Gerhard Jäger: All die Nacht über uns

„All die Nacht über uns“ ist ein Roman, der einem noch lange nach dem Lesen Tag und Nacht begleitet, der nachwirkt in seiner eindrücklichen Sprache.

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Bild von analogicus auf Pixabay

„Der Soldat lässt die Taschenlampe sinken. Seine Augen lösen sich von den Aufzeichnungen seiner Großmutter, schweifen ab in die Nacht hinaus, ohne irgendetwas zu finden, woran sie sich festhalten könnten. Er fühlt sich ein paar Momente lang, als ob er zwischen zwei Welten hängen würde, ein unbeteiligter Beobachter, auf der einen Seite eine Straße, auf der anderen Seite ein Turm, auf der einen Seite zerfetzte Körper, auf der anderen Seite eine regnerische Nacht, zwei Bilder, die nichts mit ihm und seinem Leben zu tun haben.“

Gerhard Jäger, „All die Nacht über uns“.


Nachtgedanken. Es braucht nicht viel, um einen großartigen Roman zu schreiben. Einen Mann, einen Turm und die Nacht. Und einen Schriftsteller mit seiner einzigartigen Stimme, der die schlaflose Leserin, gefangen im Bann der Geschichte, durch diese Nacht begleitet.

Nachtschicht. Zwölf Stunden sitzt der namenlose Soldat alleine auf seinem Wachturm an der Grenze, ein beinahe Klaustrophobie auslösendes Szenario. Nur er, die Geräusche der Nacht, nur er und seine Gedanken. Zurückgeworfen auf das, was in ihm ist: Bilder der Vergangenheit, vom Glück, das verging, von persönlichen Katastrophen, die sein Leben zerstörten, ihn in die Einsamkeit verbannten, bei Tag und bei Nacht.

Nachtwache. Die Grenze belagert von Menschen auf der Flucht. Der Schießbefehl eindeutig und klar. Der Soldat erinnert sich, wie seine Angehörigen, seine Nachbarn, die Bewohner des Dorfes sich unter dem vermeintlichen Ansturm der „Fremden“ zurückziehen, sich verändern, sich abgrenzen. Wie er selbst in einer Nacht plötzlich die dunkle Seite seines Menschseins entdeckt, bereit dazu, sich einem nächtlichen Mob anzuschließen, an einer nächtlichen Treibjagd gegen die Geflüchteten teilzunehmen. Die Nachtgedanken des Soldaten, sie reichen in unseren eigenen Alltag hinein.

Nachtalb. In der Stille der Nacht kommt die Erinnerung. Die Geschichte der Großmutter, ein schreckliches Märchen mit einer Albtraumgestalt:

„Der Junge schauderte, war froh um die Hand der Großmutter, die seine Hand umklammert hielt. Er starrte in den Garten, wagte nicht, mit einer Frage die Stille zu durchbrechen, so als könnte alles, die kleinste Bewegung, das leiseste Wort, den Drachen wecken, den großen, roten Drachen, der doch jetzt auf dem Weg zu seiner Großmutter war. Sein Blick irrte durch den mondbeschienenen Garten, stets darauf gefasst, das Unmögliche zu sehen, etwas Rotes in dem Silberlicht, einen Drachen, der nicht zu seiner Großmutter gekommen war, sondern jetzt auch zu ihnen, zu ihnen in diesen Garten, in diese Nacht, in ihr Leben.“

Der „rote Drache“, das ist das „Feuer vom Himmel“, das die Großmutter als junges Mädchen auf der Flucht aus dem Osten erlebte. Sie, die Einzige, die Empathie für die Flüchtlinge der Gegenwart aufzubringen vermag, hat ihre Geschichte von Krieg, Tod, Verlust und Flucht aufgeschrieben, festgehalten für den Enkel, der das Heft in jener Nacht in seinem Rucksack findet. Eine dunkle Geschichte, eine Nachtgeschichte, der er sich aussetzen muss.

Nachtschattengewächs. Der Soldat, ein Suchender, Haltloser schon in jungen Jahren, weiß, es gibt sie, das Heilmittel gegen die Schlaflosigkeit, die Nachtgedanken. Es ist die Liebe, für ihn die Liebe zu einer Frau, die das Lachen, die Lebendigkeit, die Lebenslust zu ihm brachte. Und die der Tod beendet. Im Laufe der Nacht enthüllt sich das ganze persönliche Drama des Mannes, der Verlust des Kindes, das Zerbrechen der Frau. Die Nacht vertieft die alten Wunden, reißt sie größer auf.

Nachtgestalten. Am Ende der Nacht treffen Vergangenheit und Gegenwart, Nachttraum und Realität aufeinander, aus den Schatten werden Menschen auf der Flucht, ein Mann mit Kind, das Gesicht wird „von der Morgendämmerung freigelegt“.  Und aus der abstrakten Anweisung des Schießbefehls, um „die Grenzen, unsere Heimat“ zu verteidigen, wird im Licht des Tages, von Angesicht zu Angesicht, eine grausam reale Frage um Leben und Tod. Der letzte Satz des Buches, er lässt meiner Meinung nach das Ende offen, ist interpretierbar: Lässt sich der Soldat, der im Laufe der Nacht sich seelisch und moralisch vor unseren Augen wie ein schwankendes Blatt im Wind erwies, von der Gemengelage aus militärischem Gehorsam und persönlicher Verbitterung hinreißen? Oder hat ihn die mitfühlende Stimme der Großmutter erreicht? Obsiegt die bittere Einsamkeit oder der Rest an Empathie? Ich weiß es nicht nach diesem Satz, ich hoffe nur, dass seine Menschlichkeit siegte, der Schuss ins Leere gerichtet war:

„Der Soldat weiß, dass er diese Augen nie vergessen wird, nie, sein Blick verschwimmt und plötzlich flattern Vögel auf, als hätte sie ein Schuss erschreckt …“

„All die Nacht über uns“, all die Nacht in uns: Ein Roman, der einem noch lange nach dem Lesen Tag und Nacht begleitet, der nachwirkt in seiner eindrücklichen Sprache. Gerhard Jäger, der erst sehr spät mit dem ebenfalls hochgelobten Roman „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“, der 2016 erschien, debütierte, stand mit „All die Nacht über uns“ 2018 auf der Shortlist des Österreichischen Buchpreises. Zu Recht: Der Roman entwickelt sprachlich einen starken Sog, ist poetisch und packend. Ruhig, zurückgenommen, fast schon bedächtig steuert Gerhard Jäger seinen Protagonisten und damit auch seine Leser auf die eigentliche Frage hin: Wie würden wir handeln? Wie weit reicht unsere Menschlichkeit, unsere Empathie?

Ein großartiges Buch, gerade auch angesichts der immer unmenschlicher und auf politischer Ebene abstrakter gestalteten Debatte um Flucht und Migration und dem Umgang mit ihren Opfern.

Die überzeugte Resonanz, auf die sein zweiter Roman stieß, konnte Gerhard Jäger jedoch mehr genießen: Er starb, erst 52 Jahre alt, im November 2018. Eine literarische Stimme, viel zu spät gehört, viel zu früh verstummt.


Informationen zum Buch:

Gerhard Jäger
All die Nacht über uns
Picus Verlag
22,00 Euro
Gebunden, 240 Seiten