Freundliche Schriftsteller in miserabler Lage und ein singulärer Ehrenpreis

Erstmals begleiteten drei Buchblogger den Bayerischen Buchpreis. Und erlebten einen facettenreichen Abend.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

“Die Stellung des Schriftstellers ist miserabel!” Die Worte, die der Vorsitzende des Landesverbandes Bayern vom Börsenverein, Michael Then, gestern zum Auftakt für die Vergabe des Bayerischen Buchpreises 2017 gewählt hatte, hatten eine ungewollte Doppeldeutigkeit: Ich hätte an diesem Abend den Platz mit keinem der sechs anwesenden Autoren tauschen wollen.

Das Format des Bayerischen Buchpreises hat durchaus seinen Reiz, aber auch seine Tücken: Die Fachjury – die heuer erstmals aus Knut Cordsen, Kultur-Redakteur beim Bayerischen Rundfunk, Literaturkritikerin Thea Dorn und Deutschlandfunk-Redakteurin Svenja Flaßpöhler, bestand – diskutierte über die vorgeschlagenen Titel, drei Romane, drei Sachbücher, live und auf offener Bühne.

Literaturkritik als öffentliche Verhandlung

Man stelle sich vor: Man arbeitet oftmals jahrelang an einem Buch, investiert Lebenszeit, Herzblut und Hirnschmalz und sitzt dann im Publikum, während drei Leute öffentlich dein Werk analysieren, kritisieren, unter Umständen sogar auseinandernehmen. Man kann natürlich einwenden: Kritik gehört zum Geschäft, geht einer an die Öffentlichkeit, muss er damit leben. Allerdings schafft es doch eine gewisse Distanz, wird die Kritik über ein zwischengeschaltetes Medium vermittelt. Durch die Unmittelbarkeit – allerdings abgemildert durch den prächtigen Rahmen in der Münchner Allerheiligen-Kirche und ein gut gestimmtes Publikum – hatte das Ganze doch ein wenig auch den Charakter einer öffentlichen Verhandlung, thematisch passend zu Petra Morbachs Roman „Justizpalast“, der ebenfalls im Rennen war.

Franzobel, der schließlich mit seinem sagenhaft guten und vielschichtigen Roman „Das Floß der Medusa“ im Bereich Belletristik mit dem Bayerischen Buchpreis ausgezeichnet wurde, gab in seiner launigen Ansprache einen Einblick in die Verfassung des Schriftstellers vor dem Elfmeter – seine Frau habe ihn am Morgen noch dafür bedauert, was Autoren so durchzustehen hätten.

Sachliche Diskussion unter Literaturexperten

Allerdings hat die Form auch ihren Reiz – vor allem für Leserinnen und Leser: Die offene, transparente Diskussion eröffnet einem nochmals neue Aspekte der Bücher, unter Umständen auch eine andere Herangehensweise. Zumal die drei Juroren überwiegend sachlich und freundlich argumentierende Richter waren, die sich sichtlich bemühten, nicht zu sehr die harte Kante anzulegen. Deutlich wurde dies am Beispiel von „Das Genie“, von Knut Cordsen ins Spiel gebracht, das weder uns Bayerische Buchpreisblogger noch die beiden Jurorinnen sprachlich restlos überzeugen konnte. Vor allem Thea Dorn hat mich – um ein Lieblingswort meines bayerischen Buchpreisbloggerkollegen Marius aufzugreifen – durch ihre konzise Art des Argumentierens im Bereich der Belletristik überzeugt: Beispielsweise eröffnete mir ihr Vergleich zwischen dem unfähigen, eitlen Kapitän der Medusa, dessen Schiff in die Katastrophe gesteuert wird und dem amtierenden US-Präsidenten nochmals ein neues, kleines Detail an diesem Roman.

Svenja Flaßpöhler hatte zunächst „Justizpalast“ favorisiert – ein Roman, der bei mir und Buchpreisbloggerin Katharina ebenfalls mit vorne lag, aus Gründen, die wir in unseren Besprechungen hoffentlich sichtbar machen konnten. Die Entscheidung der Jury ist jedoch nachvollziehbar und berechtigt:  „Das Floß der Medusa“ ist ein Roman, der die Jahre überdauern wird, da bin ich mir sicher. Mit Petra Morsbach kamen wir Buchpreisblogger beim anschließenden Empfang noch ins Gespräch – eine freundliche, souveräne Autorin, die uns euphorisierte Leserinnen sogar noch beruhigte: Es sei alles gut, sie sei auch ohne Bayerischen Buchpreis sehr zufrieden mit der positiven Resonanz auf „Justizpalast“.

Sachbuch-Kritik: Äpfel und Birnen

So nah Fachjury und Bloggerprognose jedoch im Bereich Belletristik waren, so weit entfernt waren wir als Bayerische Buchpreisblogger in Sachen Sachbuch: Wir hatten alle drei „Blau“ von Jürgen Goldstein auf dem Zettel. Ich empfand die Diskussion der Jury zu den Sachbüchern gestern als schwieriger und qualitativ weniger überzeugend denn im Bereich Belletristik. Thea Dorn brachte eines meiner Argumente auf den Punkt: Die drei Bücher seien so schwer zu vergleichen wie Äpfel und Birnen. Und so hinterließ bei mir die Entscheidung den Eindruck, dass weniger nach sachlichen Kriterien, sondern mehr persönlichen Themenschwerpunkten folgend argumentiert wurde.

Interessant war für mich später das Gespräch mit Jürgen Goldstein und seinem Lektor von Matthes & Seitz – tatsächlich ist eine Unterhaltung mit ihm so angenehm wie die Lektüre seines Buches: Klug, intelligent, ein offener Mensch, der auch neugierig auf die Meinung von uns Bloggern war. Für Petra Morsbach und Jürgen Goldstein haben wir uns als Buchpreisblogger noch etwas Eigenes ausgedacht – einen Preislöwen, zwar nicht aus Nymphenburger Porzellan, aber von Herzen kommend.

Premiere: Erstmals Literaturblogs mit an Bord

Neben der neuen Jury gab es heuer beim Bayerischen Buchpreis noch eine Premiere – wie bereits mehrfach erwähnt, waren Katharina Herrmann von Kulturgeschwätz, Marius Müller von Buch-Haltung und ich als Bloggerteam dabei, erstmals begleiteten also „digitale Literaturnerds“ das Geschehen. Bernhard Blöchl, Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, Romanautor und Blogger hat unsere Aktivitäten mit einem Artikel gewürdigt, über den wir uns sehr gefreut haben. Der aber auch eine Frage aufwirft, die mich immer wieder bewegt – welche Rolle spielen wir Blogger bei solchen Aktivitäten, wo ist unser Platz? Sind wir Marketinginstrumente, Digital-Influencer, Hobby-Kritiker?

Klar ist: Mit unseren Besprechungen zu den sechs Büchern und unseren Aktivitäten rund um den Buchpreis haben wir zusätzliche Aufmerksamkeit sowohl auf die Titel als auch auf die Veranstaltung an sich gelenkt. Im Netz wurde eifrig mitdiskutiert und der Hashtag #baybuch ging zwischenzeitlich durch die Decke. Vielleicht auch fürs Publikum bereichernd war das Zitieren einzelner Tweets durch die Moderation während der Veranstaltung gestern, die nochmals eine andere Sichtweise auf die besprochenen Bücher wiedergaben. Vor allem aber hat es uns als Trio unheimlichen Spaß gemacht – hinter den Kulissen über die Bücher zu diskutieren, unsere Argumente mit denen der Jury zu vergleichen, auch Gegenpositionen einzunehmen. Insofern: Mission Bavaria erfüllt.

Blogger etwas randständig

Der erste Versuch, auch das Netz und vor allem unsere Blogabonnementen für den Bayerischen Buchpreis zu interessieren, war eine fast gelungene Sache. Woran man allerdings noch feilen könnte, wäre an der crossmedialen „Vernetzung“ über das Netz hinaus: Twitter und Facebook sind zwar flüchtig, aber unsere Blogbesprechungen zu #baybuch bleiben bestehen und abrufbar. So wäre ein Hinweis in der Nachberichterstattung auch auf unsere differenzierten Blogbeiträge und Meinungen nicht nur für uns wertschätzend gewesen, sondern vor allem aber für die Leserinnen und Leser ein Hinweis auf eine weitere Informationsquelle zu den diskutierten Büchern. Denn – ich zitiere nochmals Michael Then: „Für Bücher muss heute einiges getan werden, um sie gesellschaftlich ins Licht zu rücken.“

Franzobel: Das Floß der Medusa

Verstörend, packend, die großen Fragen berührend. Und dies gepaart mit einer spürbaren Lust am Fabulieren. Dieser Roman von Franzobel ist ein großer Wurf.

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Bild von nightowl auf Pixabay

„Der nächste Tag war der 14. Juli, Tag der Revolution. Ein Sonntag. In der Nähe von Paris wurde ein gewisser Arthur de Gobineau geboren, späterer Begründer der Rassenlehre und somit ideologischer Wegbereiter des Holocausts, Argumentationsgehilfe zur Verhinderung der Gleichstellung der Schwarzen. Aber davon wussten die Menschen auf der Maschine nichts. Nicht einmal Coste schwenkte seine Jakobinermütze. Wie die meisten hatte er kein Zeitempfinden. Da war keine Strecke mehr, die man unendlich oft teilen konnte, sondern eine einzig brachliegende Gegenwart. Die Zeit gleich einem unbegrenzten Feld.“

Franzobel, „Das Floß der Medusa“

Nicht von ungefähr verweist Franzobel gegen Ende seines Buches – als sich auch die Leiden der Menschen auf dem Floß, „ der Maschine“, ihrem Ende zuneigen – auf den französischen Schriftsteller und Diplomaten de Gobineau. Dieser stellte in seinem mehrbändigen Werk „Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen“ die These auf: „Der Mensch ist das böse Tier par excellence.“

Auf offener See vor Westafrika

Und alles, was auf dem Floß der Medusa, das 1816 zehn Tage auf offener See vor Westafrika trieb, geschah, scheint diesen Satz zu bestätigen: Von den rund 150 Menschen, die sich nach dem Auflaufen der Fregatte Méduse auf eine Sandbank auf ein hektisch selbstgezimmertes Floß retten konnten, überleben nur 15. Und dies nur unter unmenschlichsten Umständen: Je länger die Tortur – stechende Hitze, Durst, Hunger – anhält, desto mehr fallen die Grenzen der Zivilisation. Auf dem Floß beginnt ein Kampf ums Überleben, den nur die physisch und psychisch Stärksten bestehen.

Dass es in seinem Roman um die ganz großen Fragen geht, das verdeutlicht Franzobel bereits im ersten Kapitel, als die Brigg Argus „fünfzehn ausgemergelte Gestalten“, „Totengesichter“, wandelnde Leichen, aus dem Wasser fischt:

„Aber was sind das für Geschehnisse, die der Menschheit für alle Zeit verborgen bleiben sollten? Was ist das für eine scheinbar mit einem Fluch behaftete Geschichte, die hinter diesen fünfzehn ausgemergelten Gestalten steht? Ist sie etwas für uns? Ein Versuch, den Menschen vor Gott zu rechtfertigen? Etwas Erhabenes? Erhebendes? Niederschmetterndes? Nun, das werden wir noch sehen. In jedem Fall ist dieser „Vorfall“ etwas, das am französischen, ja, am europäischen Nationalstolz kratzt, weil er Abgründe des Menschlichen offenbart, zeigt, was mit dieser Spezies alles möglich ist. Nichts für frankophile, Rotwein trinkende, Käse degustierende Modefuzzis. Gut, die Sache liegt mittlerweile mehr als zweihundert Jahre zurück. Wir können es uns also bequem machen und uns versichern, wir sind anders, bei uns kommt sowas nicht vor. Doch ist das wirklich so?“

Eine verstörende Allegorie auf das Menschsein

Dass der Erzähler hier, in dieser Art Vorspann, allwissend daherkommt, den Lesern quasi schon das Rezept zum Buch mitgibt, uns die Botschaft beinahe mit dem Holzhammer eintrichtert – dies ist im Grunde die einzige Kritik, die man zu diesem Buch, das hier und dort bereits als „epochal“ bezeichnet wurde, äußern kann.  Man muss über den Roman, der auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017 stand, nicht mehr viel schreiben: Im Feuilleton und bei einigen Literaturbloggern erntete der österreichische Schriftsteller dafür durchwegs überaus positive bis hin zu euphorische Kritiken. Und dies zu Recht: Es ist sprachlich, stilistisch und inhaltlich ein herausragendes Werk, das die Jahre und Moden überdauern wird.

Alexander Kosenina schrieb darüber in der Frankfurter Allgemeinen, der Roman sei „eine wuchtige, oft groteske und allemal verstörende Allegorie auf die Menschennatur“:

„Insgesamt ist Franzobel ein ganz und gar ungewöhnliches Buch gelungen: Statt eines Historienbildes fügt er aus dem glücklich gefundenen und unbekümmert neu erfundenen Ereignis ein literarisches Laboratorium zusammen, das der Erforschung von Menschen im Ausnahmezustand dient.“

Verstörend, nachklingend, Diskussionen auslösend und dabei gepaart mit einer spürbaren Lust am Fabulieren, am Spielen mit der Sprache, am stilistischen Experiment, indem immer wieder Historie und Moderne vermischt werden (die Offiziere der Medusa vergleicht Franzobel beispielsweise physiognomisch mit Lino Ventura und Alain Delon), die Erzählerstimmen wechseln, die Schauplätze und Perspektiven, dies alles führt dazu, dass man sich nach knapp 600 fieberhaft gelesenen Seiten tatsächlich selber fragt: „Und was hätte ich getan?“.

Informationen zum Buch:

Franzobel
Das Floß der Medusa
Zsolnay Verlag, 2017
ISBN 978-3-552-05816-3