Theodore Dreiser: Sister Carrie

Erst 1981 wurde der erste Roman von Theodore Dreiser in der vollständigen Fassung verlegt – und erst jetzt liegt diese in deutscher Übersetzung vor.

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Bild von Ronile auf Pixabay

„Welche menschlichen Tragödien ein derartiges Umfeld auslöst, wird oft übersehen. Die Schönen und Mächtigen schaffen eine Atmosphäre, die sich ungut auf die Kleinen und Unbedeutenden auswirkt, eine unmittelbar spürbare Atmosphäre. Schlendere an den prachtvollen Villen, den herrlichen Equipagen, den goldglitzernden Geschäften, den Restaurants und Nachtclubs vorbei, atme den Duft der Blumen, Seidenstoffe, Weine ein, trinke vom Lachen, das aus in Luxus gebetteter Kehle klingt, von Blicken, die wie kühne Speere funkeln, spüre das Lächeln, das wie ein glänzendes Schwert schneidet, und betrachte den von Macht und Einfluss beschwingten Gang und du begreifst, aus welchem Stoff die Welt der Reichen und Mächtigen gemacht ist. Der Einwand, dass das nicht das Reich der Verheißung ist, nutzt wenig, solange der Großteil der Menschen davon fasziniert ist und es für das einzig Erstrebenswerte hält.“

Theodore Dreiser, „Sister Carrie“

Auch auf Carrie, die junge naive Schöne vom Land, übt diese Welt des Luxus ihre Faszination aus. Die junge Frau, die versucht, in Chicago Arbeit zu finden und Fuß zu fassen, erstickt förmlich in der ärmlichen Enge der Wohnung ihrer Schwester und des Schwagers, bei denen sie zunächst unterkommt. Sie ist ein Mädel vom Lande, weder berechnend noch raffiniert, aber mit der insgeheimen Sehnsucht nach einem „besseren Leben“. Fast schon etwas herablassend führt der amerikanische Romancier die Hauptfigur seines Debüts ein, an der sich in der Literatur und in damaligen Leserkreisen die Geister schieden – die Andeutung von Sexualität, eine Heldin, die ohne Trauschein mit Männer zusammenlebte, all dies erschreckte das prüde Amerika.

„Caroline oder Sister Carrie, wie die Familie sie beinahe zärtlich nannte, verfügte weder über große Beobachtungsgabe noch über analytischen Verstand. Ihre hervorstechende Eigenschaft war ein ausgeprägter, wenn auch nicht besonders aggressiver Egoismus. Voll jugendlicher Flausen, nichtssagend hübsch wie viele in diesem Alter, mit einer Figur, die durchaus Potential versprach, und einem Blick, der auf eine gewisse Intelligenz schließen ließ, war sie das Inbild der amerikanischen Mittelklasse in der dritten Einwanderergeneration. (…) Eine schlecht gerüstete Glücksritterin, die voll vager, wilder Eroberungsphantasien in die Begegnung mit der geheimnisvollen Stadt zog, um sich diese untertan zu machen, bis sie wie ein reuiger Sünder vor dem eleganten Damenschuh zu Kreuze kriechen würde.“

Einige hundert Seiten später ist es dann so weit: Carrie ist ein gefeierter Theaterstar, die Reichen, Neureichen und die „demi monde“ New Yorks liegen ihr tatsächlich zu Füßen. Und ihr Schöpfer, der Autor, geht etwas freundlicher mit ihr um, schildert, wie die im Grunde gutmütige und lebenskluge Frau trotz ihres „moralisch verwerflichen“ Lebensweges eine suchende Seele bleibt – eine, die sich nach anderen Werten sehnt, die sich auch, im Gegensatz zu den beiden Männern, mit denen sie zusammenlebte, geistig weiterentwickeln will.

Nachwort von Ilija Trojanow

Die Zitate geben schon einen dezenten Hinweis: Ein begnadeter Autor war Theodore Dreiser (1871 – 1945) nicht. Ilija Trojanow spart dies in seinem Nachwort zur ersten deutschen Übersetzung der vollständigen Carrie-Fassung nicht aus:

„Man könnte Theodore Dreiser unterschätzen, denn seine Schwächen sind evidenter als seine Stärken. Gelegentlich sind seine Plots konstruiert, seine Figuren einfach gestrickt. Er liebt die Wiederholung und es wäre unfair, jedes Wort – oder jeden Satz – auf die Goldwaage zu legen: Sein Stil ist stellenweise schwerfällig und weitschweifig.“

Und dennoch wurde und wird Theodore Dreiser, der als einer der wichtigsten Vertreter des amerikanischen Naturalismus gilt, von Schriftstellern verehrt, werden einzelne seiner Bücher in den einschlägigen „Bestenlisten“ geführt („Sister Carrie“ beispielsweise hier in „The hundred best novels“ im „Guardian“). Warum also „Schwester Carrie“ lesen – am besten im Galopp, wie Saul Bellow riet?

Ein Objekt der Begierde

Es ist weniger die Figur der Carrie, die mich an diesem Roman faszinierte, ja, im Grunde blieb sie mir fremd, ein wenig blass. Viel eindrücklicher, beinahe auch herzergreifend, beschreibt Dreiser den Fall ihres zweiten Liebhabers, eines einigermaßen gut situierten Geschäftsmanns aus Chicago. Er, der ein sinnentleertes Leben als Barmanager führt, in einer kalten Ehe lebt, für seine Kinder vor allem als Geldgeber fungiert und keine tiefergehenden menschlichen Beziehungen pflegt, meint, Carrie „besitzen“ zu müssen: Die junge Frau erscheint ihm wie die Verheißung auf ein besseres Leben, sie wird – wie später auch am Theater – zu einem „Objekt“, einem Objekt der Begierde.

Hurstwood begeht einen Diebstahl, entführt Carrie förmlich, versucht, in New York eine neue Existenz aufzubauen – und scheitert kläglich. Dieser langsame Niedergang eines Mannes, der am Ende in die Obdachlosigkeit und zum Suizid führt, die Schilderung seiner Verwahrlosung, der zunehmenden Depression, die mit dem Abstieg eintritt, all dies beschreibt Theodore Dreiser, der sich als Sozialist stets für die Anliegen der Unterprivilegierten einsetzte, mit direkter, ursprünglicher Kraft.

„Vielleicht“, so schreibt Trojanow, „liegt ja Dreisers Kraft gerade in dieser Empathie begründet. Weder seziert er Hurstwood bis aufs Skelett noch durchleuchtet er ihn mit dem Salonblick eines geübten Psychologen, Er fühlt mit und lässt uns mitfühlen, darin Victor Hugo ähnlich, oder hierzulande Heinrich Böll, zwei weitere höchst einflussreiche Autoren, die den hochgestochenen Anforderungen einer elitären Literaturkritik nicht zu genügen schienen. Empathie als literarische Qualität fällt oft unter den reich gedeckten Tisch des Ästhetischen.“

Wer also bereit ist, auch einige etwas zähe Stellen in Carrie zu überstehen, der wird belohnt – durch einen Roman, der schon sehr früh und spürbar kritisch den „amerikanischen Traum“ durchleuchtete.

Informationen zum Buch:

Theodore Dreiser
Sister Carrie
Übersetzt von Susann Urban
Die Andere Bibliothek, 2017
ISBN: 978-3-8477-0392-1

Ilija Trojanow: Der Weltensammler und Nomade auf vier Kontinenten

Ilija Trojanow verfasste zwei Bücher über einen rastlos Reisenden und Suchenden: Sir Richard Francis Burton, Nomade und Weltensammler.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Um seine Bereitschaft zu demonstrieren, öffnet der Lahiya das Tintenfässchen, nimmt die Feder in die Hand, tupft, kratzt zur Probe, beugt sich um einige Zeilen nach vorne und verharrt. Der von dem Ankömmling aufgewirbelte Staub hat sich gesetzt. Aus dem peinigenden Licht heraus, in das der Lahiya nicht mehr blinzeln will, beginnt die zaghafte Stimme zu erzählen. Aus Vermutungen werden Andeutungen, aus Andeutungen werden Schemen, aus Schemen werden Personen, aus Unbekannten werden Menschen mit Namen, Eigenschaften und Gesichtern. Der Lahiya hält die Feder fest zwischen den Fingern, doch er versteht weder Ausgang noch Grund der Lebensgeschichte, die dieser Mann vor ihm ausbreitet. Es ergibt keinen Sinn, diese konfusen Umrisse aufzuschreiben.“

Ilija Trojanow, „Der Weltensammler“


Manchen ist das Entdecken, das Reisen, das Suchen, ja die Rastlosigkeit schon von Kindheit an mitgegeben. Vielleicht hat dies mit einer frühen Entwurzelung, dem Verlust der Heimat zu tun: So scheint es bei dem deutsch-bulgarischen Schriftsteller Ilija Trojanow (Jahrgang 1965) zu sein. Mit der Familie kam Trojanow über Ex-Jugoslawien und Italien 1971 in die Bundesrepublik wegen politischen Asyls. 1972 zogen die Trojanows weiter nach Kenia. Bis 1984 wechselten die Lebensmittelpunkte zwischen Deutschland und Nairobi, dann folgten Studien- und Lebensjahre in Paris, München, Mumbai ab 1999, Kapstadt ab 2003, inzwischen lebt Trojanow wieder – so er nicht auf Reisen ist – in Europa.

Er ist also im besten Sinne ebenfalls ein „Nomade auf vier Kontinenten“: Titel eines der beiden Bücher, die Ilija Trojanow über einen ebenso Suchenden und Reisenden verfasst hat – den englischen Entdecker, Abenteuer und Spion im Dienste ihrer Majestät, Sir Richard Francis Burton (1821-1890). 2006 erschien beim Hanser Verlag Trojanows Roman, mit dem Richard Francis Burton (RFB) den deutschen Lesern bekannter wurde –  „Der Weltensammler“. 2007 kam mit einer wirklich prachtvollen, wunderbaren Ausstattung (der Text ergänzt durch Zugaben von Karten, Fotos, kalligraphischen Schriftproben und kommentierten Bibliographien) in der Anderen Bibliothek „Nomade auf vier Kontinenten“, ein dokumentatorisch-biographisches Projekt, heraus.

Auf den Spuren von Richard Francis Burton

Beide Bücher gibt es inzwischen auch als Taschenbuch. Während der Weltensammler den abenteuerlichen Lebensweg des RFB fiktiv, aber nah an den zahlreichen schriftlichen Quellen aus dieser Zeit, darunter an den vielen von Burton selbst verfassten Werken, nach verfolgt, ist der Nomade ein ganz anderes Buch. Hier vollzieht Trojanow die Reisen Burtons nach – der Wechsel aus Texten des „Vorgängers“ und eigenen Reiseberichten rund anderthalb Jahrhunderte später macht die Lektüre so reizvoll.

Berühmt und umstritten

Großbritannien, Seefahrernation und Kolonial(Besatzungs)macht, hat etliche solcher Typen hervorgebracht: Oftmals Adelige oder zumindest aus begütertem Hause stammende Abenteurer, verlorene Seelen, die sich in der Fremde dann erst recht verloren. Die Insel verlor manchen ihrer Söhne an die Wüste – bekannt durch das Film-Epos wurde als Archetyp für diesen sinnsuchenden Engländer in der Fremde vor allem „Lawrence of Arabia“. T.E. Lawrence (1888-1935) entflammte den Aufstand der Araber gegen das Osmanische Reich – und wurde dabei selbst mehr zum Sheikh denn Gentleman, zum lebenden Mythos. Dabei hätte Sir RFB – legt man den Fokus nur auf das abenteuerliche Leben – ein Film-Epos durchaus ebenso verdient. Als Burton 1890 starb, war er ein ebenso berühmter wie umstrittener Mann. Er sprach 29 Sprachen, hatte Die Geschichten aus 1001 Nacht und das Kamasutra ebenso gelehrt kommentiert wie bis in die sexuellen Details wortgetreu übertragen, hatte den Tanganjikasee als erster Weißer entdeckt und bestritt seinem Reisekameraden Speke immer noch die Entdeckung der Nilquellen.

Dieser schillernden Figur also widmet sich Ilija Trojanow in diesen beiden Büchern: Ein Autor, ein etwas „zwiespältiger“ Held, ein Thema – aber zwei Lektüren, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Beide sind so spannend geschrieben, wie das Leben des Abenteurers selbst es war, beide Bücher entführen durch eine ausgewählt schöne Sprache zum Miterleben dieser fremden Welten. Fiktion und Tatsachen vermischen sich so gekonnt, dass letztendlich der Eindruck bleibt: Der beste Roman ist doch das Leben selbst – insbesondere, wenn man es Leben konnte wie Sir Burton.

Durch Indien und die arabischen Länder

Trojanow ist selbst sieben Jahre lang auf den Spuren Burtons gereist, pilgerte durch Indien, verkleidete sich als Araber auf der Hadsch, fuhr mit dem Schiff den Nil herauf und herunter (wie viele Entdecker seinerzeit suchte auch Burton nach den Quellen des Nils). Nordamerika, der vierte Kontinent, wird jedoch nur kurz gestreift – offensichtlich hatte Burton bei seinem Trip in die Staaten wenig Interessantes gefunden oder vom Reisen genug. Und für den neuzeitlichen Reisenden Trojanow – das kann ich nur spekulieren – sind die USA vielleicht nicht fremd genug. Jedenfalls: Der vierte Kontinent, die heutige Weltmacht, wird nur am Rande erwähnt. Das reicht aber auch mal.

Der Weg nach Mekka ist steinig

„Auch in einer Epoche, in der man in wenigen Stunden ganze Zeitzonen überspringen kann, war der Weg nach Mekka mit einigen Hindernissen gepflastert.“ Als Trojanow dann vor der Kaaba steht (beziehungsweise sie umkreist, wie es sein muss für den Pilger), füllen sich seine Augen mit Tränen. Auf den Spuren des Mannes, der 150 Jahre vor ihm bereits dort stand und als einer der ersten Europäer dieses islamische Heiligtum erblickte, vollzieht Trojanow auch diese Pilgerfahrt bis zum Ende durch. Und als Leser kann man nachfühlen, was dieser Augenblick für beide bedeutet hat.

„Ilija Trojanow hat sich mit seinen Berichten aus Indien und Arabien sowie mit seinem Erfolgsroman “Der Weltensammler” über den großen nonkonformistischen Reisenden im britischen Staatsdienst Richard Francis Burton (1821 bis 1890, unser Foto) in die beste Tradition deutschsprachiger Reiseliteratur eingeschrieben“, so Friedmar Apel in der FAZ. „In der üppigen Ausstattung der Anderen Bibliothek legt er nun noch einmal Berichte seiner Reisen nach Indien, Arabien, Ostafrika, Nordamerika und Triest vor, die er auf den Spuren Burtons unternommen hatte.“

Die Erfahrung anderer Kulturen

Doch geht es nicht „nur“ um gute Reiseliteratur. Beide Bücher sind weitaus mehr als das Nacherleben eines abenteuerlichen Lebensweges. Im Weltensammler greift Trojanow zu dem Kunstgriff, andere über ihr Erleben Burtons erzählen zu lassen –  Zeugen, Zeitgenossen, Beobachter berichten und machen sich ihre ganz eigenen Gedanken über Saheb Burton (Indien), Sheikh Abdullah (Arabien) und den Wazungu (Afrika). Im „Nomaden“ ist es Trojanow selbst, der seine Erfahrungen denen Burtons entgegenhält. So entsteht aus vielen Puzzlestücken das Bild von einem Menschen, der – wie alle Menschen – viele Facetten trägt.  Ein weiteres Leitmotiv ist beiden Büchern die Auseinandersetzung mit „dem Fremden“.

„Als Autor glaubte er (Burton) aber bis in seine letzten Tage auf verlorenem Posten in Triest gleichwohl unerschütterlich daran, dass das Wissen über das Fremde und andere durch teilnehmende Erfahrung, in der Form des Studiums, des Erleidens, Erlebens und Bewirkens erworben wird, und dass es sich lohnt, dieses Wissen ohne Rücksicht auf orthodoxe Meinungen weiterzugeben“, so Friedmar Apel. „Jenseits ideologischer Auseinandersetzungen über Globalisierung und neue imperiale Diskurse zeigt Trojanows tätige Rezeption, wie sehr die Wahrnehmung des Fremden bei allen Korrekturen im Kern noch immer von der Weltsicht des neunzehnten Jahrhunderts bestimmt ist, die Burton vielfältig in Frage stellte. Auch Trojanow vertraut inhaltlich wie in seinem luziden Stil auf die erkenntnisfördernde Erfahrung des mutigen Individuums, von dem jenseits standardisierter Wissensbestände wie des notorischen westlichen Besserwissens noch etwas gelernt werden kann – vor allem eine Wahrnehmung, die Fremdes in seiner Eigenheit belässt und so, durchaus nicht ohne Momente kritischer Distanz, Verständnis und Zuwendung ermöglicht.“