Uwe Timm: Heißer Sommer

Uwe Timms Debütroman “Heißer Sommer” erschien 1974. Es gibt viele Gründe, warum sich der Roman im heißen Sommer 2018 wieder zu lesen lohnt.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Ich bin früher gern rausgefahren, gleich nach Schulschluß. Ich hab an einem Waldrand im Gras gelegen und stundenlang in den Himmel gesehen. Ich hab dann an nichts gedacht. Nur manchmal, wenn in der Luft ein Bussard schwebte und plötzlich zur Erde herunterkippte, war das wie ein Stich. Fressen und Gefressenwerden. Ich hab versucht, mir vorzustellen, wie das wäre, eine Welt, in der niemand gequält würde. Ein ruhiges, anhaltendes Glück wie in einem heißen Sommer, wenn man in einer tiefen Wiese liegt und über sich die Wolken ziehen sieht.“

Uwe Timm, „Heißer Sommer“


Es war ein Sommer, in vielem vergleichbar mit dem diesjährigen, von dem Uwe Timm in seinem Debütroman erzählt: Temperaturen auf dem Siedepunkt, die politischen Vorgänge ebenso. Nur drei Jahre nach dem Erscheinen des Buches sollte ein Herbst folgen, der als „Heißer Herbst“ beziehungsweise „Deutscher Herbst“ in den politischen Sprachgebrauch überging, 1977, als der Terror der RAF einen Höhepunkt erreichte. Die Radikalisierung einiger, sie war auch eine Folge der Ereignisse, von denen Timm in seinem durchaus auch autobiographischen Roman erzählt.

„Heißer Sommer“ (1974) war einer der wenigen literarischen Texte über die Außerparlamentarische Opposition und die Studentenbewegung, die zu diesem frühen Zeitpunkt erschienen. Timm hat als Student vieles von den Geschehnissen miterlebt: Er selbst studierte ab 1967 in München, war im Sozialistischen Deutschen Studentenbund aktiv und beteiligte sich an der Besetzung der Münchner Universität. Wie seine Romanfigur Ullrich lebte auch Timm 1968 einige Monate in Hamburg. Dort richteten sich die Studentenproteste vor allem gegen die Springer-Presse und ihr Haupterzeugnis „Bild“.

Aufgeheizte Zeiten

Denn, so kommentierte Thomas Assheuer im Mai 2007 die Ereignisse von 1968 in der „Zeit“: Kaum war der Funke aus Berkeley, der Protest amerikanischer Studenten, nach Deutschland übergesprungen, da eröffnete die Springer-Presse die Jagdsaison. Ob Bild, Welt , Berliner Morgenpost – die Blätter nahmen Aufstellung an der semantischen Bürgerkriegsfront und bezeichneten die Protestierenden wahlweise als »Eiterbeule« oder »immatrikulierten Mob«, als »akademische Gammler« oder »behaarte Affen«. Springers Kommissare verlangten hartes »Durchgreifen«, »Abschieben«, »Ausmerzen«, oder noch wirksamer: »Polizeihiebe auf Krawallköpfe, um den möglicherweise doch vorhandenen Grips lockerzumachen«.

“Der Ostwind ist kalt. Ullrich schwitzt. Die Gesichter neben ihm sind nicht mehr ernst. Er erkennt seine Freude in den Gesichtern der anderen wieder. Eine Freude, die verändert. Er kann, wenn er sich umdreht, das Ende des Zugs nicht ausmachen. Er ist noch nie mit so vielen Menschen zusammen gegangen. Er war herumgelaufen und hatte gesucht. Jetzt war er angekommen. Er hatte die anderen gefunden. (…)
Er hatte sie untergehakt, er konnte lachen und reden mit ihnen, als kennten sie ihn schon lange. Was er fühlt, ist eine Freude, die über ihn hinausgeht, die ihm ein Gefühl der Weite und Stärke gibt. Eine Freude, die vom Haß getragen wird, ein Haß, der verändert. Die neben ihm gehen, waren wie er aus ihren Zimmern gelaufen. Jetzt marschieren sie eingehakt und rufen: Haut dem Springer auf die Finger.”

Es sind der Mord an Benno Ohnesorg 1967 und die Schüsse auf Rudi Dutschke im April 1968, die den Studenten Ullrich allmählich politisieren. Noch wühlt er sich durch die Verse Hölderlins für das Studium in München, plagt sich mit halbwarmen Frauengeschichten ab, versucht sich aus der Eichenholzmöbelgarnitur-Enge des Elternhauses zu befreien, alles ein wenig halbgar, alles gedämpft. Die Hitze steht in den Münchner Straßen, abends geht man ins „Leopold“ zur Nachtvorstellung, oder in eines der Schwabinger Cafés. Tagsüber schuftet man schwarz bei brütender Hitze auf einem offenen Acker, den ein „Schwabinggauner“ in ein Go-Kart-Gelände, der neueste Schrei für die Jugend, umwandeln will.

Sehnsucht nach Freiheit und Veränderung

Erst langsam erwacht Ullrich aus diesem Dämmerdasein, der Mord an Ohnesorg wirkt auch auf ihn wie ein Katalysator. Wie sehr die geistige Frucht des Nationalsozialismus noch die junge Republik prägt, das wird Ullrich nicht nur am Beispiel des Vaters, der sich regelmäßig mit alten „Kampfgefährten“ das „Dritte Reich“ schwadronierend zurücksehnt, bewusst. Auch die Verkrustung im universitären Getriebe, der Alltagsrassismus, der ihm bei seinem Job („lass den Kümmeltürken hacken“) begegnet, die Erzählungen anderer öffnen ihm die Augen und das hitzegedämpfte Hirn. Alles in ihm sehnt sich nach Freiheit und Veränderung – sowohl der persönlichen als auch der gesellschaftlichen Verhältnisse.

„Die stehen da und glotzen nur, hatte ein Mädchen zu Ullrich gesagt, das im Demonstrationszug neben ihm ging. Ja, hatte Ullrich gesagt, die sind nicht ansprechbar. Das Mädchen, das ein sehr kurzes gelbes Kleid trug, erzählte ihm, daß sie vorhin beim Verteilen der Flugblätter von einem Mann angepöbelt worden sei. Dreckige Schlampe, hatte der gerufen und dann gesagt: Ganz richtig, daß sie einen von euch umgelegt haben.“

Uwe Timm erzählt in diesem Roman eine Entwicklungsgeschichte: Der anfangs noch zaudernde, unbestimmt dahinlebende Student wird sich, geprägt durch private und politische Schlüsselerlebnisse, zu einem politisch bewussten Aktivisten entwickeln. Die zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft erkennt Ullrich als Irrweg – außer einigen Pflastersteinen und einen halbherzigen Brandanschlag auf einen Polizeibus soll es das für ihn gewesen sein. Er merkt, dass das Kaputtmachen dessen, was „uns kaputtmacht“, keine Lösung ist, sondern entscheidet sich für „den organisierten Weg in die Betriebe, in die Schulen, in die Universitäten, in die Wohngebiete“, entschließt sich, sein Studium fortzusetzen und Lehrer zu werden.

Am Ende ist er auch mit Hölderlin wieder eins, erkennt er, geprägt von seinen Erfahrungen, die Fülle dieser Verse:

Die Sonne ließ die Tannen leuchten. In den Gräben schmale weiße Streifen, schmutzige Schneereste. Auf einem Feld ein Traktor mit einer Egge. Die Schraffur der Furchen.

             Wachs und werde zum Wald! eine beseeltere,
                  Vollentblühende Welt! Sprache der Liebenden
                             Sei die Sprache des Landes,
                                   Ihre Seele der Laut des Volks!

„Heißer Sommer“ ist nicht nur ein Roman, der authentisch vom Zustand der deutschen Gesellschaft 1968 erzählt und aus dem Inneren des studentischen Lebens berichtet, sondern war und ist auch literarisch ein mehr als gelungener Wurf für einen Debütroman: Timm verwebt gekonnt verschiedene Erzähl- und Zeitebenen, variiert sprachlich, mal poetisch, mal ironisch im Ton, schiebt wie in einer Collage prägende Texte der Studentenbewegung, Songzeilen von Dylan und den Beatles, Zitate von Marcuse und Marx in den Erzählfluss ein.

Jetzt, fünf Jahrzehnte später, haben wir wieder einen „heißen Sommer“, in dem nicht nur die Temperaturen stetig steigen, sondern auch gesellschaftliche Kräfte aufeinanderprallen, die grundsätzlich verschiedene Werte vertreten: Auf der einen Seite Restauration und Abschottung bis hin zu einem Ruck nach Rechts und ins Rechtsextreme, andererseits Menschen, die für eine weltoffene Gesellschaft vermehrt auf die Straße geht. Diskussionen über Rassismus und den Umgang mit Flüchtlingen. Und bei alledem eine „Bild“, die zwar – Gott sei Dank – schon lange nicht mehr die Auflagen hat der 1960er-Jahre, aber zum alten, verkommenen Stil zurückgekehrt ist. Dies alles macht „Heißer Sommer“ zu einer passend hitzigen Lektüre dieser Tage. Ein Roman, der sich wieder zu entdecken lohnt.


Bibliographische Angaben:

Uwe Timm
Heißer Sommer
dtv Verlag, 1998
ISBN: 978-3-423-12547-5

Friedrich Hölderlin – Heimkunft

Heimkunft erschien 1802 erstmals in “Flora. Teutschlands Töchtern geweiht von Freunden und Freundinnen des schönen Geschlechts”.

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Bild von Th G auf Pixabay

Freilich wohl! das Geburtsland ists, der Boden der Heimat,
Was du suchest, es ist nahe, begegnet dir schon.
Und umsonst nicht steht, wie ein Sohn, am wellenumrauschten
Tor’ und siehet und sucht liebende Namen für dich,
Mit Gesang ein wandernder Mann, glückseliges Lindau!
Eine der gastlichen Pforten des Landes ist dies,
Reizend hinauszugehn in die vielversprechende Ferne,
Dort, wo die Wunder sind, dort, wo das göttliche Wild
Hoch in die Ebnen herab der Rhein die verwegene Bahn bricht,
Und aus Felsen hervor ziehet das jauchzende Tal,
Dort hinein, durchs helle Gebirg, nach Komo zu wandern,
Oder hinab, wie der Tag wandelt, den offenen See;
Aber reizender mir bist du, geweihete Pforte!

Friedrich Hölderlin, „Heimkunft“, Auszug aus der 4. Strophe.

Lindau, Pforte des Landes, Pforte zum See, den die Einheimischen gerne auch das „schwäbische Meer“ nennen. Hölderlin ging beim Anblick des Hafens das Herz auf, Mörike schwärmte von der vergnüglichen Stadt, Michel de Montaigne mochte das Essen. Und auch für mich seit meiner Kindheit ein Sehnsuchtsort, ein Ort zur Seelenbaumelei.

Literarische Orte: Heidelberg und die Romantiker

Mit Heidelberg ist eine Literaturepoche verbunden: Die „Heidelberger Romantik“. Hölderlin war ein Vorbote, Brentano und von Arnim die wichtigsten Vertreter.

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Bild von Heidelbergerin auf Pixabay

Lange lieb ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust,
Mutter nennen, und dir schenken ein kunstlos Lied,
Du, der Vaterlandsstädte
Ländlichsschönste, so viel ich sah.

Wie der Vogel des Walds über die Gipfel fliegt,
Schwingt sich über den Strom, wo er vorbei dir glänzt,
Leicht und kräftig die Brücke,
Die von Wagen und Menschen tönt.

Wie von Göttern gesandt, fesselt` ein Zauber einst
Auf die Brücke mich an, da ich vorüber ging,
Und herein in die Berge
mir die reizende Ferne schien,

Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog,
Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön,
Liebend unterzugehen,
In die Fluten der Zeit sich wirft.

Quellen hattest du ihm, hattest dem Flüchtigen
Kühle Schatten geschenkt, und die Gestade sahn
All` ihm nach, und es bebte
Aus den Wellen ihr lieblich Bild.

Aber schwer in das Tal hing die gigantische,
Schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund
Von den Wettern zerrissen;
Doch die ewige Sonne goss

Ihr verjüngendes Licht über das alternde
Riesenbild, und umher grünte lebendiger
Efeu; freundliche Wälder
Rauschten über die Burg herab.

Sträuche blühten herab, bis wo im heitern Tal,
An den Hügeln gelehnt, oder dem Ufer hold,
Deine fröhlichen Gassen
Unter duftenden Gärten ruhn.

Friedrich Hölderlin

Immer wieder suchte der ewig vor sich und anderen flüchtende Friedrich Hölderlin (1770 – 1843), bis er dann seine zweite Lebenshälfte in seinem Tübinger Turmzimmer verbrachte, auch die kühlen Schatten der Stadt Heidelberg auf. 1788 war sein erster Besuch in der Neckarstadt, 1800 entstand sein Gedicht, kurz nachdem die Alte Brücke über den Neckar fertiggestellt worden war. Es ist wohl das berühmteste Heidelberg-Poem. Mit den Zeilen „schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund von den Wettern zerrissen“ bezieht sich Hölderlin auf einen Blitzschlag, der 1764 das Heidelberger Schloss, kaum dass es nach der teilweisen Zerstörung durch die Franzosen 1693 wieder aufgebaut worden war, vollends beschädigte. (Ein ausführlicher virtueller Rundgang durch das Schloss, den Schlossgarten bis hin zum berühmten Riesenfass findet sich hier.)

Die Heidelberger Romantik

Wie die „Weimarer Klassik“ gibt es auch für Heidelberg den Begriff einer Literaturepoche, der mit der Stadt verbunden ist: Die „Heidelberger Romantik“. Hölderlin war ein Vorbote, verknüpft ist sie vor allem mit Clemens von Brentano und Achim von Arnim, die zweitweise in Heidelberg lebten (datiert wird die Heidelberger Romantik für die Jahre zwischen 1804 und 1818), dort an „Des Knaben Wunderhorn“ arbeiteten und die „Zeitung für Einsiedler“ herausgaben. Darüber hinaus studierte Joseph von Eichendorff von 1807 bis 1808 ebenfalls in Heidelberg, hatte aber wohl keine Kontakte zu Brentano/Arnim.

Die Romantik als Literaturepoche zeichnet sich durch Kritik an der Vernunft und auch in der Abgrenzung zur Aufklärung aus, zielt auf die Aufhebung der Trennung zwischen Philosophie, Literatur und Naturwissenschaften ab, greift die einfache Sprache des Volkes und seine Erzählungen auf – kurz: Zurück zur Natur, back to the roots.

Ländlich-schönes Heidelberg

Heidelberg, die „Ländlichschönste“, bot dafür das ideale natürliche Ambiente. Und weil die Romantiker auch gerne schwelgten, so ist es denn kein Wunder, dass manch einer von ihnen sich hier auch unglücklich verliebte – Joseph von Eichendorff beispielsweise in Käthchen Förster, die ihn wahrscheinlich zu „In einem kühlen Grunde“ inspirierte.

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Bild von Ramon Perucho auf Pixabay

Die Ära der Heidelberger Romantik ging vorüber, literaturwissenschaftlich gesehen. Die Romantik in Heidelberg jedoch blieb. Jahrzehnte später traf es Gottfried Keller, der sich in die Tochter eines Heidelberger Politikers und Philosophieprofessors verschaute, als er sich von 1848 bis 1850 in der alten Universitätsstadt aufhielt. Auch ihm wurde die berühmte Brücke zu einer Metapher:

Schöne Brücke, hast mich oft getragen,
Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen
Und mit dir den Strom ich überschritt.
Und mich dünkte, deine stolzen Bogen
Sind in kühnerm Schwunge mitgezogen
Und sie fühlten mein Freude mit.

Weh der Täuschung, da ich jetzo sehe,
Wenn ich schweren Leids hinübergehe,
Daß der Last kein Joch sich fühlend biegt;
Soll ich einsam in die Berge gehen
Und nach einem schwachen Stege spähen,
Der sich meinem Kummer zitternd fügt?

Aber sie, mit anderm Weh und Leiden
Und im Herzen andre Seligkeiten:
Trage leicht die blühende Gestalt!
Schöne Brücke, magst du ewig stehen
Ewig wird es aber nie geschehen,
Daß ein bessres Weib hinüberwallt!

Gottfried Keller

Literarische Orte: Mit Mörike und Hesse am Blautopf

Rund 22 Meter geht es nach unten, dann erreichen Taucher über die Blautopfhöhle den Einstieg in ein grandioses Höhlensystem.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

’S leit a Klötzle Blei glei bei Blaubeira, glei bei Blaubeira leit a Klötzle Blei.

Nun, da der Frühling erste zartesblaueste Bändchen flattern lässt, ganz, ganz zarteralszartblaue noch, zog es mich in die Natur. Sämtliche Mutterbusen-Metaphern erspare ich mir und den Lesern: Dafür ist die Schwäbische Alb viel zu harsch und herb gebaut. Kindheitsgefühle werden hier wach: Als meine Eltern noch jung und klamm waren, die Hypothek für das Fertighaus und den Kredit für einen orangen Käfer abzahlten, wurden wir Kinder oft Sonntags in diesen Käfer gequetscht und auf die Alb verfrachtet – das höchste an Urlaubsgefühlen zu dieser Zeit.

Eingang in ein Höhlenlabyrinth

Ein Höhepunkt der Himmelsfahrten: Ein Stopp am „Blautopf“. Aus kindlicher Perspektive hatte dieser Teich, ja vielmehr diese Pfütze, den Namen voll verdient – ratlos standen wir da und wunderten uns über die Ekstase älterer Menschen: „Dieses Blau!“. Wir sahen: Einen Topf mit Wasser. Gut, nur von der Oberfläche her betrachtet, ist das Gewässer eher unspektakulär – eine kleine Pfütze im Querschnitt und im Vergleich zum Bodensee, der uns, aus Mangel an anderen Möglichkeiten, als das „schwäbische Meer“ schmackhaft gemacht wurde. Doch es ist die Tiefe (wie immer), die zählt: Rund 22 Meter geht es nach unten, dann erreichen Taucher über die Blautopfhöhle den Einstieg in ein grandioses Höhlensystem. Deep Blue.

Heute sehe ich dieses Gewässer mit anderen Augen. Türkisblau. Meerblau. Violett. Cyan. Ultramarin. Kobalt. Hellblau. Dunkelblau. Indigo. Warm wie der Sommerhimmel. Kalt wie im Inneren einer Eishöhle.

blaubeuren-4506656_1280Dieses BLAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAU, dieses sagenhafte, wunderbare, changierende Blau des Wassers tröstet über manche Randerscheinungen an der Karstquelle hinweg. Jetzt ist die richtige Jahreszeit, das Gewässer zu besuchen, jetzt kann man noch ein wenig von der Stille, der Atmosphäre erahnen, die auch Hermann Hesse in den Bann zog:

„Überall roch es nach Schwäbisch, nach Roggenbrot und Märchen“, schrieb Hermann Hesse 1953 nach einem Besuch: „Überall duftete es nach Jugend und Kindheit, Träumen und Lebkuchen, Hölderlin und Mörike.“

Quelle: Thomas Köster, Angaben s.u.

Blaues Wunder

Im Sommer dagegen wird man hier sein „blaues Wunder“ erleben: Da spucken Busreiseunternehmen ihre Touristengruppen aus, Radler und Wanderer drängeln sich im Biergarten und am Souvenirladen und das Blautopfbähnle bahnt sich bimmelnd seinen Weg. Rund um den kleinen Topf muss man sich zwischen Mountainbikern und Familien mit missgelaunten Kindern (so wie wir es einstmals waren) mit Ellbogen einen Blick auf den Tümpel erkämpfen. Von wegen mystischer Idylle. Von wegen meditativer Ruhe. Von wegen heiliger Ort.

Eduard Mörike und die schöne Lau

Besser also die Atempause zwischen Winter und Frühlingsankunft nutzen, um wenigstens den Hauch einer Ahnung zu haben, warum dies seit jeher ein magischer Ort, warum der „Blautopf“ Eduard Mörike zu seinem Märchen von der schönen Lau inspirierte.

„Die schöne Lau“, das ist eine Wassernixe, die von ihrem Gemahl vom Schwarzen Meer in das Schwäbische verbannt wurde (der Originaltext ist bei Gutenberg zu finden). Ein typisches weibliches Schicksal: Die traurige Nixe, die keine Kinder bekommen konnte, wird verstoßen. Nur das Lachen kann sie von ihrem Fluch – Kinderlosigkeit und Verbannung – erlösen. Dass eine handfeste Schwäbin der romantischen Udine das Lachen zurückbringt, versöhnt wieder ein wenig mit dem Frauenbild jener Zeit. Heute, angesichts des Rummels am Blautopf, würde der Lau wahrscheinlich jedoch wieder mau und ihr das Lachen schnell vergehen.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

Die Schriftstellerin Renate Schostack schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über ihr Lieblingsmärchen:

„Nirgendwo sonst in der Literatur wird das Schwäbische so zart und fein überhöht, ohne daß es seiner Erdhaftigkeit beraubt würde. (…) Die 1852 in der Märchensammlung vom „Stuttgarter Hutzelmännlein“ veröffentlichte Geschichte enthält viel von des Autors Neigung zu den Abgründen des Lebens und der Seele, seiner Sehnsucht nach dem Gewöhnlichen, dem Wunsch, das Unheimliche mit dem Heimeligen zu versöhnen. Eine Aura des Gefährlichen, des Unerlösten bleibt.“

Der Weltschmerz, das Melancholische, die Weltflucht, auch das Abgründige: Lange wurde dies in den Werken Mörikes übersehen, galt er als kleiner, spießiger Landpfarrer, der Idyllen-Dichter, an die Heimat gebundene Biedermeiermann bevorzugt. Dabei dringt das Doppelbödige, das Dunkel-Melancholische auch aus vielen seiner Verse. Es sind die Nachtgespenster, die ihn quälten. Abgrundtief wie das Gewässer.

In der Frühe

Kein Schlaf noch kühlt das Auge mir,
Dort gehet schon der Tag herfür
An meinem Kammerfenster.
Es wühlet mein verstörter Sinn
Noch zwischen Zweifeln her und hin
Und schaffet Nachtgespenster.
– Ängste, quäle
Dich nicht länger, meine Seele!
Freu dich! schon sind da und dorten
Morgenglocken wach geworden.

Märchendichter Wilhelm Hauff besuchte das Seminar

Jedoch zurück zum Blautopf: Nicht nur wegen Mörike und seiner Lau ist dies ein literarischer Ort. Neben der Quelle liegt das um 1085 gegründete Benediktinerkloster, dessen Kirche vor allem wegen ihres spätgotischen Altars kunstgeschichtliche Interessierte begeistern wird. Im Zuge der Reformation wurde das Kloster sozusagen „evangelisiert“ – und ist bis heute neben Kloster Maulbronn, in dem Hesse darbte und Friedrich Hölderlin litt, Standort der evangelischen Seminare in Baden-Württemberg. Literarisch bedeutsame Seminaristen in Blaubeuren waren Märchendichter Wilhelm Hauff und Albrecht Goes (1908 – 2000), dessen berühmteste Erzählung „Das Brandopfer“ ist.

IMG_3379Kein Seminarist, sondern ein unfreiwillig Gefangener auf dem Klostergelände war Christian Friedrich Daniel Schubart (1739 – 1791), der spottende Dichter, der gegen die Kirche und den württembergischen Hof polemisiert hatte. Schubart hatte Zuflucht im bayerischen Augsburg gesucht, wurde jedoch auch von dort vertrieben und schließlich nach Blaubeuren gelockt und im Anschluss auf die Bergfestung Asperg verbracht: Schubart war zehn Jahre dort, der berühmteste politische Gefangene seiner Zeit.

In einem Klostergebäude ist in Blaubeuren eine Schubartstube eingerichtet – angeblich ein kleines Literaturmuseum. So, wie es Schubarts Freunden jedoch jahrelang nicht gelang, ihn aus der Haft zu erlösen, so gelang es mir noch nie, einen Blick in die Stube zu werfen – Öffnungszeiten gibt es nur nach vorheriger Vereinbarung. Aber ich mag eben nicht die Tage planen, an denen es mir nach einem blauen Wunder ist.

Als wir dem Blautopf an diesem Tag den Rücken kehrten, hatte sich das zartblaue Frühlingsbändchen bereits verzogen, der Himmel zeigte sich plötzlich winterlich grau in grau – und darunter das eisklare Blau dieser Quelle, magisch funkelnd wie Kristall.

Zum Weiterlesen:

Renate Schostak, Wasserweib, Frankfurter Allgemeine Zeitung:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/renate-schostack-wasserweib-eduard-moerikes-historie-von-der-schoenen-lau-1282645.html

Thomas Köster, Märchen vom häuslichen Glück, Goethe-Institut:
http://www.goethe.de/lrn/prj/mlg/mad/mdj/de9038516.htm

Literaturland Baden-Württemberg, Schubartstube:
http://www.literaturland-bw.de/?search=ort&show=Blaubeuren

Zum Blautopf:
http://www.blautopf.de/der-blautopf/schoene-lau/schoene-lau/

Bilder zum Download:

Bild 1, Skulptur der schönen Lau
Bild 2, Blautopf
Bild 3, Schöne Lau
Bild 4, Klostergebäude
Bild 5, Fachwerk Blaubeuren
Bild 6, Wasserrad