Literarische Orte: Naumburg – wo Nietzsche weinte

Friedrich Nietzsche verbrachte seine Kindheits- und Jugendjahre in Naumburg in Sachsen-Anhalt. 1890 kam er in die Stadt mit dem weltberühmten Dom zurück: Seine Mutter nahm den geistig umnachteten Sohn in Pflege.

Am Holzmarkt in Naumburg: Das Nietzsche-Denkmal des Bildhauers Heinrich Apel. Bild: Birgit Böllinger

Oh Mensch! Gieb Acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
„Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht.
Tief ist ihr Weh -,
Lust – tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit
will tiefe, tiefe Ewigkeit!“

Friedrich Nietzsche


Als Nietzsche „Zarathustras Tanzlied“ schrieb, war es zwar noch einige Jahre hin bis zu seiner tiefsten Nacht. Aber vielleicht liegt in diesem fast flehentlichem Stoßseufzer nach „tiefer, tiefer Ewigkeit“ schon eine dunkle Vorahnung begriffen: Im Januar 1889 bricht der Philosoph und Schriftsteller psychisch zusammen, kommt zunächst in psychiatrische Krankenhäuser in Basel und Jena. 1890 kann ihn seine Mutter Franziska zu sich nehmen: In das Haus im Weingarten 18 in Naumburg, jener Stadt in Sachsen-Anhalt, in der Nietzsche auch seine Kindheits- und Jugendjahre verbracht hatte.

Nach dem Tod des Vaters, dem Röckener Pastor Carl Ludwig Nietzsche, war die Mutter mit Friedrich und dessen Schwester Elisabeth 1850 nach Naumburg gezogen, wo sie und die Kinder zunächst unter der „Fuchtel“ der wohl recht dominanten Schwiegermutter Erdmuthe Dorothea bis zu deren Tod 1856 standen. Dank der Hinterlassenschaft von Erdmuthe konnte Franziska schließlich eine eigene Wohnung mieten, 1858 zog sie dann mit ihrer kleinen Familie in den Weingarten um, zunächst als Mieterin, zwanzig Jahre später konnte sie das Haus kaufen: Was, als ihr Sohn zum Pflegefall wurde, ein Glücksfall war – denn später sollen sich Nachbarn über das laute Schreien des Mannes beklagt haben, wie heute in dem kleinen Nietzsche-Museum, das in dem Wohnhaus eingerichtet wurde, zu erfahren ist.

Büste des Philosophen im Nietzsche-Haus

Obwohl Nietzsche bereits zur Zeit des Einzugs in das auffällige Eckhaus eine Freistelle im Internat Schulpforta nahe bei Naumburg erhalten hatte, blieb das Haus „Mutterhaus“ und Lebensmittelpunkt, bis er 1864 sein Studium in Bonn begann. Das Verhältnis zur Mutter blieb eng, wenn auch wechselvoll: Schon der Abbruch des Theologiestudiums, aber auch später die Ménage-à-trois mit Paul Rée und Lou von Salomé trübten das Verhältnis zum „Herzenssohn“.

Das “Lama” Elisabeth Förster-Nietzsche

1890 nahm die betagte Frau (1826 – 1897) den Sohn wieder zu sich und pflegte ihn, gemeinsam mit Elisabeth Förster-Nietzsche, die 1893 nach dem Suizid ihres Mannes aus Paraguay zurückkehrte, bis zu ihrem Tod. Elisabeth, von Friedrich mit dem Spitznamen „Lama“ betitelt, hatte einen deutschnationalen Antisemiten geheiratet (ein Streitpunkt zwischen den Geschwistern), der in Paraguay eine Siedlungskolonie gegründet hatte. Nach ihrer Rückkehr nach Naumburg übernahm Elisabeth nach und nach die Kontrolle über Nietzsches Werk, sie gründete noch in Naumburg ein „Nietzsche-Archiv“, das sie nach dem Tod der Mutter nach Weimar verlegte – dort, in der Villa Silberblick, verbrachte der umnachtete Philosoph auch seine letzten Lebensjahre bis 1900. Förster-Nietzsche ist nicht unumstritten: Sie soll Texte ihres Bruders verfälscht haben, auch ihre anhaltenden Beziehungen zu nationalen und völkischen Kreisen führten dazu, dass manche sie zum „Sündenlama“, die Nietzsches Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten den Boden bereitet habe, erklärten – eine einseitige Anschuldigung, die aber bis heute überdauert.

Wer in Naumburg auf Nietzsches Spuren wandeln will, findet im Nietzsche-Haus eine kleine, etwas in die Jahre gekommene Dauerausstellung zu Leben und Werk. Unmittelbar daneben fällt ein architektonisch moderner Bau auf: Das Nietzsche-Dokumentationszentrum, ein öffentlich zugängliches Forschungs- und Kulturzentrum mit Bibliothek und Lesesaal und einem umfangreichen Programm. Und natürlich ist ein Abstecher zum Kloster St. Marien zur Pforte zu empfehlen: Dort, nahe bei Naumburg, besuchte nicht nur Nietzsche das Internat, auch Johann Gottlieb Fichte und Friedrich Gottlieb Klopstock waren Schüler. Das 1137 gegründete Zisterzienserkloster beherbergt bis heute ein Internat für besonders begabte Schülerinnen und Schüler aus ganz Deutschland. Teile der Anlage, unter anderem die Klosterkirche, ein historischer Kreuzgang und ein alter Friedhof, können besichtigt werden – und dass man sich hier durchaus wie in „Hogwarts“ fühlen kann, wie meine Reiseführerin Constanze Matthes von “Zeichen & Zeiten” meinte, liegt bei diesem verwunschenen Ort durchaus auf der Hand. Conny nahm sich dankenswerterweise die Zeit, mir noch mehr Orte der Landschaft, in der Nietzsche aufgewachsen ist, zu zeigen: Unter anderem waren Burg Saaleck, die Rudelsburg, der Weinberg des Bildhauers Max Klinger, Schloss Neuenburg und Schloss Goseck Stationen. Und wer sich die Region Saale-Unstrut literarisch erschließen will: Mit „Schweigenberg“ hat Barbara Pfeiffer von „Kulturbowle“ einen schönen Buchtipp dazu.

Und noch ein literarischer Spaziergang: Über Naumburg und Nietzsche berichtete Tobias Köberlein 2014 bei der Deutschen Welle.

Literarische Orte: Das virtuelle Literaturhaus Augsburg

Seit September 2014 betreibt eine Gruppe kreativer Lesender in Augsburg ein virtuelles Literaturhaus. Hereinspaziert!

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Bild: Literaturhaus Augsburg

Beinahe jede größere Stadt hat mittlerweile ein Literaturhaus – in der Geburtsstadt von Bertolt Brecht suchte man danach bislang vergebens, das Brecht-Haus ist mehr Museum denn Veranstaltungsort, zudem konzentriert sich das öffentliche Literaturleben meist auf das Bekannte, auf die etablierten Namen und Autoren. Eine Gruppe kreativer Leser resp. lesender Kreativer will das ändern – seit September 2014 gibt es das Literaturhaus Augsburg, derzeit jedoch vorwiegend virtuell.

Mithilfe engagierter und kulturbegeisterter Bürger, mit Unterstützung durch Stadtpolitik und der Privatwirtschaft will die Initiative Literaturhaus Augsburg der Literatur möglichst einen festen Raum eröffnen, ein festes Haus einrichten. Bislang muss das Virtuelle – www.literaturhaus-augsburg.de – noch mit dem Realen verbunden werden: Bis ein “echtes”  Haus realisiert ist, gibt es Literatur an wechselnden Orten und im virtuellen Bereich.

Dr. Stefan Bronner stellt das Projekt so vor:
“Uns ist die Verbindung von Literatur und Geheimnis wichtig. Literatur soll zudem von ihrem verstaubten Image befreit werden. Aus diesem Grund haben wir einen anderen Kanon. Wir kennen aus erkenntnistheoretischen Gründen keinen Unterschied zwischen U und E Literatur, zwischen “natürlich/echt” und “artifiziell/unecht” und zwischen “Oberfläche” und “Tiefe”. Wir betrachten Literatur als spirituelles Zaubermittel, als Gottesersatz. Wir sehen in Literatur das Potential, den spirituellen Trieb des Menschen zu befriedigen.”

“Wir haben uns über den Präsentationsmodus von Literatur Gedanken gemacht. Grundlegende Änderungen in diesem Bereich sind uns ein zentrales Anliegen. Geringe Publikumszahlen liegen nicht unbedingt im Gegenstand begründet, sondern auch in der Art und Weise der Vermittlung von Literatur. Auf eine kurzweilige und etwas andere Präsentation legen wir – wie bereits aus unserem von Nietzsche entlehnten Motto ersichtlich wird – deswegen besonderen Wert.

Man träumt gar nicht, oder interessant – Man muss lernen, ebenso zu wachen: – gar nicht, oder interessant. Friedrich Nietzsche

Wir planen zum Beispiel Lesungen an ungewöhnlichen Orten. Dabei soll sich der Autor auch nicht nur vor sein Publikum setzen, aus seinem Buch vorlesen und später Autogramme geben. Wir wollen auch Seminare zu kreativem Schreiben anbieten, wofür – wie man bei anderen Häusern wie dem Literaturhaus in München sehen kann – eine große Nachfrage existiert. Literatur ist im Idealfall eine Mischung aus guter Unterhaltung und Denkanstößen. Dies sind hohe Ziele, die wir uns bei der Konzeption unseres Angebots setzen. Im Moment reifen viele Dinge, wir sind in einer Umbruchsphase und müssen die derzeitigen Entwicklungen als Chance für die Etablierung unseres Hauses und damit einhergehende neue kulturelle Formate begreifen.”