zudem Kopf der Vereinigung und Herausgeber des gleichnamigen Magazins applaudissiment.

Beim Blick in das wunderbar gemachte Magazin hätte ich bei Bernhard eher vermutet, als Klassiker kommt ein dadaistisches Manifest oder etwas aus der Zeit des Expressionismus. Doch er überraschte mich mit Joyce! Here we go:

Ich sitze im Zug. Und sinniere über einen Klassiker: Die Dubliner von James Joyce. Und höre zur Einstimmung die Pogues.

Es handelt sich bei dem Buch um eine Sammlung von Kurzgeschichten, die – wen wundert`s bei dem Titel – alle in Dublin spielen. Wie ja alles, was Joyce geschrieben hat.

Es ist das am leichtesten zu lesende seiner Bücher. Was aber nicht bedeutet, dass es sich um leichte Kost handelt.

Der Autor entführt uns ins Dublin um 1900 herum. Um uns mit den Abgründen der menschlichen Seele bekannt zu machen.

Die Orte und Typen dürften ihm aus eigener Erfahrung bekannt gewesen sein. Er verfolgte keine folkloristischen Absichten. Und hatte auch nicht vor, seiner Heimatstadt ein Denkmal zu setzen. Sondern verwendete die Stadt und ihre Einwohner als Rohstoff, mit dem er vertraut war.

Plots sucht man in diesen Geschichten wie seinen späteren Werken vergeblich. Im Kern sind es Geschehnisse, die man in der Kneipe oder auf der Straße austauscht. Nach dem Motto: Hast du schon gehört…

Joyce bezeichnete seine Dubliner als Karikaturen. Das sind sie wohl. Damit auch sein bitterstes Buch. Nicht so verspielt oder humoristisch wie Ulysses und Finnegans Wake. Vielmehr sehen wir die Schattenseiten. Wie Pädophilie. Selbstmord aus enttäuschter Liebe. Oder Kindesmisshandlung als Reaktion auf eigene Unfähigkeit.

Andererseits ist in diesem Buch – wie Souppault richtigerweise feststellt – schon sein ganzes Werk angelegt. Inhaltlich das Panoptikum der menschlichen Seelen. Und stilistisch diese unablässige Suche nach dem richtigen Ausdruck. Der passenden Struktur. Dem einzelnen Wort.

Es sind musikalische und zutiefst lyrische Stücke entstanden. Sie steigern die Empfindung der Realität durch Weglassungen. Sie verzichten auf Erklärungen. Und wirken daher unmittelbar.

Irland steht dabei nicht im Vordergrund. Aber die wenigen eingestreuten „irischen“ Themen strahlen auf das ganze Buch aus. Und geben ihm damit eine klare regionale Heimat.

Und Joyce wird ungewollt zu einer Art Heimatschriftsteller. Dessen Werk zurückstrahlt in die Realität. Und die Wahrnehmung Irlands und der Iren bis heute mit beeinflusst.

Letztendlich sollte man es aber einfach von der besonderen Stimmung einfangen lassen. Die hervorgerufen wird durch das Unabänderliche. Der Alkoholiker verhält sich, wie ein Alkoholiker es eben tut. Und für die Eifersucht des Ehemanns auf eine verstorbene Jugendliebe seiner Frau gibt es keine Lösung. Es geht darum, trotzdem weiterzuleben. Gut oder schlecht.

Und am Schluss fällt Schnee über ganz Irland. Als Zeichen des Trosts.

Bernhard Rusch
https://ttr-verlag.jimdo.com/

Lesezeichen von: Ian McEwan, William Butler Yeats & Benjamin Britten

 

„Das melancholische Lied und wie es hier gespielt wurde, so hoffnungsfroh, so roh, stand für alles, was sie an dem Jungen zu verstehen begann. Sie kannte die reuevollen Worte des Dichters auswendig. Doch ich war jung und töricht … Adams Spiel rührte sie, verwirrte sie aber auch. Mit der Geige oder irgendeinem anderen Instrument anzufangen war ein Ausdruck von Hoffnung, implizierte Zukunft.“

Ian McEwan, „Kindeswohl“, 2014

book-2363881_1920Es ist eine der Schlüsselszenen in Ian McEwans „Kindeswohl“, als die Richterin Fiona und der junge Adam im Krankenhaus mit einander musizieren.

„Sprachlich, stilistisch ist an einem McEwan nie etwas zu bemängeln, auch dieses Mal nicht. Strukturell hat er mich mit seinem letzten Roman Honig, der für mich nur als Spionagegeschichte getarnt eher ein doppelbödiges Spiel mit den Ebenen darstellt, überrascht und für sich eingenommen. Mit Kindeswohl aber hat er mich getroffen und zwar richtig, mitten ins Herz“, schrieb Bri in ihrer Besprechung des Romans beim „feinen, reinen Buchstoff“.

Das Yeats-Gedicht ist nicht von ungefähr gewählt: Beiden, sowohl Fiona und Adam, ist es nicht gegeben, das Leben von einer leichteren Seite zu nehmen.

Down by the Salley Gardens

Down by the salley gardens
my love and I did meet;
She passed the salley gardens
with little snow-white feet.
She bid me take love easy,
as the leaves grow on the tree;
But I, being young and foolish,
with her would not agree.

In a field by the river
my love and I did stand,
And on my leaning shoulder
she laid her snow-white hand.
She bid me take life easy,
as the grass grows on the weirs;
But I was young and foolish,
and now am full of tears.

William Butler Yeats

Enrique Vila-Matas: Dublinesk

„Er wendet sich wieder den Zeitungsnachrichten zu und liest, dass Claudio Magris meint, die Reise im Kreis wie bei Odysseus, der wieder heimkehrt – die traditionelle, klassische, ödipale und konservative joycesche Reise -, werde um die Mitte des 20. Jahrhunderts ersetzt durch die lineare Reise nach vorn: eine Art Pilgerfahrt, eine Reise, die immer weiter führt, auf einen unmöglichen Punkt der Unendlichkeit zu, wie eine gerade Linie, die zögernd ins Nichts vorstößt.
Er könnte sich jetzt als Reisender geradeaus begreifen, doch er will keine Probleme und beschließt, dass seine Lebensreise traditionell, klassisch, ödipal und konservativ verlaufen soll.“

„Riba neigt nicht nur dazu, das Leben zu lesen wie einen literarischen Text, sondern bisweilen sieht er die Welt auch als ein wüstes Gestrüpp oder Knäuel.“

„Seit jeher hegte er eine große Bewunderung für Schriftsteller, die jeden Tag aufs Neue eine Reise ins Unbekannte wagen und dabei doch den ganzen Tag nur in ihrem Zimmer hocken. Hinter verschlossenen Zimmertüren bewegen sie sich nicht weg vom Fleck, und dennoch finden sie gerade in dieser Begrenzung die absolute Freiheit, der zu sein, der sie sein wollen, sich dorthin zu begeben, wohin auch immer ihre Gedanken sie führen.“

Enrique Vila-Matas, “Dublinesk”, 2013, Die andere Bibliothek

Also noch einer, der von Joyce, Bloom und Dublin nicht lassen kann. Enrique Vila-Matas erzählt von einem alternden Verleger, aus dem Literaturgeschäft ausgestiegen, dem Alkohol entsagt, in der Ehe fremdelnd, den wenigen Freunden entfremdet, in den Weiten des Internet verloren. Eine Reise nach Dublin soll eine Wende bringen – zum Guten oder zum Schlechten. Auf den Spuren von Joyce und Bloom soll die Literatur zu Grabe getragen werden. Die Reise wird dublinesk, grotesk, burlesk.
Eingeschränkte Leseempfehlung meinerseits: Ein Buch über die Literatur voller Anspielungen und Bezüge auf alles, was Rang und Namen hat – Magris, Pessoa, Freud, Robert Walser, Hugo Claus, Gadda, Melville. Es bleibt unter anderem der Eindruck zurück, dass Vila-Matas hier nicht nur seiner eigenen Literaturbessenheit freien Lauf lässt, sondern sie auch ein wenig zur Schau stellt. Dazwischen aber wunderbare Textpassagen, Reflektionen, Selbstfindungsabsätze – über die drei wichtigen “L”: Das Leben, die Liebe, die Literatur.
Kein leichtes Lesevergnügen, auch wegen zeitweiliger Redundanz und Langatmigkeit. Aber eine Fundgrube für Joyce- und Beckett-Fans.

In der Bloggerwelt stieß jedoch die deutsche Übersetzung und das Lektorat auf harsche Kritik. Zum Weiterlesen seien folgende Links empfohlen:

http://www.enriquevilamatas.com/escritores/escrschlickerss1.html

http://andreas-oppermann.eu/2013/07/13/hat-der-lektor-von-enrique-vila-matas-dublinesk-zu-viel-getrunken/

http://www.theomag.de/83/am395.htm

http://kopkastagebuch.wordpress.com/2013/07/10/glucklich-wie-ein-trottel/

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Reto Hänny: Blooms Schatten

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Bild: Birgit Böllinger

„danach – war`s anders zu erwarten – der natürlich noch wach Liegenden (einladend vor ihm geöffnet, halb auf der Seite jetzt, der linken, die linke Hand unter dem Kopf, das rechte Bein gestreckt auf dem angewinkelten linken ruhend, erfüllt, entspannt, von Samen strotzend voll), beim Rapport ihr den Ritus des Onan und andere ihm unangenehme Vorkommnisse geflissentlich unterschlagend, vom Frühstück am Morgen über die Beerdigung bis zu seinem jetzigen Bei-ihr-Liegen in großen Zügen fein säuberlich den verflossenen Tag rekapituliert,“

Reto Hänny, „Blooms Schatten“, 2014, Matthes & Seitz Berlin

1 Buchseite nimmt dieser Absatz im Literaturexperiment des Schweizer Schriftsteller Reto Hänny ein – allein der Akt des Zu-Bettgehens eines gewissen Leopold Bloom erstreckt sich in der berühmten Vorlage über zahlreiche Absätze, eingeleitet durch Fragen, die jeden Gedanken des Bloom, insbesondere über den Liebhaber seiner Molly, festzuhalten versuchen.
Man schlage selber den „Ulysses“ nach, um zu lesen, wie sich bei James Joyce der Bloom im Bett erstreckt. Hier einige Beispiele, stark reduziert:

„Was für Gedanken hegte er bezüglich des letzten Gliedes dieser Reihe und kürzlichen Inhaber des Bettes? (…)
Warum gesellte sich für den Beobachter Erregbarkeit zu Kraft, Körperproportion und kaufmännischer Fähigkeit? (…)
Mit welchen widerstreitenden Gefühlen waren seine nachfolgenden Überlegungen besetzt? Mit Neid, Eifersucht, Entsagung, Gleichmut.
Neid? (…)
Eifersucht? (…)“

Mit welchen Modifikationen replizierte der Erzähler dieser Interrogation?
Negativ: er unterließ die Erwähnung der heimlichen Korrespondenz zwischen Martha Clifford und Henry Flower, der öffentlichen Kontroverse in, vor und bei dem lizensierten Schanklokal von Bernard Kiernon & Co., G.m.b.H., 8, 9 und 10 Little Britain Street, der erotischen Provokation sowie Reaktion darauf, verursacht durch den Exhibitionismus von Gertrude (Gerty), Nachname unbekannt.“
James Joyce, „Ulysses“, in der Wollschläger-Übersetzung

Verdichtet, eingedampft, eingekreist, nacherzählt, der Versuch, die Essenz eines Mammutwerkes in einem, einzigen langen Satz zu fassen – dieses, man mag schon beinahe „Wahnsinns-Experiment“ sagen, ist Reto Hänny mit „Blooms Schatten“ eingegangen. Er nimmt die Nacherzählung eines Tages mit dem berühmten Kalypso-Kapitel auf, beginnt diese Reduktion oder besser diesen Fassungsversuch mit einem Satz (der dann über die folgenden 139 Seiten nimmer mehr unterbrochen wird, ganz in der Tradition des Gedankenstroms) so:
„Die Odysee eines Annoncenakquisiteurs weder ohne Furcht noch ohne Tadel der, teils wie unter Schock, von morgens um acht all die Stunden bis weit über Mitternacht hinaus, das nimmer Neue mit immer neuer Hoffnung zu betrachten, einen hektisch anstrengenden Tag lang (einen, wenn man es bedenkt, völlig gewöhnlichen Frühsommertag, einen ausgesprochenen durstigen zwar, an welchen die Trockenheit nach Wochen eitel Sonne aber ihren Höhepunkt erreichen und abrupt zu Ende gehen sollte) durch das Labyrinth einer Stadt weit oben auf der nördlichen Halbkugel irrt, wo die vielen Kneipen den größten Teil der reichlich bemessenen freien Zeit und des leider der freien Zeit nicht ganz gemäßen Geldes beanspruchen…“
Somit ist das wer-wo-was umrissen – wer, das ist Leopold Bloom, wo, das ist Dublin, was, das ist ein Tag im Leben dieses Blooms, das ist auch dieser Roman, das Jahrhundertbuch, in dem Joyce den Gedanken eines Mannes einen Tag lang auf der Spur blieb, ein 24-Stunden-Gedankenstrom-Experiment – mehr als 90 Jahre später wiederum von einem Schweizer in einem weiteren Experiment zu einem einzigen Satz geformt.
Reto Hänny las den Ulysses erstmals mit 15 Jahren, wie er in seinem Nachwort schreibt, tauchte ein in eine Wunderwelt der Sprache, eine Begegnung, die ihn von seiner Legasthenie kurierte.
„Der Ulysees hat mich seither nicht mehr losgelassen, auch die letzten Jahre nicht, in denen ich mich vorwiegend mit Musik beschäftigte, und da bei mir seit je eins aus dem andern wächst, sind mir diese Musikstudien bei der Neuformung der alten Geschichte, die ich erst jetzt schreiben könnte, wie sie mir vorschwebte, zugute gekommen.“

Wie Roland Barthes einst postulierte, wird Literatur aus dem Leben gemacht – und auch, wenn Hänny sich an die Devise hält, „Literatur entstehe aus der Literatur“, liegt darin kein Widerspruch. „Blooms Schatten“ ist das Projekt eines Literaturbesessenen, eines Ulysses-Jüngers, einer, der sich sein Leben lang mit auf dieser Joyce-Odyssee befand, um nun endlich wieder anzukommen – in einem kleinen, schmalen Buch, eigentlich wohl auch ein Lebenswerk, in dem sich die Liebe zur Literatur und Musik verdichtet. Eingeflossen sind in dieses Ein-Satz-Buch noch weitere „Spuren und Ablagerungen der täglichen Lektüre“, es lohnt also, das Buch – das durchaus in einem Durchgang gelesen werden kann – mehrfach aufmerksam aufzunehmen, nach Shakespeare, Flaubert, Claude Simon und anderen zu forschen. Über allem aber ohne Zweifel Joyce.
Gesteckt ist damit jedoch dennoch auch der Rahmen, die Grundlage für Leser: „Blooms Schatten“ kann freilich auch ohne explizite „Ulysses“-Kenntnis als kleine Miniatur genossen werden, als eigenständiges Werkstück mit einer ausgesprochenen musikalischen Sprache, die sich beim Laut- oder auch Vorlesen voll entfaltet. Doch zum eigentlichen Genuss kommt man freilich nur dann, wenn man die berühmte Vorlage kennt – als Reduktion oder Zusammenfassung für jene, die Joyce-Kenntnisse vortäuschen wollen, eignet sich „Blooms Schatten“ nicht. Es ist also letztendlich doch ein Werk für eine kleine Lesergemeinde – umso rühmenswerter, dass der Verlag sich dessen angenommen hat. „Literatur in größtmöglichen Abstand zum Mainstream“ – dieses Zitat von Urs Widmer ist auf dem Umschlag zu lesen. Jawohl!

Buchvorstellung beim Verlag:
http://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/blooms-schatten.html