Ulrich Becher: New Yorker Novellen

In Österreich gilt der Berliner, der in Basel starb, als Klassiker, in Deutschland behielt er viel zu lange den Status des “Geheimtipps”. Ulrich Becher, ein Autor mit einem besonderen Blick auf die Kapriolen der Zeit.

Bild von David Mark auf Pixabay

„Doch er war frei von jedwedem Gruppenhaß. Indes ein Deutscher. Und akkurat dieser auf der Altleutebank hockende Deutsche, fürchtete der Doktor dumpf in schlafarmen Nächten, werde vor das Tribunal gezogen werden wegen der namenlosen Untaten der deutschen Schreckensherrscher …
Ja, er hatte heimliche Sorgen, der erfolgreiche Seelenwart der Park Avenue. Nicht war er ohne Liebe. Doch konnte sie nicht als Triebkraft seines Daseins gelten. Diese Triebkraft, die ihn hatte vom Schlachtfeld des Ersten Kriegs in die Schweiz fliehen, zum Pazifisten werden, aus dem Dritten Reich fliehen, zum Hitlergegner werden lassen, dieser Motor, der ihm nimmer erlahmte, trag einen knapperen Namen:
Angst.“

Ulrich Becher, „New Yorker Novellen“

Alle paar Jahre wird sein Magnum Opus, der 1969 erschienene Roman „Murmeljagd“, wiederentdeckt und gefeiert (verdientermaßen), als sei diese literarische tour de force durch die Schweizer Berge ein aufsehenerregendes Debüt. Dabei wäre es mehr als überfällig, Ulrich Becher (1910 – 1990) gleichrangig mit anderen Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur zu nennen und den Blick auf sein gesamtes Werk zu öffnen.

Wie Markus Bauer 2012 in „Der Tagesspiegel“ erwähnte, war der Berliner zu Lebzeiten in Österreich bereits ein Klassiker:

„Nach der Flucht von dem havarierenden Kontinent Europa nach Brasilien hatte der Exilant in den USA mit dem Piscator-Schauspieler Peter Preses das Stück „Der Bockerer“ über die Wurzeln des Faschismus in Österreich geschrieben, ein unübertroffenes, vielleicht nur noch vom „Herrn Karl“ seines engen Freundes Helmut Qualtinger sekundiertes Spiegelbild des Verhaltens der Alpenländler im Faschismus.“

Der Schöffling Verlag hat nun dankeswerterweise nicht nur die „Murmeljagd“ wieder aufgelegt, sondern auch die drei „New Yorker Novellen“, die zwanzig Jahre zuvor erschienen waren. Becher, den die Flucht vor den Nationalsozialisten durch etliche europäische Länder, schließlich nach Brasilien und 1944 an den Big Apple getrieben hatte, konnte diese Impressionen der New Yorker Zeit erst in deutscher Sprache veröffentlichen.

Schwarzhumoriger Humor erinnert an Mentor George Grosz

Drei Novellen, die das Fremdsein und Fremdbleiben, das Unbehauste der Vertriebenen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise beschreiben. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Diesen schwarzhumorigen Unterton, die beinahe groteske Verzerrung mancher Situationen, die nicht von ungefähr an George Grosz erinnern: Ulrich Becher, eine Doppelbegabung als Schreibender und Malender, war Schüler und Freund des großen Künstlers.

Doch trotz der Lust am Sprachwitz und ungeheurer Kapriolen – allein, wie aus dem schmächtigen Flüchtling Hans Heinz Nachtigall der wohlsituierte und erfolgreiche Psychoanalytiker John Henry Nightingale wird, zeugt von der Spielfreude des Autors – sind die Erzählungen auch geprägt von einem düsteren Setting: Der in den USA aufgestiegene Nightingale, der es nicht wagt, seinen betagten Vater in Deutschland, den er allein zurückließ, aufzusuchen, der arme jüdische Exilant, der in der Erzählung „Der schwarze Tod“ von seinen Erinnerungen an das Konzentrationslager Dachau eingeholt wird, der amerikanische Soldat, traumatisiert von den Kriegserlebnissen, der in „Die Frau und der Tod“ durch das nächtliche New York streift, einer ebenso betörenden und verstörten Frau auf der Spur.

Im Deutschland der Nachkriegszeit ein umstrittener Autor

Als diese New Yorker Novellen im Nachkriegsdeutschland erschienen, waren sie nicht unumstritten: Ausgerechnet dem Exilautor, der mit seinem Witz eben niemanden verschonte, soll „antisemitische Propaganda“ unterstellt worden sein, andere hielten ihn für einen unverbesserlichen Kommunisten. Es ist zu hoffen, dass Ulrich Becher, so wie es Moritz Wagner, Herausgeber der „New Yorker Novellen“ es in seinem Nachwort andeutet, auch eine Lebenseinstellung hatte, die er in seinen Werken immer wieder durchblicken lässt: Das Komische als Überlebenshilfe, kein „Lamento-Boy“ sein.

Schon alleine wegen dieser literarischen Herangehensweise, dieser satirisch-grotesken Betrachtung der Welt, aber auch wegen seiner Fabulierlust, den fast schon barocken Sprachspielereien, lohnt es sich, Ulrich Becher immer wieder und wieder zu lesen.

Informationen zum Buch:

Ulrich Becher
New Yorker Novellen
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Moritz Wagner
Schöffling Verlag, 2020
408 Seiten, Gebunden,  Lesebändchen, € 24,00 €[A] 24,70
Auch als E-Book erhältlich
ISBN: 978-3-89561-453-8

Kurt Tucholsky: Herr Wendriner und das Lottchen

Von 1922 bis 1930 ließ Kurt Tucholskys in der „Weltbühne“ mit Herrn Wendriner einen Spießer par excellence zu Wort kommen: Volkes Stimme, satirisch überspitzt.

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Dieser Herr sieht irgendwie aus wie ein Wendriner. Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Man kommt zu gar nichts mehr. Ich denk jetzt so oft an den Tod. Quatsch. Doch, ich denk oft an den Tod. Das kommt von der Verdauung. Nein, das kommt nicht von der Verdauung. Man wird älter. Wie lange sind wir jetzt schon verheiratet…Nu, für sie ist ja ausgesorgt, so weit bin ich schon, Gottseidank. Wenn ich tot bin, wern sie erst erkennen, was sie an mir gehabt haben. Man wird viel zu wenig anerkannt, im Leben. Hinterher ist zu spät. Hinterher wern sie weinen. Damals, beim alten Leppschitzer warn ja enorm viele Leute. So viel kommen bei mir mindestens auch…“

Kurt Tucholsky, “Herr Wendriner kann nicht einschlafen”, 30. März 1926, “Die Weltbühne”

Der Herr, der hier nicht einschlafen kann, ist der Herr Wendriner. Ein Geschäftsmann und Familienvater im besten Alter, der Spießbürger par excellence. Und wenn Herr Wendriner uff Jedanken kommt, dann wird es ein wenig schräg. So führt Schlaflosigkeit zu solchenen Lebens- resp. Todesweisheiten.

„Schrecklich, wenn man nicht einschlafen kann. Wenn man nicht einschlafen kann, ist man ganz allein. Ich bin nicht gern allein. Ich muss Leute um mich haben, Bewegung, Familie, Arbeit…Wenn ich mit mir allein bin, dann ist da keiner. Und dann bin ich ganz allein. Hinten juckts mich. Ich kenn das. Jetzt wer ich gleich einschlafen. Schlafen…Na, denn gut`n –„

Zwischen 1922 und 1930 erscheinen die Wendriner-Texte aus der Feder Kurt Tucholskys in der „Weltbühne“. Gesellschaftskritische Kurzgeschichten, Monologe, in denen einer vor sich hinschwadroniert und dabei unbewusst in seine kleine Seele blicken lässt. Nach außen hin braver Familienvater, versucht sich auch der Wendriner mal an einer Geliebten und guckt selbst im klassischen Theater den Schauspielerinnen lieber auf die Beine als ins Textbuch. Zumeist schwadroniert er übers Geschäft und – wenig fachkundig – über Politik: Politik ist letztlich das, was das Geschäft nicht stört. So sind ihm die Sozis ein Gräuel, die Bewegungen am rechten Rand notiert er in einer Mischung zwischen Furcht und Bewunderung – Bewunderung für deren „Ordnungssinn“.

Abscheu vor den Spießern

Der Wendriner kam schon bei Erscheinen nicht durchwegs gut an. Zu spitz, zu satirisch und Tucholskys Wort – „Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel“ – bewies sich einmal mehr. Aber auch nach Tucholskys Tod und nach dem Ende des Nationalsozialismus war lange Zeit eine unvoreingenommene Rezeption der Geschichten schwierig: Denn Herrn Wendriner ist ein deutscher Jude. Tucholsky wurde der Vorwurf des Antisemitismus gemacht. Dabei, so arbeitete auch sein Biograf Rolf Hosfeld heraus (nur zu empfehlen: „Tucholsky – Ein deutsches Leben“, Rolf Hosfeld), war es vor allem die Abscheu vor dem Spießertum, die den Schriftsteller und Satiriker antrieb. Aus einem Interview der Jüdischen Allgemeinen mit Rolf Hosfeld:

Zu denen, die versagt hatten, zählte für Tucholsky auch die deutsche Judenheit. Kurz vor seinem Tod 1935 hat er einen Brief an Arnold Zweig geschrieben. Da liest man: »Der Jude ist feige. Er duckt sich.« Tucholsky hatte offenbar einen ziemlichen Abscheu vor den deutschen Juden.

Nicht unbedingt vor den deutschen Juden. Aber vor einem bestimmten Typus des jüdischen Spießers, ja. Herr Wendriner zum Beispiel, ja. Tucholsky hatte eine enorme Abneigung gegen den damals verbreiteten Typus des deutschnationalen Juden. Etwa, wenn Herr Wendriner den SA-Mann vor seinem Geschäft hofiert. Bei Wendriner spielen aber noch andere Aspekte hinein. In seinem ungeordneten Weltbild hat er auch sympathische Züge. Die Wendriner-Geschichten sollten übrigens als Buch erscheinen. Tucholsky unterhielt sich mit Edith Jacobson darüber, wer sie illustrieren könnte. George Grosz wollte Tucholsky nicht, der war ihm zu karikaturenhaft; andere vorgeschlagene Zeichner waren ihm zu antisemitisch.

Das Interview in voller Länge, in dem es um Tucholskys Haltung zum Judentum geht, findet sich hier: http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/12535.

Hellsichtige Skizzen

Bereits Edith Jacobsohn, die Frau des Weltbühnen-Herausgebers Siegfried Jacobsohn, plante in ihrem Verlag eine Wendriner-Ausgabe. Zustande kam sie schließlich nicht, selbst ihr waren manche Texte zu scharf. 1927 erschienen dann die bis dahin in der Weltbühne gedruckten Texte bei Rowohlt, in dem Sammelband „Mit 5 PS“. Nicht darunter ist selbstverständlich der interessanteste der Wendriner-Texte, weil erst 1930 entstanden: „Herr Wendriner steht unter Diktatur“. Geradezu hellsichtig skizziert Tucholsky das Heraufziehen einer neuen Gesellschaftsordnung mit Herrenmenschen und lässt seinen literarischen Wendehals bei einem Kinobesuch den Salto zur Unterordnung machen – auch Wendriner ist einer jener, die zu jener Zeit noch glauben, als „Schutzbürger“ und mit der rechten Gesinnung geschähe ihnen nichts.

Der Verlag vbb – verlag für berlin-brandenburg hat nun in einem schmalen Bändchen die Wendriner-Texte neu herausgegeben. Ergänzt durch eine weibliche Stimme: Mit den „Lottchen“-Geschichten lässt Tucholsky eine für diese Zeit typische freche Frauenstimme, emanzipiert, witzig und schlagfertig, zu Wort kommen. “Lottchen” war im eigentlichen Leben Lisa Matthias, eine alleinerziehende Journalistin, die Tucholsky 1927 kennenlernte. Ihr widmete er „Schloß Gripsholm“.

Abgerundet wird das Buch durch den Briefwechsel Tucholskys mit Edith Jacobsohn zu ihrem geplanten Buchprojekt, der in dem Bändchen erstmals veröffentlicht wird. Allein schon diese briefschriftliche Auseinandersetzung zwischen den Beiden ist von hohem Amüsemang und macht das Buch zu einer kleinen Petitesse:

„Lieber dicker Tucho, was is mit Wendrinern, nuuh?“, fleht die Verlegerin namens Franziska Damenbart, und der Tucho antwortet dem „geliebten Weib“, der Wendriner werde schon mit besonderer Sorgfalt verarztet werden.

„Herr Wendriner und das Lottchen“, Kurt Tucholsky, vbb, 2014, 96 Seiten, Halbleinen, Format: 12,5 x 20,5 cm, ISBN: 978-3-945256-01-5.

Noch mehr zu Kurt Tucholsky auf diesem Blog:

Joachim Ringelnatz – Malerstunde

Joachim Ringelnatz war nicht nur ein begnadeter Dichter, Kabarettist und Wortjongleur. Sondern auch ein äußerst talentierter Maler.

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“Dachgarten der Irrsinnigen”, 1925, Öl auf Leinwand, Clemens-Sels-Museum Neuss.

Malerstunde

Mich juckt`s,
Doch ich kann mich nicht jucken,
Weil meine Finger voller Farbe sind.

Dabei habe ich den Schlucken.
Wenn ich den Pinsel – – Hupp schluckt`s.

In meinem Fliegenspind
Summt eine Fliege grollend,
Eingesperrt, hinauswollend.
Keine Fliege lebt von Worcester-Sauce.

Ach, Hunger tut weh.
Aber er schont die Hose
Und macht sie locker.

Ha! Jetzt habe ich eine Idee!
Weh! Aber keinen Lichten Ocker.

Joachim Ringelnatz in: „Gedichte dreier Jahre“

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“Kindheit”, 1928, Öl auf Leinwand, Privatbesitz

Reich (an Geld) war Ringelnatz in seinem Leben nie. Aber an Talenten. Und in der Zeit, als er sich mehr und mehr dem Malen zuwenden konnte, ging es ihm nicht ganz so schlecht wie dem armen Pinsel in der „Malerstunde“ – die Farbe Ocker konnte er sich leisten und er machte auch Gebrauch von ihr. Davon zeugt derzeit eine Ausstellung im erst im Dezember 2015 eröffneten „Zentrum für Verfolgte Künste“ im Kunstmuseum Solingen. Mit „Es war einmal ein Bumerang – Der Maler Joachim Ringelnatz kehrt zurück“ ist dort die erste Sonderausstellung zu sehen und zugleich die erste umfassende Werkschau zum malenden Ringelnatz. Da schlägt mein Herz im Muschelkalk gleich doppelt hoch.

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“Flugzeugblick”, 1928, Öl auf Leinwand, Privatbesitz

Die Gemälde des Malers doch noch einmal ein anderes Bild vom Menschen und Künstler Ringelnatz selbst, wie auch Jürgen Kaumkötter – neben Ringelnatz-Biograph Hilmar Klute – Kurator der Ausstellung im Vorwort zum Katalog hervorhebt:

„Am Ende seines Lebens überstrahlt der Maler Ringelnatz den Dichter. Als er im November 1934 stirbt, waren die Weichen des Vergessens seiner Bilder jedoch schon gestellt und wir können nicht nur den Nationalsozialisten und der »Aktion Entartete Kunst« alleine die Schuld in die Schuhe schieben, die natürlich die Auslöser des Verschwindens des Malergenies waren. Es ist auch die Nachkriegsgesellschaft und die jahrzehntelang ignorante Kulturlandschaft, die den ernsten Maler Ringelnatz nicht zur Kenntnis nehmen will. Zu anders, zu eigenständig, zu weit entfernt ist das, was er malt, von seiner beliebten Dichtung. Er liefert als Maler dem Publikum nicht den anarchistischen Entertainer. Wir wollen den lustigen, den tollkühnen Ringelnatz mit seinen feinfühligen Versen, wir wollen uns aufgehoben fühlen, nicht mit unseren Urängsten konfrontiert werden. Nun kehrt der Maler mit der ersten umfassenden Werkschau zurück.“

Als Ringelnatz-Leserin wußte ich schon, dass das tanzende Seepferdchen immer wieder auch den Zeichenstift zückte – seine „Kinderbücher“ sind ein Beweis für das begabte Multitalent, hier und dort waren in einzelnen Ausgaben auch Skizzen und Illustrationen aus seiner Hand eingestreut. Neben George Grosz sollte vor allem die enge, lebenslange Freundin Renée Sintenis (die auch die berühmte Ringelnatz-Büste anfertigte) ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass zum Talent die Technik hinzukam – sie unterstützt ihn in seiner Doppelbegabung, 1923 folgt die erste Ausstellung in Berlin, weitere Ausstellungen mit großem Erfolg schließen sich dem an, später gibt er im Telefonbuch als Berufsbezeichnung „Kunstmaler“ an.

Dennoch: Lange blieb Ringelnatz nur als der verspielte, humorvolle Wortschmied im kollektiven Gedächtnis (auch seine melancholische literarische Seite wurde kaum oder ungern wahrgenommen), der Maler Ringelnatz geriet ganz in Vergessenheit. Dabei umfasst das Werkverzeichnis – erst im Jahre 2000 wurde dank eines Forschungsprojektes an der Universität Göttingen ein erstes erstellt, unter www.ringelnatz.online wird dies seither fortgeschrieben) – knapp 250 Bilder! Viele davon jedoch verschollen, verloren, ver… – doch ein Ringelnatz verschwindet nicht, der Bumerang kehrt zurück… So sind in Solingen auch Reproduktionen verschollener Werke zu sehen.

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“Auf dem Kohlendampfer”, 1926, Öl auf Leinwand, Privatbesitz

Wo die Werke des Malers geblieben sind, darüber schreibt Jürgen Kaumkötter im Katalog:
„Die Blaupause des Vergessens und Übersehens ist klar und deutlich. Die Zeit als aktiver Künstler war zu kurz. Die damaligen Verkäufe gingen fast ausschließlich in Privatsammlungen. Heute ist die Hälfte des bekannten Werkes verschollen oder zerstört und aus den Privatsammlungen gelangte nur wenig in öffentliche Institutionen. Wenn jemand einen Ringelnatz hatte, gab man ihn nicht wieder her. Die Nationalsozialisten und ihr zerstörerisches Echo in beiden Deutschlands besorgten den Rest. Zwei Jahre lebt Ringelnatz noch unter der nationalsozialistischen Diktatur, die sich auch an seinem schmalen bildkünstlerischen Werk verging, dann starb Ringelnatz und das Werk des Malers geriet in Vergessenheit. Das Bild »11 Uhr nachts« wurde aus der Berliner Nationalgalerie entfernt, aufgekauft vom Kunsthändler Wolfgang Gurlitt. Die letzte Spur hinterlässt das Bild auf der Rückseite eines Fotos aus den 1930er-Jahren: jetzt sei es in Düsseldorf. Es ist bis heute verschwunden.“

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“Elefant im Sturm”, 1927, Öl auf Leinwand, Privatbesitz

Was macht den Maler Ringelnatz nun so besonders? Im leider bereits vergriffenen Ausstellungskatalog kann man sich ein ungefähres Bild davon machen – Gemälde wie „Flucht“, „Nächtliches Gelage“ oder auch „Herbstgang“ sind von einer eigenartigen düstereren Wucht, trotz der teils naiv-verspielten Figurenzeichnung. Namhafte Kunstexperten und Schriftsteller – darunter Alain Claude Sulzer, Peter Wawerzinek und Stefan Koldehoff – würdigen in ihren Katalogtexten den malenden Ringelnatz, Jürgen Kaumkötter schreibt sehr treffend über ihn:

„Ringelnatz ist seine eigene Insel. Die Bilder reflektieren nicht die äußere Welt. Die damals üblichen Motive streift er noch nicht einmal. Auch wenn der Mensch klein wird vor der Urgewalt der Natur und der Ohnmacht gegenüber seinem Unbewussten, sind Ringelnatz’ Bilder kein Manifest des Misstrauens. Sie zeigen, dass der Mensch mit seinem Weltschmerz alleine bleibt.“

Für alle Abbildungen liegt das Copyright beim Zentrum für verfolgte Künste.

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“Treibende Schollen”, 1928, Öl auf Leinwand, Privatbesitz

Hugo Ball und Tristan Tzara: Das DADA-Manifest

DADA ging um die Welt: Das “Narrenspiel aus dem Nichts” hat den Weg bereitet für Surrealismus, abstrakte Dichtung, Pop-Art und viele andere Richtungen mehr.

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100 Jahre Dada in Zürich. Bild: Birgit Böllinger

“Ich verkünde die Opposition aller kosmischen Eigenschaften gegen die Gonorrhoe dieser faulenden Sonne, die aus den Fabriken des philosophischen Gedankens kommt, den erbitterten Kampf mit allen Mitteln des dadaistischen Ekels.

Jedes Erzeugnis des Ekels, das Negation der Familie zu werden vermag, ist Dada; Protest mit den Fäusten, seines ganzen Wesens in Zerstörungshandlung: Dada; Kenntnis aller Mittel, die bisher das schamhafte Geschlecht des bequemen Kompromisses und der Höflichkeit verwarf: Dada; Vernichtung der Logik, Tanz der Ohnmächtigen der Schöpfung: Dada; jeder Hierarchie und sozialen Formel von unseren Dienern eingesetzt: Dada; jeder Gegenstand, alle Gegenstände, die Gefühle und Dunkelheiten; die Erscheinungen und der genaue Stoß paralleler Linien sind Kampfesmittel: Dada; Vernichtung des Gedächtnisses: Dada; Vernichtung der Archäologie: Dada; Vernichtung der Propheten: Dada; Vernichtung der Zukunft: Dada; Absoluter indiskutabler Glauben an jeden Gott, den spontane Unmittelbarkeit erzeugte: Dada; eleganter, vorurteilsloser Sprung von einer Harmonie in die andere Sphäre; Flugbahn eines Wortes, das wie ein Diskurs, tönender Schrei, geschleudert ist; alle Individualitäten in ihrem Augenblickswahn achten: im ernsten, furchtsamen, schüchternen, glühenden, kraftvollen, entschiedenen, begeisterten Wahn; seine Kirche von allen unnützen, schweren Requisiten abschälen, wie eine Lichtfontäne den ungefälligen oder verliebten Gedanken ausspeien, oder ihn liebkosen – mit der lebhaften Genugtuung, daß das einerlei ist – mit derselben Intensität in der Zelle seiner Seele, insektenrein für wohlgeborenes Blut und von Erzengelkörpern übergoldet. Freiheit: Dada, Dada, Dada, aufheulen der verkrampften Farben, Verschlingung der Gegensätze und aller Widersprüche, der Grotesken und der Inkonsequenzen: Das Leben.”

Tristan Tzara aus dem “Manifest Dada”, 1918

Auch Richard Huelsenbeck lieferte eine Legende zur Begriffsfindung: „Als Ball und ich den Dadaismus entdeckten, waren wir uns unserer großen Mission bewusst. Ball hatte gerade einen Teller Nudelsuppe gegessen, und ich hatte gerade den letzten besoffenen Studenten aus dem Cabaret Voltaire geworfen, da sagte Ball: „Da … Da siehst du, wo das hinführt.“

Wo führte das hin? Zu einer kreativen, anarchistischen, wilden Explosion, zu einer künstlerischen Hitzewelle, die ausgerechnet in der Schweiz (!) einige wenige Jahre (im Herbst 1920 verließen die letzten Mitglieder dieser Künstlergemeinschaft die Eidgenossenschaft) ihren Raum fand.

Schon zu den Hochzeiten des Dadaismus ist die Fülle an beteiligten, inspirierten Künstlerinnen und Künstlern kaum zu fassen: Hugo Ball, Emmy Hennings, Hans Arp, Sophie Taeuber-Arp, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck, Walter Serner, Giorgio de Chirico, Marcel Janco, Hans Richter, Christian Schad, Mary Wigman, Katja Wulff, Hans Heusser, Max Ernst, und viele weitere mehr, die sich vom Dadaismus anstecken ließen.

1916 veröffentlichten Ball und Huelsenbeck ein erstes Manifest

Es soll der Presse und dem Publikum durch unser Auftreten gezeigt werden, daß es Persönlichkeiten gibt, die die Sache der “jüngsten” Literatur auch im Kriege weiterführen. Diese jüngste Literatur hat eine ganz bewußte Tendenz. Diese Tendenz: Expressionismus, Buntheit, Abenteuerlichkeit, Futurismus, Aktivität, Dummheit (gegen die Intellektualität, gegen die Bebuquins, gegen die gänzlich Arroganten). Wir wollen: Aufreizen, umwerfen, bluffen, triezen, zu Tode kitzeln, wirr, ohne Zusammenhang, Draufgänger und Negationisten sein. Unsere Sache ist die Sache der Intensität, der Nüstern, der Askese, des methodischen Fanatismus, der Flaggen und Konspirationen. Wir werden immer “gegen” sein. Wir werden die geistige Führerschaft an uns nehmen. Wir werden zu Felde ziehen gegen die Gehirnwesen, Geistlinge, Systemlinge. Gegen die Aktionierer und lyrische Tenöre. Gegen die “Programmatiker” und Sektenbildner. Wir ergreifen die Partei der Bilderstürmer und jeglicher Radikalisten. Wir propagieren den Stoffwechsel, den Saltomortale, den Vampyrismus und alle Art Mimik. Wir sind nicht naiv genug, an den Fortschritt zu glauben. Wir haben es nur mit dem “Heute” zu tun. Wir wollen sein: Mystiker des Details, Bohrlinge und Hellseher, Antikonzeptionisten und Literaturstänker. Wir wollen den Appetit verderben an aller Schönheit, Kultur, Poesie, an allem Geist, Geschmack, Sozialismus, Altruismus und Synonymismus. Wir gehen los gegen alle “ismen” Parteien und “Anschauungen”. Negationisten wollen wir sein. 

Huelsenbeck manifestierte sich nochmals, zwei Jahre später, in Berlin (Auszug):

Die Unterzeichner dieses Manifests haben sich unter dem Streitruf

DADA!!!!

zur Propaganda einer Kunst gesammelt, von der sie die Verwirklichung neuer Ideale erwarten. Was ist nun der DADAISMUS?

Das Wort Dada symbolisiert das primitivste Verhältnis zur umgebenden Wirklichkeit, mit dem Dadaismus tritt eine neue Realität in ihre Rechte. Das Leben erscheint als ein simultanes Gewirr von Geräuschen, Farben und geistigen Rhytmen, das in die dadaistische Kunst unbeirrt mit allen sensationellen Schreien und Fiebern seiner verwegenen Alltagspsyche und in seiner gesamten brutalen Realität übernommen wird. Hier ist der scharf markierte Scheideweg, der den Dadaismus von allen bisherigen Kunstrichtungen und vor allem von dem FUTURISMUS trennt, den kürzlich Schwachköpfe als eine neue Auflage impressionistischer Realisierung aufgefaßt haben. Der Dadaismus steht zum erstenmal dem Leben nicht mehr ästhetisch gegenüber, indem er alle Schlagworte von Ethik, Kultur und Innerlichkeit, die nur Mäntel für schwache Muskeln sind, in seine Bestandteile zerfetzt.

Das BRUITISTISCHE Gedicht

schildert eine Trambahn wie sie ist, die Essenz der Trambahn mit dem Gähnen des Rentiers Schulze und dem Schrei der Bremsen.

Das SIMULTANISTISCHE Gedicht

lehrt den Sinn des Durcheinanderjagens aller Dinge, während Herr Schulze liest, fährt der Balkanzug über die Brücke bei Nisch, ein Schwein jammert im Keller des Schlächters Nuttke.

Das STATISCHE Gedicht

macht die Worte zu Individuen, aus den drei Buchstaben Wald, tritt der Wald mit seinen Baumkronen, Försterlivreen und Wildsauen, vielleicht tritt auch eine Pension heraus, vielleicht Bellevue oder Bella vista. Der Dadaismus führt zu unerhörten neuen Möglichkeiten und Ausdrucksformen aller Künste. Er hat den Kubismus zum Tanz auf der Bühne gemacht, er hat die BRUITISTISCHE Musik der Futuristen (deren rein italienische Angelegenheit er nicht verallgemeinern will) in allen Ländern Europas propagiert. Das Wort Dada weist zugleich auf die Internationalität der Bewegung, die an keine Grenzen, Religionen oder Berufe gebunden ist. Dada ist der internationale Ausdruck dieser Zeit, die große Fronde der Kunstbewegungen, der künstlerische Reflex aller dieser Offensiven, Friedenskongresse, Balgereien am Gemüsemarkt, Soupers im Esplanade etc. etc. Dada will die Benutzung des neuen Materials in der Malerei.

Dada ist ein CLUB, der in Berlin gegründet worden ist, in den man eintreten kann, ohne Verbindlichkeiten zu übernehmen. Hier ist jeder Vorsitzender und jeder kann sein Wort abgeben, wo es sich um künstlerische Dinge handelt. Dada ist nicht ein Vorwand für den Ehrgeiz einiger Literaten (wie unsere Feinde glauben machen möchten) Dada ist eine Geistesart, die sich in jedem Gespräch offenbaren kann, sodaß man sagen muß: dieser ist ein DADAIST — jener nicht; der Club Dada hat deshalb Mitglieder in allen Teilen der Erde, in Honolulu so gut wie in New-Orleans und Meseritz. Dadaist sein, kann unter Umständen heißen, mehr Kaufmann, mehr Parteimann als Künstler sein — nur zufällig Künstler sein — Dadaist sein, heißt, sich von den Dingen werfen lassen, gegen jede Sedimentsbildung sein, ein Moment auf einem Stuhl gesessen, heißt, das Leben in Gefahr gebracht haben (Mr. Wengs zog schon den Revolver aus der Hosentasche). Ein Gewebe zerreißt sich unter der Hand, man sagt ja zu einem Leben, das durch Verneinung höher will. Ja-sagen — Nein-sagen: das gewaltige Hokuspokus des Daseins beschwingt die Nerven des echten Dadaisten — so liegt er, so jagt er, so radelt er — halb Pantagruel, halb Franziskus und lacht und lacht. Gegen die ästhetischethische Einstellung! Gegen die blutleere Abstraktion des Expressionismus! Gegen die weltverbessernden Theorien literarischer Hohlköpfe! Für den Dadaismus in Wort und Bild, für das dadaistische Geschehen in der Welt. Gegen dies Manifest sein, heißt Dadaist sein!

Tristan Tzara. Franz Jung. George Grosz. Marcel Janco. Richard Huelsenbeck. Gerhard Preiß. Raoul Hausmann. Walter Mehring.

Lüthy. Fréderic Glauser. Hugo Ball. Pierre Albert Birot. Maria d’Arezzo. Gino Cantarelli. Prampolini. R. van Rees. Madame van Rees. Hans Arp. G. Thäuber. Andrée Morosini. François Mombello-Pasquati.

Quelle:  Richard Huelsenbeck,  „Dadaistisches Manifest“ (1918), Dada Almanach, herausgegeben von Richard Huelsenbeck. Berlin: Erich Reiss, 1920, S. 35-41.  

Und auch wenn die Dada-Flamme in den 1920er-Jahren ausgebrannt erschien, anderes hatte sich an ihr entzündet und ist ohne sie nicht denkbar: Das “Narrenspiel aus dem Nichts, in das alle höheren Fragen verwickelt sind” (Hugo Ball) hatte den Weg bereitet für Surrealismus,  abstrakte Dichtung, Pop-Art und viele andere Richtungen mehr. Denn Dada sagt im Grunde eines: Alles, was da ist, was vor allem in unserem menschlichen Hirn ist, ist da – Lautmalereien, Simultangedichte, Ausdruckstanz, der sich aus unseren Gebärden speist, abstrakte Malerei, alles, was ursprünglich ist, unverfälscht, ungekünstelt, direkt den Geistesblitzen unseres Hirns entsprungen ist da da da da da da … und will raus. So liest sich denn auch die spätere Aussage von Hans Arp:

„Dada ist für den Unsinn. Das bedeutet nicht Blödsinn. Dada ist unsinnig wie die Natur und das Leben. Dada ist für die Natur und gegen die Kunst.“

Hans Arp, Worte mit und ohne Anker, Limes, 1957