Harald Roth: Was hat der Holocaust mit mir zu tun?

Erinnern statt verdrängen: Harald Roth will mit seinem Buch junge Menschen erreichen. Es ist eine gute Grundlage für eine Auseinandersetzung mit der Thematik.

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Bild: (c) Michael Flötotto

November 2015:
Als ich im Januar 2014 erstmals auf dieses Buch aufmerksam machte, sah die Welt noch anders aus. Ja, man wußte zwar, der Schoß war fruchtbar noch. Man wusste, dass dieses Gedankengut weiter schwelte. Inzwischen aber wird ein Tabu nach dem anderen gebrochen. Was stillschweigend vor sich hin gärte, darf nun laut rausgeschrien und gepöbelt werden – und findet immer mehr Zuspruch. Das macht manchmal sprachlos. Aber es darf nicht mutlos machen.

Heime brennen. Täglich gibt es Übergriffe auf Menschen – Flüchtlinge, Helfer, Politiker, Andersdenkende. Es gibt Einschüchterungsversuche überall. Ein Beispiel im Netz: Eine rechtsradikale Seite listet im Netz die Namen „linker, verdächtiger“ Personen auf. Das sind üble Zeiten: Menschen werden namentlich der Häme und Hetze freigegeben. Ich fand darauf auch den Namen einer Bekannten, einer Pressefotografin, die sich sozial engagiert. So wird das Gefühl, dass das radikal Schlechte auch in das eigene Leben eingreift, konkret.

„Man wird doch noch einmal sagen dürfen“: Diese Einführung jagt mir Kälteschauer über den Rücken. Denn meist ist es der Prolog zu Äußerungen voller Ressentiments und Vorurteilen. Mit den meisten Menschen kann man Dinge im Dialog noch klären. Ein Bürgermeister erzählte mir von einer Bürgerversammlung in Sachen „Asyl im Dorf“ – tagelang hat ihn das Thema zuvor umgetrieben und nervös gemacht. Ihm gelang die „Ent-Ängstigung“. Ein neues Wort in meinem Vokabular.

Aber es sind finstere Zeiten. Ich habe nicht die Hoffnung, dass die ganz Verblendeten, Radikalisierten mit Worten noch erreichbar sind. Und dennoch: Ich wünschte mir, jeder von denen, die jetzt gegen Flüchtlinge und Andersdenkende pöbeln, würden gezwungen, die Holocaust-Literatur zu lesen: Tadeusz Borowski, Imre Kertész, Bruno Apitz, Jorge Semprun, Aharon Appelfeld, Jurek Becker.

Ob es etwas an deren Denken ändern würde? Ich weiß es nicht. Aber ich möchte wenigstens, dass die, die jetzt zündeln, nochmals daran erinnert werden, wie es ist, wenn die ganze Welt brennt.

Januar 2014

„Nach meiner Auffassung stoße ich, wenn ich mich mit der traumatischen Wirkung von Auschwitz auseinandersetze, auf die Grundfragen der Lebensfähigkeit und kreativen Kraft des heutigen Menschen: das heißt, über Auschwitz nachdenkend, denke ich paradoxerweise vielleicht eher über die Zukunft nach als über die Vergangenheit.“

Imre Kertész, Rede zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur, 2002
Vorangestellt dem Buch „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“, Herausgeber Harald Roth

1998:
Friedenspreisrede von Martin Walser in der Frankfurter Paulskirche. Ein Zitat:
„Kein ernstzunehmender Mensch leugnet Auschwitz; kein noch zurechnungsfähiger Mensch deutelt an der Grauenhaftigkeit von Auschwitz herum; wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen die Dauerpräsentation unserer Schande wehrt.“

Weiter sträubt es sich in mir, aus dieser Rede zu zitieren – Walser verdreht gar die Formulierung von Hannah Arendt um in eine „Banalität des Guten“, diskreditiert damit sowohl den Ansatz Hannah Arendts als auch die Anstrengungen vieler, einen Teil zur  Erinnerungsarbeit beitragen zu wollen, die eine Wiederholung verhütet. Vor allem aber predigt er einer „politikfreien“ (moralfreien?) Literatur das Wort.

Ein kluger Beitrag zur Walser-Rede findet sich hier: Erinnern oder Vergessen?

Doch der Dichter sprach dem Volk wohl aus der Seele:
„Ferner stimmen 61 Prozent (1998: 63 Prozent) der Auffassung zu, dass 58 Jahre nach Kriegsende nicht mehr so viel über die Judenverfolgung geredet, sondern endlich ein Schlussstrich unter die Vergangenheit gezogen worden sollte.“
(Forsa-Studie)

2003:
„Jeder fünfte Deutsche ist latent antisemitisch. Dies war das erschreckende Ergebnis einer Forsa-Studie im Auftrag des stern im November 2003. Befragt wurden 1.301 Bundesbürger. Bereits 1998 wurde die Studie mit den gleichen Fragestellungen schon einmal durchgeführt, so dass sich Veränderungen über die Einstellung der Deutschen zu den Juden ablesen lassen. Demnach ist der Anteil der Deutschen mit „latent antisemitischen“ Einstellungen von 20 auf 23 Prozent gestiegen. Die Befragten konnten bei ihren Antworten aus einer siebenstufigen Skala auswählen von „trifft überhaupt nicht zu“ (Skalenwert 1) bis „trifft voll zu“ (Skalenwert 7). Wer Skalenwerte von 5 bis 7 angekreuzt hat, wird als „latent antisemitisch“ eingestuft. Auf die bewusst provokant gestellte Frage, ob viele Juden versuchten, aus der Vergangenheit des Nationalsozialismus ihren Vorteil zu ziehen und die Deutschen dafür zahlen zu lassen, antworteten sogar 36 Prozent der Befragten insgesamt mit ja (1998: 41 Prozent), 89 Prozent der Befragten mit antisemitischen Einstellungen waren dieser Meinung. Und 28 Prozent insgesamt glauben, dass Juden auf der Welt zu viel Einfluss haben (1998: 21 Prozent), 81 Prozent der Gruppe mit einer ausgeprägten antisemitischen Haltung stimmten dem zu. 1998 war der Anteil derer, die eine positive Entwicklung bei den Einstellungen gegenüber den Juden zu sehen glaubten, mit 49 Prozent deutlich größer als 2003 (36 Prozent). Heute glauben 30 Prozent, die Einstellung zu den Juden sei negativer geworden (1998: 15 Prozent) Wie aus der Studie weiter hervorgeht, meinen 16 Prozent aller Bundesbürger, die Juden hätten in der Vergangenheit nicht mehr durchgemacht als andere auch.
Quelle: http://www.lpb-bw.de/auschwitz-befreiung.html

2013:
In der ARD läuft – natürlich zu später Stunde – zum 75. Gedenktag anlässlich der „Reichspogromnacht“ ein Beitrag, der die Frage stellt: „Antisemitismus heute – wie judenfeindlich ist Deutschland?“.

Zwei Seiten – Verdrängung und Wiederholung. Die Haltung, >man könne es nicht mehr hören<, und steigender Antisemitismus gehen Hand in Hand.

Es ist also nach wie vor notwendig, vielleicht sogar notwendiger denn je, die Frage zu stellen: „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“. Herausgeber Harald Roth hat dies seinem Sammelband als Titel vorangestellt und 37 Antworten (oder besser: Versuche von Antworten und Annäherungen an diese Frage) zusammengefasst.  Es schreiben Holocaust-Überlebende, Schriftsteller, Politiker, Historiker, Journalisten.

Auch Roth geht in seinem Vorwort auf die Walser-Rede ein. Und stellt sie dorthin, wo sie hingehört, weist sie zurück. „Empirisch wäre zu überprüfen, ob man überhaupt von einer >Dauerpräsentation unserer Schande< sprechen kann. Walser kann man zudem entgegenhalten, dass es in einer freien Gesellschaft eine mediale Selbstbestimmung gibt: Keiner muss sich das Buch kaufen, keiner muss sich die Sendung anschauen.“

Aber: „Die Kritiker, die über ein mediales Überangebot räsonieren, übersehen meist einen simplen Sachverhalt: Für die junge Generation ist es immer eine Erstbegegnung. Zum ersten Mal erfahren sie etwas über Auschwitz, zum ersten Mal sehen sie einen Film über die >Weiße Rose<, zum ersten Mal besuchen sie eine KZ-Gedenkstätte.“

Am 27. Januar ist, in Erinnerung an die Befreiung von Ausschwitz durch die Rote Armee, der Gedenktag zur Erinnerung an die Opfer des Holocaust: In der Bundesrepublik erst (!) 1996 eingeführt, seit 2005 ebenfalls von den Vereinten Nationen. Roth weißt zurecht darauf hin, dass die Geste des Erinnerns emotional und moralisch gefüttert sein muss. Allerdings: „Die authentischen Stimmen der Zeitzeugen“ werden in absehbarer Zeit verstummen – sie jedoch „bilden für die Nachgeborenen eine emotionale Brücke zwischen dem Gestern und Heute.“

Und so sind die Stimmen der Zeitzeugen auch mit die eindrucksvollsten Berichte in diesem Buch:

Otto Dov Kulka, der von seiner späten Wiederkehr an den Ort berichtet, den er in seinem eigenen Buch „Landschaften der Metropole des Todes“ nennt.

Inge Deutschkron, die von der „Schuld der Überlebenden“ spricht und der „Pflicht, die mir meine Schuld auferlegte: Ich musste es niederschreiben Die Wahrheit, die lückenlose Wahrheit, präzise und emotionslos, so wie ich es mit eigenen Augen gesehen hatte. (…) Ich aber war wie besessen von der Idee, dass Vergleichbares nie wieder geschehen dürfe.“

Max Mannheimer, der die Lager überlebt hat, der sich niederließ im Land der Täter und auch im hohen Alter noch über das Studienzentrum in Dachau den Kontakt zu jungen Menschen sucht, um aufzuklären. Er schreibt: „Trotz der bitteren Erkenntnis, wozu Menschen fähig sind, wollte ich nicht, dass der Holocaust mich davon abhielt, an das Gute zu glauben, an die Hoffnung, an das Leben.“  Er appelliert an die Jugend: „Vergesst nicht, was geschehen ist, und entwickelt daraus Maßstäbe für euer eigenes Handeln.“

Edward Kossoy, der als Anwalt das unwürdige Feilschen um die Wiedergutmachungsleistungen erlebte: „Immer blieb es bei 150 Mark.“

Aber auch die Stimmen aus anderen Generationen (das merkwürdige Kanzlerwort von der „Gnade der späten Geburt“) kommen zu Wort – Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller, die eindringlich nahebringt, was es heißt, auf der Flucht und im Exil zu sein. Lena Gorelik, deren Fragen darum kreisen, warum das Jüdischsein in Deutschland keine Selbstverständlichkeit ist, sondern immer und stets mit Klärungsbedarf (Erklärungsnot?) verbunden ist. Martina Salzmann erzählt von ihrer „Muttersprache Mameloschn“.

Viele Beiträge kreisen um die Fragen, wie es möglich war, einen Massenmord in Gang zu setzen, wie es möglich war, mitzumachen und wegzusehen, warum die Ausgrenzung und systematische Ermordung einiger Bevölkerungsgruppen in einer scheinbar zivilisierten Gesellschaft stattfinden konnte. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Seibel: „Was Hannah Arendt am Beispiel Adolf Eichmanns deutlich zu machen versuchte, war dies: Gerade dadurch, dass man kein Monster sein musste, um an der Judenverfolgung mitzuwirken, konnte sich, was als Stigmatisierung und Diskriminierung begann, in ein monströses Massenverbrechen steigern. (…) Wenn man sich an den Gedanken gewöhnt, dass sich Massenverbrechen nicht als solche ankündigen, sondern erst durch die Mitwirkung normaler Menschen mit banalen Motiven zu Massenverbrechen werden, versteht man besser, wie sie entfesselt werden und was ihre Vernichtungsdynamik tatsächlich ausmacht.“

Mit diesem Rückgriff auf die „Banalität des Bösen“ beantwortet sich auch die Frage: „Was hat der Holocaust mit mir zu tun?“. Harald Roth will mit seinem Buch junge Menschen erreichen – die Beiträge, die von Augenzeugenberichten über Portraits bis hin zu Fachbeiträgen über einzelne Aspekte (Euthanasie, Wiedergutmachung, Umgang mit Erinnerungsorten, Friedensarbeit) reichen, eignen sich gut als Einstieg und Diskussionsgrundlage. Zu hoffen ist, dass es auch jene erreicht, die die Haltung übernommen haben, „es sei jetzt genug“.

Denn:
„Das Höchste, was man erreichen kann, ist zu wissen und auszuhalten, dass es so und nicht anders gewesen ist, und dann zu sehen, was sich daraus – für heute – ergibt.“
Hannah Arendt


Zum Herausgeber:

Harald Roth, geboren 1950 in Böblingen, unterrichtete bis 2012 an einer Realschule Deutsch, Geschichte und Politische Bildung. Er veröffentlichte Anthologien und didaktische Materialien zur NS-Zeit u.a. eine Auswahl für junge Leser aus Victor Klemperers Tagebuch 1933-45. Roth ist Mitinitiator der KZ-Gedenkstätte Hailfingen/Tailfingen und lebt in Herrenberg.

Zum  Buch:

Harald Roth
Was hat der Holocaust mit mir zu tun?
Pantheon Verlag, 2014
ISBN: 978-3-641-12148-8

Ruth Klüger: unterwegs verloren

Mit ihren autobiographischen Werken wurde Ruth Klüger einem breiten Publikum bekannt. Flucht- und Lagererfahrung prägen sie ein Leben lang.

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Bild von bernswaelz auf Pixabay

„Die Überlebenden der KZ, mit Ausnahme von einigen, die man zu Märtyrern gestempelt hat, sind allen frei gebliebenen Menschen ein Dorn im Auge. Gelitten zu haben ist eine Schande, außer wenn man daran und dafür gestorben ist.

Ruth Klüger, „unterwegs verloren“


Ruth Klüger ist 61 Jahre alt, als 1992 im Literarischen Quartett ihre Erinnerungen „weiterleben“ vorgestellt werden. Mit einem Mal wird die amerikanische Literaturprofessorin und Germanistin auch einem breiten Publikum im deutschsprachigen Raum bekannt. „weiterleben“ erzählt von ihrer Kindheit in Wien, dem Überlebenskampf in den Konzentrationslagern, der Flucht mit der Mutter in die USA.

 „unterwegs verloren“ setzt Jahre später ein – ebenso ein Buch über das Weiterleben. Mit einer ruhigen Sprache, manchmal bis an die Grenze zur Emotionslosigkeit, erzählt Ruth Klüger von einer doppelten Diskriminierung: Als Jüdin und als Frau im amerikanischen Literaturbetrieb. Sie erzählt von weiteren Verlusten, der Entfremdung von den Söhnen, von der Familie, von Freunden. Bis hin zum Bruch mit Martin Walser, den sie als junge Frau noch vor der Emigration in die USA kennenlernete, in ihm einen engen, lebenslangen Freund sah, dem sie jedoch die Darstellung eines jüdischen Kritikers in dem umstrittenen Werk `Tod eines Kritikers´ nicht nachsehen kann.

Wie sehr die traumatischen Erfahrungen ein Leben lang prägen, auch das verdeutlicht diese Autobiographie. Und über alledem überwiegt dennoch eine anhaltende Liebe zur deutschen Sprache, zur deutschen Literatur.

Und bei allem, was Ruth Klüger „unterwegs verloren“ hat, bleibt ein Gewinn am Ende: Das Wissen, dass sie dort, wo Diskriminierung geschah – sei es ihr oder anderen gegenüber – den Mut und das Rückgrat hatte, dagegen einzutreten.


Informationen zum Buch:

Ruth Klüger
unterwegs verloren
dtv Verlag, 2010
ISBN: 978-3-423-13913-7

Joachim Sartorius: Niemals eine Atempause

Das „Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert“ ist ein lyrischer Atlas der Auseinandersetzungen, aber auch der Ideale und Utopien unserer Zeit.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Und die Geschichte ist auch nicht
der zerstörerische Bulldozer wie behauptet wird.
Sie hinterlässt Unterführungen, Grüfte, Löcher
und Verstecke. Manche überleben.

Aus: „Die Geschichte, II.“ von Eugenio Montale

Das Gedicht des italienischen Nobelpreisträgers für Literatur ist in voller Länge und in der deutschen Übertragung durch Michael von Killisch-Horn dieser Anthologie vorangestellt:

„Niemals eine Atempause“, Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert, herausgegeben von Joachim Sartorius


60 Jahre Grundgesetz, 50 Jahre Vertrag von Rom, 25 Jahre Mauerfall – die Jubiläen der vergangenen Jahre waren stets begleitet vom Hinweis, dass Europa die langanhaltendste friedliche Periode seit Menschengedenken erlebt. Wie fragil das Ganze jedoch ist, das zeigen die Ereignisse an der Peripherie, der Bosnienkrieg, die Auseinandersetzungen in der Ukraine. Und außerhalb des europäischen Kontinents bleibt Frieden immer noch eine ferne Utopie. Es gibt in diesen Tagen auf der Welt so viele Kriege und regionale Konflikte wie lange nicht. Wer jedoch beispielsweise die Auseinandersetzungen in Afrika rein als innerkontinentales Konfliktthema verortet, sollte sich daran erinnern: Viele dieser Auseinandersetzungen, die uns hier wenig (be-)kümmern, sind (auch) späte Früchte europäischer Kolonial- und Eroberungspolitik, Früchte des Zorns, ein Erbe vor allem des 20. Jahrhunderts.

Auf der Insel der europäisch Friedlich-Seligen schadet der Blick zurück freilich niemals: Die Hoffnung, dass aus dem Vergangenen gelernt wird, stirbt zuletzt. Und da ist das 20. Jahrhundert eines, das zweifelsohne und über die beiden Katastrophen der zwei Weltkriege hinaus, Konflikt- und Verarbeitungsstoff ohne Ende bietet. Zumal die Jubelfeiern übertünchen, dass längst nicht alles schwarz-rot-gold ist, was da glänzt. Aus der Geschichte lernen – was wurde gelernt?

Friedensnobelpreisträger Gorbatschow äußerte sich dieser Tage enttäuscht, spricht von einem Zusammenbruch des Vertrauens, einem Neubeginn des Kalten Krieges. Welche Verantwortung übernimmt dabei das Land der Dichter&Denker in der Welt – das Land, das trotz Aufklärung und Sturm&Drang im 20. Jahrhundert zweimal zurück in die tiefste Barbarei steuerte?

Kunst als Tochter der Freiheit?

Und welche Rolle übernehmen die Dichter&Denker? Ist die Kunst, frei nach Schiller, eine Tochter der Freiheit? Sind Kunst und Politik verwandt, verbunden oder getrennte Wesen? Kann man dann, wo die Worte unzureichend erscheinen, Gedichte machen? Oder muss man gerade darum ringen, das Unfassbare in Worte zu fassen?

Hierzu Schiller, „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“:

„Aber sollte ich von der Freiheit, die mir von Ihnen verstattet wird, nicht vielleicht einen besseren Gebrauch machen können, als Ihre Aufmerksamkeit auf dem Schauplatz der schönen Kunst zu beschäftigen? Ist es nicht wenigstens außer der Zeit, sich nach einem Gesetzbuch für die ästhetische Welt umzusehen, da die Angelegenheiten der moralischen ein so viel näheres Interesse darbieten und der philosophische Untersuchungsgeist durch die Zeitumstände so nachdrücklich aufgefordert wird, sich mit vollkommensten aller Kunstwerke, mit dem Bau einer wahren politischen Freiheit zu beschäftigen?

Ich möchte nicht gern in einem andern Jahrhundert leben und für ein andres gearbeitet haben. Man ist ebenso gut Zeitbürger, als man Staatsbürger ist; und wenn es unschicklich, ja unerlaubt gefunden wird, sich von den Sitten und Gewohnheiten des Zirkels, in dem man lebt, auszuschließen, warum sollte es weniger Pflicht sein, in der Wahl seines Wirkens dem Bedürfnis und dem Geschmack des Jahrhunderts eine Stimme einzuräumen?“

Was also haben die Dichter zum gewalttätigen zurückliegenden Jahrhundert zu sagen?

Krieg ohne Atempause

Eine lange Vorrede zu einem besonderen Buch: In „Niemals eine Atempause“ stellte Joachim Sartorius als Herausgeber ein „Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert“ zusammen. Dieser lyrische Atlas, in dem sich Gewalttätigkeiten, Katastrophen und Morde ebenso wie der Wille zum Aufbruch, zur Veränderung, der Wunsch nach anderen Verhältnissen niederschlagen, lässt die Stimmen von mehr als 100 Poetinnen und Poeten erklingen: Von Wort- und Schriftführern ihrer Ideologie, Mitläufern und willfährigen Hofdichtern bis hin zur „Schreckenskammer“ der dichtenden Diktatoren und Despoten einerseits, von Widerständlern, Mahnern, Moralisten und Kritikern der Macht andererseits. Erfreulicherweise ist das Buch nicht eurozentrisch, greift ebenso Konflikte auf, die das 20. Jahrhundert auch in anderen Teilen der Welt prägten: Die lateinamerikanische Befreiungsbewegung, der Kampf gegen die Apartheid, die Kriege in Asien, Vietnam und chinesische Kulturrevolution bis hin zum Nahen Osten. Großen Raum nehmen aber selbstverständlich die beiden Weltkriege, Holocaust und Todeslager, Kalter Krieg und Wiedervereinigung (siehe dazu der vorhergehende Beitrag) ein. Jedem Kapitel ist eine Einführung zu Politik und Geschichte vorangestellt, zudem werden etliche Gedichte, vor allem die derjenigen Dichter mit hermetischerer Ausdrucksweise, kurz erläutert und interpretiert.

Das Buch ist chronologisch angeordnet und beginnt mit dem Genozid an den Armeniern (1909-1918) und endet nach einem Kapitel über „Die grüne Utopie“, die das Ende des 20. Jahrhunderts prägte, mit einem Epilog durch Bob Dylan: „Masters of War“. Die „Schreckenskammer“ mit „Gedichten der Despoten“, darunter Stalin, Mussolini, Mao Tse-Tung, ist dem Ganzen abseits als Anhang beigestellt.

Geschichtsschreibung ist nie objektiv

Soviel zum Formalen. Zum Inhaltlichen: Geschichtsschreibung ist niemals objektiv. Lyrik sowieso überhaupt nie. Und jede Auswahl wird von einem Subjekt getroffen. So ist dieses Handbuch der politischen Poesie eben auch eng mit der Person des Herausgebers verknüpft, ein Abbild seiner Entscheidungen. Sartorius („Jurist, Diplomat, Theaterintendant, Lyriker und Übersetzer“ in der bei „Wikipedia“ aufgeführten Reihenfolge), scheint dafür die richtige Wahl: Einer, der sich in der Lyrik auskennt wie in seinem eigenen Zuhause, gebildet, kosmopolitisch geprägt, ein Humanist, ja, durchaus ein Poesie-Diplomat, dem man ausgewogene Entscheidung zutraut, auf dessen Auswahl man sich also auch bei diesem Handbuch stützen mag. In seinem Vorwort umreißt Sartorius kurz das Verhältnis von „Poesie und Macht“:

„Es scheint im Rückblick, gerade dieses Jahrhundert war so beschaffen, dass die Intellektuellen, die Künstler, die Schriftsteller Partei ergreifen mussten. Und die Dichter? Sie bewegen sich in einem besonderen Spannungsfeld. Per definitionem ist der Dichter ein Einsamer, auf dem Rückzug, in Betrachtung versunken. Wenn er die Probleme der Epoche nicht aufgreift, scheint sein Werk ohne Nutzen, wie disqualifiziert.“

Sartorius Anliegen war es, unter dem Meer politischer Gedichte – und letztendlich wäre ja jedes Gedicht als Ausdruck einer menschlichen Befindlichkeit per se politisch – jene beiseite zu lassen, die „dem Zeitgeist verpflichtet, ohne Dauer“ sind. Er begrenzt die Auswahl auf jene, die „politisch“ in dem Sinne sind, dass sie ein politisches (geschichtliches) Thema aufgreifen beziehungsweise eine politische Absicht verfolgen. Schwieriger schon die Entscheidung, was ein „gutes politisches“ Gedicht nun sei:

„Fast immer überschneiden sich Ethik und Ästhetik in einem politischen Gedicht.“

Sartorius weiter:

„Im 20. Jahrhundert wurde aber „angesichts des Schreckens, der sich darin abspielte, bald deutlich“, so Matthias Göritz, „dass diese Haltung so nicht mehr einzunehmen ist. Wörter sind nicht unschuldig, gerade die Dichter wissen das.“ So wurde eine Richtung immer stärker, die sich sowohl vom hermetischen Text wie vom lyrischen Subjektivismus abgrenzte und versuchte, Fakten sprechen zu lassen, also zu erzählen und zu argumentieren, ohne den dem Gedicht spezifischen Empfindungsgeist und seine Erregungskunst hinter sich zu lassen. In diesem Rahmen gibt es Gedichte mit guter Botschaft und von zweifelhafter Machart, und es gibt gute Gedichte mit zweifelhafter Botschaft. Das Urteil, ob es sich um ein Kunstwerk handelt, muss ästhetisch gefällt werden und ist letztlich ganz subjektiv. Ich habe versucht, Gedichte aufzunehmen, die sich politische Themen vornehmen, keine einfache Moral haben und imstande sind, Komplexität des Nachdenkens und der Gefühle zu erzeugen.“

Unter dieser Maßgabe ist diese subjektive Auswahl für das Handbuch – Herausgeber und Verlag weisen darauf hin, dass es die erste Gedicht-Anthologie zur politischen Poesie des 20. Jahrhunderts sei – durchaus gelungen. Doch weit mehr als das Anliegen, sich mittels eines Handbuches einen ersten Überblick zu verschaffen, zählt dieser Gedanke:

„Leiden duldet kein Vergessen“

Denn letztlich rufen diese Gedichte, die auch von persönlichem Leid, Verlusten, aber auch Versagen und Ängsten angesichts menschlicher Gewalt erzählen, vor allem in Erinnerung, wie dünn das zivilisatorische Eis bleibt, auf dem wir in scheinbar friedlichen Zeiten dahingleiten. Dass es nach barbarischen Zeiten auch weiterhin Gedichte geben muss, um der Barbarei, wenn möglich, vorzubeugen. Sartorius endet sein Vorwort damit:

„Dieses Handbuch soll zeigen: Es gibt keine Aneignung der Geschichte durch Gedichte. Aber Gedichte kommentieren die Zeitläufte, sie zeigen Entsetzen, sie klagen an oder sie rufen auf, sie können „eine Schule für Güte, Sühne, Reue und Vergebung sein“ (Zbigniew Herbert in seiner Dankesrede für den Preis der Europäischen Poesie, 1997). Vor allem zeigen sie das Vertrauen ihrer Schöpfer, dass die Worte langfristig auf das Bewusstsein wirken und am Ende Wirklichkeit stärker modellieren als Geschichtsbücher oder politische Entscheidungen.“

Nicht aufgenommen in das Handbuch hat der Herausgeber übrigens eines seiner eigenen Gedichte, dessen Titel lautet: „Im Vernichtungsbuch“. Es beginnt mit diesen Zeilen:

Daß die Bäcker ihre weißen Hände ausziehen.
Daß die Metzger vor den Tieren sterben.
Daß die Dichter einen nutzlosen Mund haben,
den sie rund machen und breit ziehen.
Das steht im Vernichtungsbuch geschrieben.


Bibliographische Angaben:

Joachim Sartorius (Hrsg.)
Niemals eine Atempause
Handbuch der politischen Poesie im 20. Jahrhundert
Kiepenheuer & Witsch, 2014
ISBN: 978-3-462-04691-5

Robert Domes: Nebel im August

Der 14jährige Ernst Lossa fiel der Euthanasie zum Opfer. Robert Domes verarbeitete das Schicksal des Jungen zu einem gelungenen Jugendbuch.

Ernst Lossa wurde von den Nationalsozialisten allein wegen seiner Herkunft als Jenischer in eine Nervenheilanstalt eingewiesen.
Bild von Peter H auf Pixabay

„Er schließt die Augen und versucht, sein aufgeregtes Herz zu beruhigen. Die Stimme seiner Mutter klingt aus einer fernen Zeit zu ihm her. Nach Sonnenuntergang beginnt die Stunde der Engel, hat sie immer gesagt. Er stellt sich vor, ein Engel geht durch die Station, vorbei an den Krüppeln und Idioten, an den Gelähmten und Blinden, an den Schreienden, die man ans Bett gebunden hat, und den Stillen, die nur vor sich hin sabbern. Der Engel geht vorbei und alle werden ganz friedlich. Am Ende kommt er auch zu Ernst, berührt ihn mit seinem Flügel an der Schulter und zwinkert ihm zu.

Robert Domes, „Nebel im August. Die Lebensgeschichte von Ernst Lossa.“

Im Januar 1934 trat das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft. Damit gaben sich die Nationalsozialisten den scheinbar gesetzlichen Rahmen für alle Maßnahmen im Rahmen der Euthanasie-Aktionen. Letztendlich verstand sich darunter nichts anderes als der Massenmord an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen, die massenhafte Zwangsterilisation und die Beseitigung von Menschen, die nicht in das System passten. Menschen, deren Dasein als „lebensunwertes Leben“ bezeichnet wurde – ein Begriff, der bereits 1920 geprägt worden war. Die kursierenden und zum Teil absurden pseudowissenschaftlichen Thesen zur Volksgesundheit, der Begriff von einem gesunden „Volkskörper“ – der gedankliche Boden war bereits schon bereitet, damit Ärzte und Pfleger ohne moralische Bedenken von Heilern zu Mördern werden konnten. Im Nationalsozialismus wurde, was bereits gedacht war, getan und auf eine perverse Spitze getrieben.

Ein schwieriges Thema für ein Jugendbuch – doch der Autor Robert Domes hat daraus ein sehr berührendes Buch gemacht, in dem er behutsam und mit viel Einfühlungsvermögen den Schicksalsweg eines Jugendlichen nachzeichnet, der der Euthanasie zum Opfer fiel. Es ist ein Buch, das jungen Leuten die Augen öffnen kann – darüber, was es heißt, andere auszugrenzen, Vorurteile zu hegen, aber auch darüber, dass jeder Zivilcourage zeigen kann: So wie es Ernst Lossa tat.

Mit dem Marion-Samuel-Preis ausgezeichnet

Domes zeigt in seinem berührenden Jugendbuch „Nebel im August“ an einem wahren Schicksal die Geschehnisse in einer Heil- und Pflegeanstalt auf. Nicht ohne Grund wurde das Buch ausgezeichnet mit dem „Marion-Samuel-Preis“ der Stiftung Erinnern, mit dem „Bronzenen Lufti“, dem Literaturpreis der Jugendbuch-Jury der Mecklenburgischen Literaturgesellschaft und mit der Verdienstmedaille des Jenischen Bundes.

Ernst Lossa stammt aus einer Landfahrerfamilie, sie sind Jenische, ziehen mit ihren Waren durch ganz Süddeutschland. Im Nationalsozialismus sieht sich die Familie immer häufiger Übergriffen und Verfolgung ausgesetzt. Als die Mutter stirbt und der Vater in ein Konzentrationslager deportiert wird, kommt Ernst in ein Waisenhaus. Als „Zigeuner“ abgestempelt, flüchtet sich der Junge in der Strenge der Institution in eine Traumwelt, lernt zu lügen und zu stehlen. 1940 wird der Zehnjährige in ein NS-Erziehungsheim überstellt, auch dort fällt er auf, statt Hilfe und Verständnis erhält das Kind die Diagnose „angeborene Stehlsucht“. Damit ist der Weg in den Untergang vorgezeichnet: Als diagnostizierter „asozialer Psychopath“ gilt er als nicht heilbar, ist „lebensunwert“.

Zitat von der Internetseite des Autors:

„Am 20. April 1942 – ausgerechnet am „Führergeburtstag“ – wird Ernst in eine Heilanstalt eingewiesen. Der Junge, der weder behindert noch geisteskrank ist, findet unter den Verrückten, Gelähmten und Anfallskranken das, was er lange vermisst hat: Eine Familie. Ernst erlebt Geborgenheit, Freundschaft und verliebt sich über beide Ohren in eine Mitpatientin. Doch bald entdeckt Ernst, dass hinter der Fassade der Heilanstalt unheimliche Dinge geschehen. Patienten werden fortgebracht, ausgehungert oder sterben aus mysteriösen Gründen. Ernst versucht, das unmenschliche System zu unterwandern, schlitzohrig, mutig und mit großem Herzen. Und weiterhin träumt er von der Freiheit und dem Leben im Planwagen. Dabei ahnt der 14-Jährige nicht, wie sehr er selbst in Lebensgefahr schwebt. Im Sommer 1944, als den Deutschen dämmert, dass der Krieg verloren ist, bekommen die Todespfleger die Weisung: Ernst Lossa muss beseitigt werden.“

Robert Domes hat mit „Nebel im August“ Ernst Lossa, dessen Kindergesicht uns von der Titelseite her so ernst anblickt, dem Vergessen entrissen. Dafür hat der Autor akribisch in den Unterlagen und Akten der Allgäuer Anstalt, in der Ernst Lossa die letzte Zeit seines Lebens verbrachte, recherchiert. Die anrührende Lebensgeschichte dieses Jungen, dessen einziger „Fehler“ (in den Augen der Mörder) es war, unangepasst zu sein, eignet sich gut als Lektüre mit Jugendlichen (empfohlen ab 14 Jahren) in diesem Alter. Zum Buch gibt es Unterrichtsmaterial für Lehrer und Schüler.

Wer in das Thema „Euthanasie im Nationalsozialismus“ einsteigen möchte, findet dazu einen lesenswerten Aufsatz von Gerrit Hohendorf, Psychiater und Medizinhistoriker, in dem eben erst erschienen Taschenbuch, „Was hat der Holocaust mit mir zu tun? 37 Antworten“. Der Sammelband, für den Überlebende des Holocaust, Politiker, Schriftsteller und Fachleute verschiedener Gebiete Essays geschrieben haben, wendet sich an Jugendliche und Erwachsene, will bewusst einladen, das Thema und die im Buch aufgeworfenen Fragen zum Nationalsozialismus zu diskutieren.

Zitat aus dem Aufsatz von Gerrit Hohendorf:

„Doch die beunruhigende Frage bleibt: Warum haben Ärzte, die doch heilen sollen, beim Töten von kranken Menschen und Menschen mit Behinderungen mitgemacht? Weder Gesetz noch Befehl oder Terror haben sie dazu gezwungen. Viele waren überzeugt, an einem großen „Erlösungswerk“ mitzuwirken. (…) Die grausame Realität der Krankenmorde im Nationalsozialismus lässt uns ratlos zurück. Doch bleiben zwei Gedanken, die zur Vorsicht mahnen. Wenn Ärzte und Bürokraten des Gesundheitswesens meinen, über den Wert menschlichen Lebens entscheiden zu können, so maßen sie sich ein Urteil an, das unheilvolle Konsequenzen nach sich ziehen kann. (…) Und: Es gibt kein gutes ärztliches Töten – auch dann nicht, wenn man meint, aus Mitleid oder aus dem Gedanken der Erlösung heraus zu handeln.“

Die Internetseite von Robert Domes

Robert Domes
Nebel im August
Die Lebensgeschichte des Ernst Lossa
cbj Jugendbuch, 2008
Taschenbuch, Broschur, 352 Seiten, 12,5 x 18,3 cm
ISBN: 978-3-570-30475-4
Link zur Verlagsseite „Nebel im August“