
„im Grunde habe ich mein Leben vorüberziehen lassen wie einen Traum, sage ich, im Grunde habe ich alles falsch gemacht, sage ich, im Grunde ist alles Stückwerk geblieben mein Leben, meine Verständigung mit der Welt, alles falsch alles Lüge, im Grunde war alles gelogen, eine einzige Lüge was ich vorhin gesagt habe, was ich vorhin gehört habe, meine Aufzeichnungen imaginieren nur alles, das ist alles nicht wahr, oder ich habe es nur erfunden, ich nehme alles zurück, oder ich widerrufe am liebsten alles, alles Schwindel, rufe ich, auch in der Liebe alles nur Schwindel alles erlogen, alles schon dagewesen, alles abgeschmackt, heruntergehaspelt, in allen Variationen durchgespielt, und der Zorn des Lamms ist mir gewiß –„
Friederike Mayröcker, „Reise durch die Nacht“
Im Grunde ist das Leben eine einzige Reise voller Zufälle, Beobachtungen, mehr oder weniger gelungener Entscheidungen, voller Assoziationen, ein sinnliches Leben, das zwischen rot und grün changiert, das in den engen vier Wänden, die Tag für Tag noch beengter werden durch die Anhäufung einer Zettelwirtschaft, immer noch genug Raum lässt, um Caspar David Friedrich und Goya zu imaginieren, um einen ganz eigenen Kosmos zu schaffen, der kleinräumig und so weit zugleich ist.
Als Friederike Mayröcker „Reise durch die Nacht“ schrieb, hatte sie bereits ein umfangreiches Werk vollbracht: Ab Mitte der 1950er-Jahre hatte sie bereits eine Vielzahl an Hörspielen, Theaterstücken, Prosa und vor allem natürlich Gedichte veröffentlicht. Das Prosastück um eine nächtliche Zugfahrt fügt sich ein in diesen fortwährenden Fluss des Schreibens, keine Zäsur bildet es, keinen Stilwandel, keinen Neuanfang, sondern die Fortsetzung eines in Worte gegossenen Lebens, das wohl wie bei kaum einer anderen Schriftstellerin Biographie und Fiktion verknüpft, zusammenführt, in eine Form gießt: Das Leben als Kunstform, die Kunst des Lebens.
„Doch kann man ihre Bücher als ein einziges Buch einer denkenden, sehenden, hörenden, liebenden, leidenden und reflektierenden weiblichen Existenz lesen“, schreibt Verena Auffermann in einem Essay über die Schriftstellerin.
Ein Prosastück über eine Zug- und Lebensreise
Knapp 60 Jahre alt war sie, die Avantgardistin der österreichischen Literatur, als sie das Prosastück über ihre Zugreise veröffentlichte. Eine Reise, die die Leser hierhin und dorthin führt bis zur Endstation in Wien, zurück zu gescheiterten Lieben, zu Begegnungen mit anderen Menschen, nach einem unbefriedigenden Urlaubsaufenthalt mit dem „VORSAGER“ die Gegenwart durchdringend, vor allem die eigene Existenz als Schreibende und älter werdende Frau. Schonungslos ist diese Bilanz, auch dem Partner gegenüber, mit dem, obgleich zwar als VORSAGER fiktionalisiert, unverkennbar Ernst Jandl gemeint ist, mit dem Friederike Mayröcker bis zu dessen Tod im Jahr 2000 eine Lebens- und Liebesgemeinschaft führte:
„Jetzt noch einmal beginnen können, mein Gott in meinem dreiundreißigsten Jahr zum Beispiel, damals, als wir einander zum ersten Mal sahen! Die Wahrheit ist wir sind in späteren Jahren oft in ein Patt geraten, wußten nicht ein noch aus, weideten uns an den bloßgelegten Schwächen des anderen.“
Ein anhaltender innerer Monolog
Nur stückweise sei sie imstande zu leben, lesen wir von der Autorin dieses inneren Monologs: Dies klingt beinahe wie eine Gebrauchsanweisung für das Lesen der Texte Friederike Mayröckers. Alles fügt sich ineinander, gibt ein Ganzes, man kann sich hineinfallen lassen in diesen Sog einer Existenz, die sich durch das Schreiben ihrer selbst bewusst macht, man kann – oder sollte gar als Leserin – den Text immer wieder unterbrechen, aufnehmen, in Einzelstücken genießen, das Assoziative wie das Poetische daran langsam vor den Augen zergehen lassen:
„Mit Blüten beschneit, damals, die Ruten der Bäume im bleichen Abendlicht, mit riesigen Blütenmonstranzen die mächtigen Holunderbäume, in einem Hof, von ferne ein leise weinendes Kind, im ausgebleichten Himmelsviereck die schreienden Schwalben, unsichtbar flötenden Amseln : alles von unirdischer Herkunft! sage ich, als hätte ich damals, in diesen Augenblicken der tiefen Stille eine Vorstellung davon empfangen dürfen, wie mich, sobald es auch mir bevorsteht, die Erinnerung dieses Bildes trostvoll hinübergeleiten würde.“
Der „Reise durch die Nacht“ folgten noch zahlreiche weitere Bücher, die sich einfügen in dieses Gesamtkunstwerk – besonders anrührend ist der Erinnerungsband an ihren Gefährten Ernst Jandl, „Und ich schüttelte einen Liebling“. Dennoch ist mir „Reise durch die Nacht“ von dem, was ich von ihr bislang las, ein besonders wichtiges Buch, gerade in meiner jetzigen Lebensphase: Die Auseinandersetzung mit dem, was ist. Wie man sein Leben gelebt hat, wie es sich mit den Jahrzehnten verändert, auch das Festhalten dessen, wie einem das Älterwerden immer näher rückt, die körperliche Verfassung eine andere wird. Mit so viel Mut, „mit der Tollkühnheit der Selbstentäußerung“ (Verena Auffermann) hat Friederike Mayröcker darüber schon vor mehr als drei Jahrzehnten geschrieben.
Bibliographische Angaben:
Friederike Mayröcker
Reise durch die Nacht
Suhrkamp Verlag
ISBN: 978-3-518-24262-9