Otto Dov Kulka: Landschaften der Metropole des Todes. Aharon Appelfeld: Geschichte eines Lebens

Die Bücher von Aharon Appelfeld und Otto Dov Kulka, die als Kinder den Nazi-Terror erlebten, zeigen, wie wichtig es ist, über diese Vergangenheit zu sprechen.

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„Damals baute das Vergessen sich seine tiefen Keller, und die nahmen wir später mit nach Israel. (…)
Dieses Buch ist keine Zusammenfassung, sondern eher der – wenn man so will – verzweifelte Versuch, die verschiedenen Teile meines Lebens wieder mit einer Wurzel zu verbinden, aus der sie erwachsen sind.“

Aharon Appelfeld, „Geschichte eines Lebens“, 1999

„Für mich endete diese Reise als etwas, das eigentlich niemals in der Freiheit ankam. Ich blieb in jener Metropole, ein Gefangener jener Metropole, dieses unabänderlichen großen Gesetzes, das keinen Platz ließ für eine Rettung, für eine Verletzung dieser fürchterlichen „Gerechtigkeit“, der zufolge Auschwitz immer Auschwitz bleiben muss. So blieb mir das unabänderliche Gesetz erhalten, und ich blieb in ihm gefangen (…).“

Otto Dov Kulka, „Landschaften der Metropole des Todes“, 2013


In einer Zeit, in der es möglich ist, den Überdruss an der Erinnerungsarbeit an die dunkelste Zeit der deutschen Geschichte und des jüdischen Volkes öffentlich zu formulieren, in einer Zeit, in der Gedenken mancherorts zur bloßen Form und Formel erstarrt, in dieser Zeit ringen die Opfer dennoch immer noch um ihre Sprache, ihre Sprache, ihre Geschichte, ihre Würde.

Mag mancher sich von der scheinbaren „Monotonie des Grauens“ abwenden, uninteressiert oder überdrüssig, so möchte man jenen die Zeugnisse derer geben, die die Hölle der Vernichtung überlebten: Für das Individuum gibt es keine Monotonie im Grauen, die Grausamkeit führte stets zur individuellen Zer- oder Verstörung. Zu den literarischen Zeugnissen trugen Imre Kertész, Jorge Semprun, Louis Begley, Primo Levi und viele andere bei. Doch Schreiben ist hier mehr als das Wenden an die Außenwelt, als öffentliche Erinnerungsarbeit– es ist vor allem Schreiben, um die Autonomie über das eigene Leben nach der Versklavung wiederzuerlangen.

Eindrucksvoll deutlich machen dies die Bücher zweier Autoren, die bereits als Kinder in die Maschinerie des Todes gerieten: Aharon Appelfeld und Otto Dov Kulka. Beide konnten entrinnen – um einen hohen Preis.

Elternlos, heimatlos, sprachlos.


Otto Dov Kulka

Otto Dov Kulka musste fast 80 Jahre alt werden, bis er die Geschichte einer Kindheit, die in Theresienstadt zu Ende ging, in Sprache festhalten konnte. Seine nun erschienenen „Landschaften der Metropole des Todes – Auschwitz und die Grenzen der Erinnerung und Vorstellungskraft“ sind ein eindrückliches Ringen – das Ringen um die Sprache, die das Unsagbare erfassen kann, das Ringen um die eigene Geschichte. „Auf der Suche nach Geschichte und Gedächtnis“ ist ein Kapitel überschrieben: Zentral in seinem Lebenswerk sei die historische, wissenschaftliche Forschung zu Fragen des Holocaust gewesen, ein Mittel, biografische Elemente auszuklammern, die Distanz zu wahren. Aber es gelingt nicht, die Vergangenheit unter Verschluss zu halten, Auszüge aus den Tagebüchern und festgehaltene Träume verdeutlichen dies.

Die entsetzliche Stille in Auschwitz

Die Erinnerung bricht sich Bahn – und dabei sind nicht prägend Szenen haltloser Gewalt. Ergreifender ist das, was Kulka aus seinem Gedächtnis als die Erfahrungen eines Kindes herausholt: Der blaue Himmel mit Silberstreifen über dem Todeslager, „die große Stummheit, die entsetzliche Stille“, die über Auschwitz während einer Hinrichtung lastet, der Kinderchor, der unweit der Krematorien die „Ode an die Freude“ einstudiert:

„Wenn ich die Welt von Auschwitz und ihre Realität betrachte – als Junge von zehn Jahren habe ich diese scharfe, brutale, zerstörerische Dissonanz und Pein wohl nicht gespürt, die jeder erwachsene Häftling erlebte, der aus seiner Welt der Kultur mit ihren Normen der Grausamkeit und des Todes geworfen wurde. Diese Konfrontation, die jeder Häftling, der am Leben blieb, durchlebte und die fast immer einen Teil des Schocks ausmachte, der ihn oft schon nach kurzer Zeit niederstreckte – sie existierte für mich nicht. Denn das war die erste Welt und die erste Lebensordnung, die ich kennenlernte: die Ordnung der Selektionen und der Tod als einzige Gewissheit, die die Welt regiert.“

Das Gesetz des „Großen Todes“ als kindliche Urerfahrung – dem zu entkommen, „damit zu ringen, mit der hoffnungslosen Aussichtslosigkeit, und sich dennoch verzweifelt zu bemühen, ihm zu entkommen, wie ich es dort versucht habe, war eine prägende Erfahrung.“ Und dem zu entkommen, einen Abschluss zu finden, dafür scheint auch Kulkas Buch geschrieben worden zu sein.

Aharon Appelfeld

Aharon Appelfeld klammert die Lagererfahrung in seiner „Geschichte eines Lebens“ dagegen bewusst aus. Ein Entkommen und ein Wiederfinden der Kindheit davor, die Auseinandersetzung mit dem Geschehenen, das Wiederfinden der Sprache als Heimat – das sind die Themen,  mittels derer die beiden Autoren nebst ihrer vergleichbaren Biographie, sich intensiv berühren. Auch Appelfeld, der sich als Literat jahrzehntelang mit der Shoah auseinandersetzte, braucht lange, um zu seiner eigenen Geschichte zu gelangen.

„Seit Ende des Zweiten Weltkriegs sind bereits über fünfzig Jahre vergangen. Vieles habe ich vergessen, vor allem Orte, Daten und die Namen von Menschen, und dennoch spüre ich diese Zeit mit meinem ganzen Körper. Immer wenn es regnet, wenn es kalt wird oder stürmt, kehre ich ins Ghetto zurück, ins Lager oder in die Wälder, in denen ich so lange Zeit verbracht habe. Die Erinnerung hat im Körper anscheinend lange Wurzeln. Manchmal genügt der Geruch von gammeligen Stroh oder ein Vogelschrei, um mich weit weg und tief in mich hineinzuschleudern.“

Das Jiddische ist die Sprache der Heimat

Appelfeld erzählt in nüchternem, aber deshalb auch umso anrührenderem Ton die Geschichte eines Schriftstellers, der sein Leben lang versucht, eine Sprache zu finden – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Sprache der geliebten Mutter ist die Sprache ihrer Mörder. Das Jiddische ist die Sprache der Großeltern, das in Israel als rückständig abgelehnt wird. Ruthenisch, rumänisch, deutsch, jiddisch – die Vielsprachigkeit seiner Heimat, sie droht verloren zu gehen, während das Hebräische ihm nicht zuwächst.

Der Verlust der Worte, das Ringen um sie – das ist auch das Ringen um die innere und äußere Heimat. Das Buch endet bezeichnenderweise mit der Auflösung des Clubs „Das neue Leben“, der 1950 von Überlebenden aus Galizien und Bukowina in Jerusalem gegründet worden war. In der neuen Zeit hat das alte Leben keinen Platz mehr – ein melancholischer Fingerzeig auf den Niedergang einer ganz eigenen Kultur. Appelfeld stammte aus Czernowitz – jener rumänischen Stadt, in der das geistige Leben, vor allem aber die jüdische Kultur ein blühendes Leben erlangte. Paul Celan, Rose Ausländer, Klara Blum – nur einige der Schriftsteller, die mit dieser Stadt verbunden sind.

Begegnung mit Samuel Agnon

Die Wörter können Vergangenes weder zurückholen noch ungeschehen machen. Appelfeld bleibt skeptisch, was die der Sprache zugeschriebene Heilkraft betrifft. Aber – auch geprägt durch die  Begegnung mit Samuel Agnon (1888-1970) – wird sie nicht nur zum Mittel, um das Stammesgedächtnis zu erhalten, eine für ihn denkbare Definition des Schriftstellers. Sondern auch, um das Schweigen zu überwinden:

„Mein Schreiben begann mit einem starken Hinken. Die Erlebnisse des Krieges lasteten auf mir, und ich wollte sie weiter überwinden. Über meinem bisherigen Leben wollte ich ein neues erbauen. Es brauchte Jahre, bis ich zu mir zurückkehrte, und als es soweit war, hatte ich noch einen langen Weg vor mir. Wie gibt man diesem brennenden Inhalt Form? Wo anfangen? Wie die Teile zusammenfügen? Und mit welchen Worten?“.

Otto Dov Kulka und Aharon Appelfeld: Es ist gut, dass sie ihre Sprache wieder gefunden haben.


Otto Dov Kulka, geb. 1933 in der Tschechoslowakei, kommt mit seiner Mutter zunächst nach Theresienstadt, 1943 in das sogenannte Familienlager nach Auschwitz-Birkenau. Dort trifft er wieder mit seinem Vater Erich zusammen. Die beiden Männer überleben. Seit 1949 lebt Kulka in Israel und widmet sich der Geschichtsforschung. Er ist emeritierter Professor für die Geschichte des jüdischen Volkes an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er wird am 18. November 2013 mit dem Geschwister-Scholl-Preis in München ausgezeichnet.

Otto Dov Kulka
Landschaften der Metropole des Todes
Deutsche Verlagsanstalt DVA, 2013
ISBN 978-3-421-04593-5

Aharon Appelfeld, geb. 1932 bei Czernowitz (heute Ukraine), verliert beide Eltern im Holocaust. Ihm gelingt die Flucht aus einem Lager, er schlägt sich auf Bauernhöfen und im Wald durch. Seit 1946 lebt er in Israel. Er ist emeritierter Professor für hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität in Beerscheba.

Aharon Appelfeld
Geschichte eines Lebens
rororo-Taschenbuch, 1999
ISBN 978-3-499-24247-2

Tadeusz Borowski: Bei uns in Auschwitz

1943 wird der Dichter Borowski verhaftet. Er wird Häftling Nummer 119 198 in Auschwitz. Die Bilder aus dem Lager wird er nie wieder los.

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„Ich schaue sie mir an. Vor mir steht ein Mädchen mit wunderschönem hellen Haar, mit hübschen Brüsten unter einem sommerlichen Batistblüschen, mit einem klugen, reifen Blick. Sie steht da, schaut mir direkt in die Augen und wartet. Was soll ich ihr sagen? Daß dort die Gaskammer ist: der gemeinsame Tod, widerlich und häßlich? Und dort das Lager: der Kopf kahlgeschoren, bei der Hitze in einer wattierten sowjetischen Hose, der widerliche, übelkeiterregende Geruch des schmutzigen, erhitzten Frauenkörpers, der tierische Hunger, die unmenschliche Arbeit und dann doch die gleiche Gaskammer, nur ist der Tod dann noch widerlicher, noch häßlicher, noch schrecklicher. Wer hier einmal hineingeraten ist, den bringt nichts, nicht einmal seine eigene Asche, an der Postenkette vorbei nach draußen, der kehrt nicht mehr in das Leben draußen zurück.“

Tadeusz Borowski, „Bei uns in Auschwitz“, Erzählungen, 1946 – 1951


1943 wird der junge polnische Dichter Borowski, der in Warschau im Untergrund agitierte, verhaftet. Er wird Häftling Nummer 119 198 in Auschwitz, überlebt und durchleidet noch weitere Stationen bis hin zur Befreiung in Dachau. So wenig wie die Tätowierung, so wenig wird er in der Nachkriegszeit jedoch die Bilder aus dem Lager los. In wenigen Jahren entstehen etwa 25 Erzählungen, Versuche, das Grauen in Worte zu fassen, auch Versuche, mit oder trotz der Bilder weiterzuleben. Der Versuch misslingt: 1951 nimmt Borowski, gerade 28 Jahre alt, sich das Leben.

Er konnte nicht mit ihnen leben, mit diesen Bildern,

„die mich hartnäckig verfolgen, daß ich in meiner Erinnerung zum Beispiel noch immer die Schreie dieser Menschen, das Gewimmer der Kinder und das feige, unterwürfige Schweigen der Männer höre, daß ich zuweilen, als wäre es Wirklichkeit, den unerträglichen, sich mit Schweiß vermengenden Modergeruch von Menstruationsblut verspüre oder den nassen, fetten Gestank brennender Menschen (…)”

die er, so früh wie kein anderer und so intensiv wie kein zweiter, dennoch in Worte zu fassen versuchte. Die Erzählungen, die um die Lagererlebnisse, das Leben in Warschau während der Besatzungszeit und um die Rückkehr in eine „steinerne Welt“, in das „wirkliche“ Leben kreisen, sie sind, so Imre Kertész, „klare, selbstquälerisch gnadenlose Erzählungen.“ Sie halten in einem fast schon dokumentarisch-distanzierten Stil fest, was geschah – auch für den ungarischen Literaturnobelpreisträger Kertész waren sie eine wichtige Quelle der Erinnerung, wie er in seiner Rede in Stockholm betonte:

“Doch wie viele Berichte, Aussagen, Erinnerungen von Überlebenden ich auch las, sie stimmten fast sämtlich darin überein, daß alles sehr schnell und unübersichtlich abgelaufen sei: Die Waggontüren wurden aufgerissen, sie vernahmen Gebrüll und Hundegebell, die Frauen und Männer wurden voneinander getrennt, in diesem wilden Durcheinander gelangten sie vor einen Offizier, der sie mit einem raschen Blick in Augenschein nahm und mit ausgestrecktem Arm auf etwas zeigte, und kurz darauf fanden sie sich in Häftlingskleidung wieder.

Ich hatte diese zwanzig Minuten anders in Erinnerung. Nach authentischen Quellen suchend, las ich zum ersten Mal die klaren, selbstquälerisch gnadenlosen Erzählungen Tadeusz Borowskis, darunter „Bitte, die Herrschaften zum Gas!”.”

Das System machte Opfer zu Tätern

Borowski schildert die alltäglichen Grausamkeiten, deren Zeuge er wurde, beinahe nebensächlich und lapidar. Er zeigt auf, wie perfide die Lagerorganisation war, die aus Opfern zugleich auch Täter machte – Menschen, die um einer Brotrinde willen, Freunde verraten, Mütter, die an der Rampe ihre Kinder verleugnen, um dem Gas zu entgehen, Häftlinge, die andere Häftlinge quälen, erniedrigen, töten. Er erzählt von Menschen, die, um nicht zu verhungern, zu Kannibalen werden. Er erzählt von jenen, die in den Gaskammern arbeiten und beinahe stolz darüber berichten, wie sie es einrichten, dass Menschen besser brennen. Er erzählt davon, wie jeder um sein bisschen Leben kämpft, wie Werte aus der alten Welt – Freundschaft, Mitleid, Solidarität – zu einer teuren Münze werden:

„Im Lager herrscht nämlich eine neidvolle Gerechtigkeit: Wenn ein Reicher fällt, sorgen die Freunde dafür, daß er möglichst tief fällt.“

„Es ist ein Gesetz des Lagers, daß die Menschen, die in den Tod gehen, bis zum letzten Moment getäuscht werden. Das ist die einzige zulässige Form von Mitleid.“

Man bleibt fassungslos zurück

Nur ab und an durchbricht Borowski die scheinbar moralische Indifferenz in seinen Erzählungen: Immer wieder dann, wenn die Frage aufbricht, nach dem „Warum?“, wenn die eigene Ohnmacht und die seiner Mitleidenden deutlich hervortritt. Fassungslosigkeit und Hilflosigkeit machen sich Raum:

„Einmal kehrten wir mit den Kommandos ins Lager zurück. Ein Orchester spielte im Takt der marschierenden Trupps. Dann kamen die Leute von den DAW und Dutzende anderer Kommandos und warteten vor dem Tor: zehntausend Mann. In dem Moment kamen Lastwagen vom FKL herangerollt, vollgeladen mit nackten Frauen. Sie streckten die Arme aus und riefen:
„Rettet uns! Wir fahren ins Gas! Rettet uns!“
Und sie fuhren an uns vorbei, an zehntausend schweigenden Männern. Nicht einer rührte sich, nicht eine Hand hob sich.
Denn die Lebenden haben stets recht gegen die Toten.“

In der Erzählung „Wir waren in Auschwitz“ schreibt Borowski an seine Verlobte und spätere Ehefrau über sich selbst reflektierend: “Du hast gesagt, der Tadeusz sei ein fröhlicher Kerl, aber er schreibt nur von bedrückenden Dingen.”

Das Lager, auch wenn man vom Überleben träumt, noch Überlebenswillen hat – “nach dem Krieg, wenn ich ihn überlebe, möchte ich in einem hohen Haus mit Fenstern aufs Feld wohnen” – veränderte jeden fundamental, tötete bei vielen Überlebenden die Fröhlichkeit, die Lebenslust, die Lebensfähigkeit ab. Auch Borowski konnte mit dem Schreiben nicht gegen das Erlebte angehen, auch solche Sätze halfen nichts:

„Und wenn man uns auch nur den Körper auf der Spitalspritsche gelassen hat, so bleiben uns doch unsere Gedanken und Gefühle. Und ich glaube, daß die Würde des Menschen auf seinen Gedanken und Gefühlen beruht.“

„Bei uns in Auschwitz“ wurde von der „Zeit“ in deren Kanon der wichtigsten Bücher der europäischen Nachkriegsliteratur aufgenommen. In ihrem Beitrag dazu schreibt Katarina Bader:

„Borowski zwingt uns, in Abgründe der menschlichen Psyche zu blicken: Mitgefühl ist situationsbedingt, jeder Mensch kann zur Waffe gemacht werden. Nach dem Krieg wurde der Autor von katholischer Kirche und Kommunisten gleichermaßen als Zyniker kritisiert. Aber ein Zyniker war Borowski nicht. Er war einer, der seines Glaubens an die Empathiefähigkeit der Menschen brutal beraubt worden war, einer, der mutig genug war, den Verlust dieses Glaubens zu bekennen, und zugleich einer, der zu idealistisch war, um ohne diesen Glauben leben zu können: 1951 nahm er sich im Alter von 28 Jahren mithilfe von Gas das Leben. Damit ging nicht nur ein wichtiger Zeuge verloren, sondern auch ein literarisches Genie, dessen Werk nicht genug Beachtung erhalten kann.“

Harald Roth: Was hat der Holocaust mit mir zu tun?

Erinnern statt verdrängen: Harald Roth will mit seinem Buch junge Menschen erreichen. Es ist eine gute Grundlage für eine Auseinandersetzung mit der Thematik.

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Bild: (c) Michael Flötotto

November 2015:
Als ich im Januar 2014 erstmals auf dieses Buch aufmerksam machte, sah die Welt noch anders aus. Ja, man wußte zwar, der Schoß war fruchtbar noch. Man wusste, dass dieses Gedankengut weiter schwelte. Inzwischen aber wird ein Tabu nach dem anderen gebrochen. Was stillschweigend vor sich hin gärte, darf nun laut rausgeschrien und gepöbelt werden – und findet immer mehr Zuspruch. Das macht manchmal sprachlos. Aber es darf nicht mutlos machen.

Heime brennen. Täglich gibt es Übergriffe auf Menschen – Flüchtlinge, Helfer, Politiker, Andersdenkende. Es gibt Einschüchterungsversuche überall. Ein Beispiel im Netz: Eine rechtsradikale Seite listet im Netz die Namen “linker, verdächtiger” Personen auf. Das sind üble Zeiten: Menschen werden namentlich der Häme und Hetze freigegeben. Ich fand darauf auch den Namen einer Bekannten, einer Pressefotografin, die sich sozial engagiert. So wird das Gefühl, dass das radikal Schlechte auch in das eigene Leben eingreift, konkret.

“Man wird doch noch einmal sagen dürfen”: Diese Einführung jagt mir Kälteschauer über den Rücken. Denn meist ist es der Prolog zu Äußerungen voller Ressentiments und Vorurteilen. Mit den meisten Menschen kann man Dinge im Dialog noch klären. Ein Bürgermeister erzählte mir von einer Bürgerversammlung in Sachen “Asyl im Dorf” – tagelang hat ihn das Thema zuvor umgetrieben und nervös gemacht. Ihm gelang die “Ent-Ängstigung”. Ein neues Wort in meinem Vokabular.

Aber es sind finstere Zeiten. Ich habe nicht die Hoffnung, dass die ganz Verblendeten, Radikalisierten mit Worten noch erreichbar sind. Und dennoch: Ich wünschte mir, jeder von denen, die jetzt gegen Flüchtlinge und Andersdenkende pöbeln, würden gezwungen, die Holocaust-Literatur zu lesen: Tadeusz Borowski, Imre Kertész, Bruno Apitz, Jorge Semprun, Aharon Appelfeld, Jurek Becker.

Ob es etwas an deren Denken ändern würde? Ich weiß es nicht. Aber ich möchte wenigstens, dass die, die jetzt zündeln, nochmals daran erinnert werden, wie es ist, wenn die ganze Welt brennt.

Januar 2014

„Nach meiner Auffassung stoße ich, wenn ich mich mit der traumatischen Wirkung von Auschwitz auseinandersetze, auf die Grundfragen der Lebensfähigkeit und kreativen Kraft des heutigen Menschen: das heißt, über Auschwitz nachdenkend, denke ich paradoxerweise vielleicht eher über die Zukunft nach als über die Vergangenheit.“

Imre Kertész, Rede zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur, 2002
Vorangestellt dem Buch „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“, Herausgeber Harald Roth

1998:
Friedenspreisrede von Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche. Ein Zitat:
„Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen die Dauerpräsentation unserer Schande wehrt.“

Weiter sträubt es sich in mir, aus dieser Rede zu zitieren – Walser verdreht gar die Formulierung von Hannah Arendt um in eine „Banalität des Guten“, diskreditiert damit sowohl den Ansatz Hannah Arendts als auch die Anstrengungen vieler, einen Teil zur  Erinnerungsarbeit beitragen zu wollen, die eine Wiederholung verhütet. Vor allem aber predigt er einer „politikfreien“ (moralfreien?) Literatur das Wort.

Ein kluger Beitrag zur Walser-Rede findet sich hier: Erinnern oder Vergessen?

Doch der Dichter sprach dem Volk wohl aus der Seele:
„Ferner stimmen 61 Prozent (1998: 63 Prozent) der Auffassung zu, dass 58 Jahre nach Kriegsende nicht mehr so viel über die Judenverfolgung geredet, sondern endlich ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen worden sollte.“
(Forsa-Studie)

2003:
„Jeder fünfte Deutsche ist latent antisemitisch. Dies war das erschreckende Ergebnis einer Forsa-Studie im Auftrag des stern im November 2003. Befragt wurden 1.301 Bundesbürger. Bereits 1998 wurde die Studie mit den gleichen Fragestellungen schon einmal durchgeführt, so dass sich Veränderungen über die Einstellung der Deutschen zu den Juden ablesen lassen. Demnach ist der Anteil der Deutschen mit “latent antisemitischen” Einstellungen von 20 auf 23 Prozent gestiegen. Die Befragten konnten bei ihren Antworten aus einer siebenstufigen Skala auswählen von “trifft überhaupt nicht zu” (Skalenwert 1) bis “trifft voll zu” (Skalenwert 7). Wer Skalenwerte von 5 bis 7 angekreuzt hat, wird als “latent antisemitisch” eingestuft. Auf die bewusst provokant gestellte Frage, ob viele Juden versuchten, aus der Vergangenheit des Nationalsozialismus ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen, antworteten sogar 36 Prozent der Befragten insgesamt mit ja (1998: 41 Prozent), 89 Prozent der Befragten mit antisemitischen Einstellungen waren dieser Meinung. Und 28 Prozent insgesamt glauben, dass Juden auf der Welt zu viel Einfluss haben (1998: 21 Prozent), 81 Prozent der Gruppe mit einer ausgeprägten antisemitischen Haltung stimmten dem zu. 1998 war der Anteil derer, die eine positive Entwicklung bei den Einstellungen gegenüber den Juden zu sehen glaubten, mit 49 Prozent deutlich größer als 2003 (36 Prozent). Heute glauben 30 Prozent, die Einstellung zu den Juden sei negativer geworden (1998: 15 Prozent) Wie aus der Studie weiter hervorgeht, meinen 16 Prozent aller Bundesbürger, die Juden hätten in der Vergangenheit nicht mehr durchgemacht als andere auch.
Quelle: http://www.lpb-bw.de/auschwitz-befreiung.html

2013:
In der ARD läuft – natürlich zu später Stunde – zum 75. Gedenktag anlässlich der „Reichspogromnacht“ ein Beitrag, der die Frage stellt: „Antisemitismus heute – wie judenfeindlich ist Deutschland?“.

Zwei Seiten – Verdrängung und Wiederholung. Die Haltung, >man könne es nicht mehr hören<, und steigender Antisemitismus gehen Hand in Hand.

Es ist also nach wie vor notwendig, vielleicht sogar notwendiger denn je, die Frage zu stellen: „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“. Herausgeber Harald Roth hat dies seinem Sammelband als Titel vorangestellt und 37 Antworten (oder besser: Versuche von Antworten und Annäherungen an diese Frage) zusammengefasst.  Es schreiben Holocaust-Überlebende, Schriftsteller, Politiker, Historiker, Journalisten.

Auch Roth geht in seinem Vorwort auf die Walser-Rede ein. Und stellt sie dorthin, wo sie hingehört, weist sie zurück. „Empirisch wäre zu überprüfen, ob man überhaupt von einer >Dauerpräsentation unserer Schande< sprechen kann. Walser kann man zudem entgegenhalten, dass es in einer freien Gesellschaft eine mediale Selbstbestimmung gibt: Keiner muss sich das Buch kaufen, keiner muss sich die Sendung anschauen.“

Aber: „Die Kritiker, die über ein mediales Überangebot räsonieren, übersehen meist einen simplen Sachverhalt: Für die junge Generation ist es immer eine Erstbegegnung. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über Auschwitz, zum ersten Mal sehen sie einen Film über die >Weiße Rose<, zum ersten Mal besuchen sie eine KZ-Gedenkstätte.“

Am 27. Januar ist, in Erinnerung an die Befreiung von Ausschwitz durch die Rote Armee, der Gedenktag zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust: In der Bundesrepublik erst (!) 1996 eingeführt, seit 2005 ebenfalls von den Vereinten Nationen. Roth weißt zurecht darauf hin, dass die Geste des Erinnerns emotional und moralisch gefüttert sein muss. Allerdings: „Die authentischen Stimmen der Zeitzeugen“ werden in absehbarer Zeit verstummen – sie jedoch „bilden für die Nachgeborenen eine emotionale Brücke zwischen dem Gestern und Heute.“

Und so sind die Stimmen der Zeitzeugen auch mit die eindrucksvollsten Berichte in diesem Buch:

Otto Dov Kulka, der von seiner späten Wiederkehr an den Ort berichtet, den er in seinem eigenen Buch „Landschaften der Metropole des Todes“ nennt.

Inge Deutschkron, die von der „Schuld der Überlebenden“ spricht und der „Pflicht, die mir meine Schuld auferlegte: Ich musste es niederschreiben Die Wahrheit, die lückenlose Wahrheit, präzise und emotionslos, so wie ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. (…) Ich aber war wie besessen von der Idee, dass Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe.“

Max Mannheimer, der die Lager überlebt hat, der sich niederließ im Land der Täter und auch im hohen Alter noch über das Studienzentrum in Dachau den Kontakt zu jungen Menschen sucht, um aufzuklären. Er schreibt: „Trotz der bitteren Erkenntnis, wozu Menschen fähig sind, wollte ich nicht, dass der Holocaust mich davon abhielt, an das Gute zu glauben, an die Hoffnung, an das Leben.“  Er appelliert an die Jugend: „Vergesst nicht, was geschehen ist, und entwickelt daraus Maßstäbe für euer eigenes Handeln.“

Edward Kossoy, der als Anwalt das unwürdige Feilschen um die Wiedergutmachungsleistungen erlebte: „Immer blieb es bei 150 Mark.“

Aber auch die Stimmen aus anderen Generationen (das merkwürdige Kanzlerwort von der „Gnade der späten Geburt“) kommen zu Wort – Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die eindringlich nahebringt, was es heißt, auf der Flucht und im Exil zu sein. Lena Gorelik, deren Fragen darum kreisen, warum das Jüdischsein in Deutschland keine Selbstverständlichkeit ist, sondern immer und stets mit Klärungsbedarf (Erklärungsnot?) verbunden ist. Martina Salzmann erzählt von ihrer „Muttersprache Mameloschn“.

Viele Beiträge kreisen um die Fragen, wie es möglich war, einen Massenmord in Gang zu setzen, wie es möglich war, mitzumachen und wegzusehen, warum die Ausgrenzung und systematische Ermordung einiger Bevölkerungsgruppen in einer scheinbar zivilisierten Gesellschaft stattfinden konnte. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel: „Was Hannah Arendt am Beispiel Adolf Eichmanns deutlich zu machen versuchte, war dies: Gerade dadurch, dass man kein Monster sein musste, um an der Judenverfolgung mitzuwirken, konnte sich, was als Stigmatisierung und Diskriminierung begann, in ein monströses Massenverbrechen steigern. (…) Wenn man sich an den Gedanken gewöhnt, dass sich Massenverbrechen nicht als solche ankündigen, sondern erst durch die Mitwirkung normaler Menschen mit banalen Motiven zu Massenverbrechen werden, versteht man besser, wie sie entfesselt werden und was ihre Vernichtungsdynamik tatsächlich ausmacht.“

Mit diesem Rückgriff auf die „Banalität des Bösen“ beantwortet sich auch die Frage: „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“. Harald Roth will mit seinem Buch junge Menschen erreichen – die Beiträge, die von Augenzeugenberichten über Portraits bis hin zu Fachbeiträgen über einzelne Aspekte (Euthanasie, Wiedergutmachung, Umgang mit Erinnerungsorten, Friedensarbeit) reichen, eignen sich gut als Einstieg und Diskussionsgrundlage. Zu hoffen ist, dass es auch jene erreicht, die die Haltung übernommen haben, „es sei jetzt genug“.

Denn:
„Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen, was sich daraus – für heute – ergibt.“
Hannah Arendt

Zum Herausgeber: Harald Roth, geboren 1950 in Böblingen, unterrichtete bis 2012 an einer Realschule Deutsch, Geschichte und Politische Bildung. Er veröffentlichte Anthologien und didaktische Materialien zur NS-Zeit u.a. eine Auswahl für junge Leser aus Victor Klemperers Tagebuch 1933-45. Roth ist Mitinitiator der KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen und lebt in Herrenberg.

Zum  Buch: Verlagsseite

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