Die Novelle “Bibliomanie” veröffentlichte Gustave Flaubert bereits im zarten Alter von 15 Jahren. Ebenso jung ist der Verleger, der die Geschichte nun in einer schön gestalteten Ausgabe herausbrachte.
Bibliomanie ist wie andere Süchte auch: In der schlimmsten Form endet sie mit sozialer Isolation, wirtschaftlichem Ruin und, wenn es ganz schlimm kommt, mit Tod und Verdammnis.
So ergeht es dem Mönch Giacomo in Barcelona, den die wahnhafte Gier nach einem bestimmten Buch als zum Tode verurteilten Verbrecher enden lässt. An der knappen Erzählung, ja beinahe Novelle von Gustave Flaubert, die 1837 in „Le Colibri“, einer Zeitung für Literatur und Kunst in Rouen veröffentlicht wurde, ist mehreres erstaunlich.
Zum einem ist es der erste publizierte Text eines 15-jährigen Jungen, der später zu einem der größten Romanciers der europäischen Literatur werden sollte. Wenn auch in sich als Erzählung noch nicht ausgereift und nicht ganz schlüssig, so zeigt „Bibliomanie“ doch schon Züge des späteren Flaubert: Eine Beschreibungskraft, die die Figuren lebendig werden lässt, ein großes Augenmerk auf die Psychologie der Figuren legt und das Bestreben nach einem sprachlich abgerundeten Stil. Zum anderen ist die Hauptfigur dieser Novelle, eben jener 30-jährige Mönch, eine Gestalt, bei der man sich die Augen reibt. Giacomo hat im Grunde keinen Sinn für die Literatur und die Wissenschaft. Er kann noch nicht einmal richtig lesen. Und dennoch denkt, träumt und sieht er nach Flauberts Worten nur eins: Bücher.
Von Flaubert weiß man, dass er ebenfalls biblioman war, von Alexander Walz kann ich es nur vermuten. Aber eines haben die beiden auf jeden Fall gemeinsam: Sie sind schon in sehr jungen Jahren der Literatur erlegen. Flaubert als Schriftsteller, Alexander Walz als Verleger. Mit knapp 15 gründete Walz die “Edition Lettara”. Der Verlag – ich habe bereits hier einmal davon berichtet – bringt klassische Texte heraus, bereichert durch Illustrationen des Verlegers.
“Bibliomanie” ist das zweite Werk, das der Verlag veröffentlichte. Ein schönes Lesestück, eine erstaunlich komplexe Novelle: Der jugendliche Flaubert spielt in diesem frühen Text ein Verwirrspiel mit seinen Lesern, wechselt Titel, Bücher und deren kulturelle Bedeutung im Laufe des Textes, löst nicht alle Erzählstränge vollständig auf – ob es so angelegt ist oder noch dem Alter des Autors geschuldet, bleibt sich in der Interpretation eigentlich gleich. Denn es geht eben nicht nur um Logik. Sondern es ist: Bibliomanie. Selbstverständlich macht auch das Nachwort, das von einer gewissen Birgit Böllinger stammt, diese schön gestaltete Ausgabe besonders lesenswert.
Marguerite Yourcenar war die erste Frau in der Académie Française. Bereits mit “Der Fangschuß” zeigte sich, warum sie eine so ungewöhnliche Autorin war.
„Ich wandte den Kopf ab und zielte, etwa wie ein verschrecktes Kind, das in der Silvesternacht einen Knallfrosch explodieren läßt. Nach dem ersten Schuß war nur ein Teil des Gesichtes verschwunden; dies beraubte mich für immer der Möglichkeit, zu erfahren, welchen Ausdruck Sophie im Antlitz des Todes angenommen hatte. Beim zweiten Schuß war alles getan. Zunächst dachte ich, sie habe geglaubt, mir ein letztes Zeichen ihrer Liebe zu schenken, und zwar das entschiedenste von allen, als sie mich bat, das Amt des Erschießens zu übernehmen. Doch dann begriff ich, daß sie sich nur hatte rächen und mich den Qualen von Gewissensbissen aussetzen wollen. Sie hatte richtig gerechnet: manchmal verfolgen sie mich wirklich. Mit solchen Frauen endet man immer in einer Falle.“
Marguerite Yourcenar, „Der Fangschuß“, 1939.
Wenn es berühmte letzte Sätze in der Literatur gibt, dann gehört dieser dazu: „Mit solchen Frauen endet man immer in einer Falle“. Er setzt den Schlusspunkt unter eine tragische Ménage à trois, angesiedelt in den Wirren der Nachkriegszeit 1919. Schauplatz ist ein einsames, abgelegenes Schloss im lettländischen Kurland: Dorthin zieht es Erich von Lhomond, den Ich-Erzähler, ein vaterland- und besitzloser Abenteurer, „hineingeraten das baltische Räderwerk“ kämpft er, nur aufgrund seiner Kaste, doch ohne ideologische Überzeugung gegen „die Bolschewiken“.
„Was hätte ein Junge auch sonst anfangen sollen, dessen Vater vor Verdun gefallen war und ihm als einziges Erbteil sein Eisernes Kreuz und einen Titel hinterlassen hatte (…)?“
Für den Adeligen, der die Geschichte Jahre später, gestrandet an einem Bahnhof, in Form einer Beichte vor völlig Unbekannten ablegt, gibt es nur einen Anker:
„Konrad wenigstens war in diesem unaufhörlich entgleisenden Leben ein Halt, eine Bindung und ein Freund.“
Mit einem Trupp Weißgardisten kommt von Lhomond nach Kratovice, um gegen die russischen Revolutionäre zu kämpfen. Zum Ausgangspunkt wird das Schloss Konrads, hier lernt der preußische Offizier auch dessen Schwester Sophie von Reval kennen. Die junge Frau, eigentlich ein Mädchen noch, ist auf eine besondere Art und Weise noch unerfahren in der Liebe:
„Aber sie hatte, noch im Backfischalter, die Gefahren des Feuergefechts erlebt, hatte die grauenvollen Berichte von Vergewaltigungen und Folterungen mitangehört, hatte gelegentlich gehungert und ständig in Angst gelebt und hatte zusehen müssen, wie eine Rotte roter Soldaten ihre Rigaer Vettern an die Wand des Hauses stellte und erschoss. Die seelische Anstrengung, die es gekostet hatte, sich an diese von Mädchenträumen so sehr verschiedenen Erlebnisse zu gewöhnen, erklärte zur Genüge den Blick ihrer schmerzlich geweiteten Augen.“
Eine Dreiecksbeziehung in den Wirren des Krieges
So unsympathisch und fremd einem der Erzähler aus heutiger Sicht an manchen Stellen auch erscheinen mag: Er vermag es – obwohl er mit seinen eigenen Leidenschaften kaum zurande kommt – sich tief in die seelischen Beweggründe derer, an denen ihm etwas liegt, einzufühlen. Und so wird er für die junge Frau zum weißen Ritter, in den sie sich abgöttisch verliebt – doch Erich von Lhomond selbst fühlt sich zu Konrad, dem Bruder hingezogen. Kammerspielartig entwickelt sich in den Mauern des zerschossenen Schlosses eine quälende, heftige Dreiecksbeziehung, die tragisch enden muss. Auf einzigartige Weise verknüpft hier die französisch-belgische Schriftstellerin das persönliche Schicksal des Trios mit den politischen Wirren: Sophie läuft, aus Enttäuschung und Trotz, zum „Feind“ über, Erich von Lhomond wird zum „Richter“ über ihr Leben und Mörder.
Michel Tournier wird bei der Wikipedia-Biographie Yourcenars so zitiert:
„Marguerite Yourcenars Genie liegt ganz ohne Frage in der Fähigkeit, jede individuelle Lebensgeschichte in Schicksal zu verwandeln.“
Mehr als nur eine Liebesgeschichte
Und auch Sybille Cramer macht in einem Beitrag zum Roman, den sie für die Süddeutsche Bibliothek vorstellte, deutlich, dass es sich hier um weit mehr handelt denn um eine dramatische Liebesgeschichte:
„Vor den Augen des Lesers öffnet sich der Vorhang zu einem Schauspiel verlorener Kämpfe, das in großartiger Vorwegnahme die Bedeutung des historischen Augenblicks erkennt, die Ablösung einer großen Geschichtsepoche, den Untergang Europas und den Aufstieg des amerikanischen Zeitalters.“
Mehr als die Verknüpfung von Einzelschicksal und Politik überrascht jedoch die Gabe der Autorin, sich in die Denkweise eines in seiner Kaste gefangenen, von homoerotischen und – unter jenen Umständen unauslebbaren – Gefühlen geplagten Protagonisten einzudenken. Mit Blick auf das Gesamtwerk Marguerite Yourcenars nimmt dieser Roman, der aufgrund seines Umfangs auch als Novelle bezeichnet werden könnte, jedoch keine Sonderstellung ein. Ursula März sagt über die „Vagabundin des Geistes“ (Quelle: “99 Leidenschaften“):
„(…) sie schrieb von der ersten Erzählung bis zum letzten Roman in der phantasierten Haut männlicher, meist homosexueller Protagonisten; als gäbe es für sie keine Kluft zwischen den Geschlechtern.“
Auch in anderen Belangen des Lebens kannte die 1903 geborene Schriftstellerin keine Grenzen im klassischen Sinne: Aufgewachsen an der Seite ihres unsteten Vaters – ihre Mutter starb zehn Tage nach ihrer Geburt – bildete sie sich autodidaktisch fort, während ihr Vater in den Spielcasinos der Welt den Familienbesitz durchbrachte. Auch nach dessen Tod 1929 blieb Yourcenar ihr Leben lang (sie starb hochbetagt 1987) auf Reisen, wenn sie auch ab 1940 ihren Lebensmittelpunkt bei ihrer Lebensgefährtin in den USA hatte. Ursula März:
„So kontrolliert geformt, so klassisch konstruiert Marguerite Yourcenars Literatur auch wirken mag – in ihrem Privatleben glich die leidenschaftliche Altphilologin und Bibliotheksliebhaberin nicht im Mindesten einer verstaubten Gelehrten. Sie war der freieste Mensch, den man sich denken kann und eine große Bohemienne des zwanzigsten Jahrhunderts.“
Als erste Frau in die Académie Française aufgenommen
Durch ihre ungewöhnliche Lebensart und Denkweise stellte die Schriftstellerin die Mitglieder der Académie Française vor außergewöhnliche Herausforderungen: 1980 sollte Marguerite Yourcenar – immerhin schlappe 345 Jahre nach der Gründung – als erste Frau in die altehrwürdige Gesellschaft aufgenommen werden. Erst durch eine Intervention des französischen Präsidenten wurde die Aufnahme einer Frau überhaupt möglich – aber dann ging es um die Wahl der „Uniform“ bei der Aufnahmezeremonie, die traditionell männlich geprägt, mit Hut und Degen ausgestattet war. Yves Saint Laurent und Cartier mussten schließlich ran – ein Prozess und Gezeter, das Yourcenar, so Ursula März, mit „stoischem Vergnügen“ beobachtete:
„Sie hat sich dem Herrenclub nicht aufgedrängt; sie hat es abgelehnt, die üblichen Vorstellungsgespräche bei den Akademiemitgliedern zu absolvieren; sie hat sich geweigert, ihre Kandidatur, was ebenfalls zum üblichen Akademieritual gehört, selbst anzumelden. Auch jetzt gibt sie keinen Kommentar. Sie kommt nicht als Bittstellerin. Sie lässt sich bitten und kommt als Fürstin. So hat sie schließlich, freizügig im Umgang mit Geld wie mit Leidenschaften, immer gelebt: im Bewusstsein geistigen Adels und im Bewusstsein, etwas Besonderes zu sein.“
Und weit mehr noch – meiner Meinung nach – kommt dieses Bewusstsein in dem kleinen, schmalen Roman mit seinem traurigen Ende zum Tragen denn in dem Werk, mit dem sie berühmt wurde, ihrer Biographie Kaiser Hadrians („Ich zähmte die Wölfin“). „Der Fangschuß“ ist eine Erzählung von Wölfen, die, obwohl gefangen in den Grenzen von Klasse und Kaste, nicht zähmbar sind – Leidenschaften, die nicht beherrschbar sind, Grausamkeiten, die im Krieg zu Tage treten. Yourcenar, der Freigeist, schrieb hier über tragisch Gefangene – ergreifend und unvergesslich.
Die Zeit stellte 2015 die wichtigsten Romane der aktuellen Literatur zusammen. Man habe die Weltliteratur durchforstet, leidenschaftlich diskutiert und sich für 15 Romane dieses Jahrhunderts entschieden, die die Redaktion für die besten hält, “für Meisterwerke, die bleiben werden und nicht mit dem Tag vergehen.” Die Redaktion ruft ausdrücklich zu Widerspruch und Diskussion auf – und weist fürsorglich darauf hin, dass “Unendlicher Spaß” bereits 1996 erschien.
Und das sind die Titel der Liste:
Jonathan Franzen – Die Korrekturen. Jan Brandt schreibt: “Wenn es einen Einwand gegen Franzen gibt, dann ist es diese ästhetische Rückwärtsgewandtheit: Er ist ein reaktionärer Idealist, der einen Feldzug gegen die Verlockungen des Informationszeitalters führt.” Beitrag: “Der analoge Triumph”
Jennifer Egan – Look at me. Der Roman erschien kurz vor 9/11 und handelt von einem geplanten Terrorakt in New York. “Mir kam der furchtbare Gedanke, dass ich eine Komplizin war”, äußert Jennifer Egan im Interview mit Susanne Mayer. Beitrag: “Ahnen, was passieren wird”
Orhan Pamuk – Schnee. “Orhan Pamuk hat sein Meisterwerk Schnee vor den Attentaten von 9/11 geschrieben, der Roman spielt in den 1990er Jahren, erschienen ist er 2002, und er nimmt vorweg, was seit dem Einsturz des World Trade Center die globalisierte Welt aus den Fugen hebt: dass der Fundamentalismus im Namen des Islams in die westliche Modernisierung eingewoben ist, noch im abgelegensten Nest der Provinz und dass der Staat kaum Antworten auf die Gewalt kennt, außer seinerseits durch Gewalt, Militär, Überwachung zu reagieren”, schreibt Elisabeth von Tadden. Beitrag: “K wie Kristall”
Daniel Kehlmann – Die Vermessung der Welt. Ulrich Greiner nimmt Stellung für das Buch: “Nein, Kehlmann war nicht dabei, und dies ist kein historischer Roman, sondern ein virtuoses Spiel mit Dichtung und Wahrheit. Die historischen Fehler, die dem Buch vorgeworfen werden, hat Kehlmann in poetischer Freiheit absichtsvoll eingebaut.” Beitrag: “Ein virtuoses ironisches Spiel”
Marie NDiaye – Drei starke Frauen. “Als ich das Buch vor acht Jahren schrieb, sprach noch niemand von den Flüchtlingen. Für mich waren sie Helden”, äußert die Schriftstellerin im Gespräch mit Iris Radisch. Heute würde sie dieses Buch nicht mehr so schreiben – auch wenn sie hofft, “dass seine Geschichten wahr bleiben.” Beitrag: “Eine Chiffre für das Fremdsein”
Péter Nádas – Parallelgeschichten. “Es gibt keinen anderen Autor, der mit dieser obsessiven Insistenz jede Pore der Epidermis untersucht hat, die dünne Membran zwischen innen und außen”, meint Michael Krüger. Und sagt: “Vielleicht lesen künftige Generationen dieses Buch als düstere Prophetie dessen, womit sie sich herumzuschlagen haben. Sie werden es nicht bereuen.” Beitrag: “Die Haut und das Ich”
Haruki Murakami – 1Q84. “Japanische Literatur wirkt auf den Außenseiter so klar und so verschlossen wie ein Zengarten, der bei aller Übersichtlichkeit doch einen Sinn hat, der sich ihm nicht erschließt”: Burkhard Müller versucht dem Sinn, im “Opus Magnum” des japanischen Starautors nachzuspüren. Beitrag: “Waisenkinder dieser Zeit”
Herta Müller – Atemschaukel. “Das Besondere an diesem Buch ist die Sprache, in der das Schicksal von Leopold Auberg, dem Alter Ego Pastiors, in 64 kurzen Kapiteln erzählt wird”, meint Alexander Cammann. “Denn Müller poetisiert das Grauen.” Beitrag:“Die Schönheit der Wörter, das Grauen der Lager”
Vladimir Sorokin – Der Schneesturm. Stefanie Schlamm sprach mit Sorokin über dieses Werk. Auf ihre Frage “Sie selbst werden gerne als moderner Klassiker bezeichnet. Doch sind Sie nicht eher ein düsterer Romantiker?” antwortet Sorokin ganz lapidar: “Dazu möchte ich nichts sagen.” Beitrag: “Das eisige Drama der Provinz”
Michel Houellebecq – Karte und Gebiet. Für den Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich ist der im Roman portraitierte Künstler, “der, gerade weil er als solcher unfasslich bleibt, viel provokanter als die Künstlerfiguren anderer Romane der letzten Jahre.” Beitrag: “Der Wahnwitz des Betriebs”
John M. Coetzee – Tagebuch eines schlimmen Jahres. “In Coetzees Tagebuch eines schlimmen Jahres kehren die früheren Möglichkeiten des Romans zurück. Der Ruhm des Nobelpreisträgers macht sie auf der großen literarischen Bühne salonfähig”, urteilt Stephan Wackwitz. Beitrag: “Die erneuerte Tradition”
Chimamanda Ngozi Adichie – Americanah. “Es passiert viel in diesem Roman, der auf drei Kontinenten spielt, doch es werden diese Blogeinträge sein, die Americanah seinen Nachhall bescheren. Sie sind ein Zeitdokument der Ära Obama, sie sind erhellend und unterhaltsam, ernüchternd und brutal”, urteilt Jackie Thomae. Beitrag: “Was Sie schon immer über Farben wissen wollten”
Karl Ove Knausgård – Sterben/Lieben/Spielen/Leben/Träumen. “Aber ich wollte mich mit Min Kamp auch befreien von diesen stilistischen Erwartungen. Ob es gut oder schlecht geschrieben ist, finde ich uninteressant. Interessant ist, was darin zum Ausdruck kommt. Also versuchte ich, schnell zu schreiben und unterhalb meiner eigenen Standards, dafür näher am Leben.” Der Norweger im Interview zu seinem Mammut-Schreib-Projekt. Beitrag: “Ein Bedürfnis nach Revanche”
Rainald Goetz – Klage. In diesem Buch, meint David Hugendick, lärmt die Gegenwart so oft, “dass es bisweilen kaum auszuhalten ist.” Aber der aktuelle Büchner-Preisträger lärmt halt besonders gut. AMORE! Beitrag: “Tiefenamputiertheit”
Roberto Bolaño – 2666. “Aber oh Wunder: Bolaño lesen, das gilt auch für das von Christian Hansen bewunderungswürdig übersetzte 2666, ist ganz leicht. Er verzichtet auf hochtrabende Stilistik und geht seinen Lesern nie mit überlegener Besserwisserei auf die Nerven”, meint Heinrich von Berenberg. D`accord! Beitrag: “Ästhet und Folterknecht”
„Sie aßen nun zusammen, und Brugnon zeigte nun eine ganz andere Haltung, ruhig, sanft. Man erriet, daß sich dahinter eine große Leere verbarg, aber die Fassade schien solide, als hätte sich Brugnons Schutzmantel plötzlich verhärtet und sei nun undurchdringlich. Es war kein Schleier, sondern ein Panzer. Brugnon war nicht geheilt, aber eingesperrt. Er sprach ruhig und es war zu spüren, dass er sein ganzes Leiden tief in sich vergaben hatte und davon nicht mehr sprechen, es schweigend in einer Ecke verenden lassen würde. Poussain sagte sich sehr wohl, dass das vielleicht noch schlimmer war, aber dennoch freute er sich, egoistisch und ermattet, wie er war, darüber, Brugnons Weinen und Klagen nicht mehr zu hören.“
Pierre Bost, „Bankrott“
Und wieder eine Pretiose aus dem Hause Dörlemann: „Bankrott“ ist einer der früheren Romane des literarischen Tausendsassas Pierre Bost. Wie „Ein Sonntag auf dem Lande“ (1945) – übrigens der letzte Roman, den Bost schrieb, dann wandte er sich bis zu seinem Tode 1975 dem Film zu und war als Drehbuchautor erfolgreich – liegt nun auch dieses Werk in einer Übersetzung von Rainer Moritz vor, die die melancholisch-schillernde Eleganz dieses Romanciers präzise trifft.
Die Tradition des “psychologischen Schreibens”
Wie andere französischen Schriftsteller steht Pierre Bost in der Tradition des psychologischen Schreibens, des Aufblätterns seelischer Vorgänge en détail – ohne jedoch dabei in ein den Leser meist anödendes „Psychologisieren“ zu geraten. Das Abtauchen in die Abgründe einer Seele erfolgt hier mit Stil, die „Anatomie eines Untergangs“ in elegantem Setting mit Champagner und Grandezza. Vom “Setting”, vom Flair weht uns noch ein Hauch “Fin de Siècle” an, und doch hält bereits auch die Moderne, die kalte, automatisierte Atmosphäre in diese Geschichte ihren Einzug:
„Oh, ihr Stenotypistinnen, um euch zu beschreiben, müsste man Worte verwenden, die nur für euch erfunden wurden. Der mechanische, kompliziert gebaute Körper, der den eurigen oberhalb eurer Fingernägel verlängert, hat eure weiblichen Formen verändert, eure Ellbogen zusammengepresst, aus euren Fingern Zorngeschrei hervorschießen lassen und hinter euren Köpfen eine offensichtliche Nackenlinie enthüllt. Die alten Floskeln, die man für Frauen, wie ihr keine mehr seid, verwendet hat, können euch nicht erfassen und umschreiben, aber auch die modernen Formeln, die dem Rhythmus der Maschinen und Hektik angepasst, diese Floskeln bei denen sich alle Sprachen der Welt ein Stelldichein geben, alle kurzlebigen Leidenschaften, alle eleganten Formen ohne Anmut, die uns heute gefallen, diese modernen Wörter, die man gern verabscheuen würde und die dennoch anziehend sind, auch die würden euch nicht angemessen beschreiben. Ihr seid eine verwirrende Mischung, ein hybrides Wesen, halb lebend, halb tot, halb Frau, halb Maschine.“
Aber auch Brugnon, der an sich und der Welt verzweifelnde Protagonist, ist ein Mensch der Zwischenzeit: Geprägt vom Berufsethos seines Vaters, übernimmt Brugnon dessen Handelsfirma und übernimmt sich dabei. Er, halb patriarchalischer Firmenleiter wie sein Senior, halb sich als modernen Manager sehend, kommt mit den Entwicklungen des Marktes nicht zurecht. Im Wunsch, die Firma, die Lebensmittelpunkt und Lebensinhalt ist, immer größer zu sehen, wachsen zu lassen, zu erweitern und an die Spitze zu treiben, lässt sich Brugnon auf Spekulationen und Fehlinvestitionen ein. Beinahe sehenden Auges treibt er in Konkurs – um diesen letzten Endes abzuwenden, fehlen dem bis dahin schon völlig apathischen Brugnon jegliche Widerstandskraft und Energie.
Nur vordergründig ein Roman über einen Bankrott
So hat Bost nur vordergründig einen Roman über einen wirtschaftlichen Bankrott geschrieben – es ist vor allem das Psychogramm eines Menschen, der einen seelischen Bankrott erleidet, der sein ganzes Leben falschen Werten, falschen Vorstellungen untergeordnet hat. Brugnons Leben spielt sich hauptsächlich zwischen den vier Wänden seines Büros (seine Wohnung wird im Buch nicht einmal tangiert) ab – das gibt ihm Sicherheit, das gibt ihm Gerüst. Vorstellungen wie die, einmal Urlaub zu machen, lehnt er entrüstet ab. Und die einzigen beiden Menschen, mit denen er eine engere Bindung unterhält, sind sein Sekretär Poussain (eher eine hierarchisch stark eingeschränkte Zweckgemeinschaft, Poussain wird als Seelentröster „missbraucht“) und die zu seiner langjährigen Geliebten Simone. Dies alles fällt in sich zusammen, als Brugnon in einer einseitigen „amour fou“ für die junge, kühle Stenotypistin Florence entbrennt. Die Zuneigung wird nicht erwidert, Brugnons mühsam errichtetes Lebenskartenhaus bricht zusammen. Dem Gefühl, eine wahre Leidenschaft zu erleben, hält er nicht stand.
„Poussain hätte gern etwas gesagt, aber wie sollte diese Flucht begreifen, dieses Verschwinden von Brugnon, der um sich herum nichts als Schranken aufbaute? Es schien so, dass ihn die Worte nicht erreichten und von einem harten, unsichtbaren Panzer abprallten, der von Minute zu Minute stabiler wurde. Poussain sah Brugnon, wie man im Traum diejenigen sieht, die sich entfernen, entfernen, von einem Fluss hinweggetragen, schon so weit weg, dass ihre Schreie gar nicht mehr ankommen, ihre Gesten vergeblich sind, dass man nicht einmal mehr weiß, ob sie in Lebensgefahr sind und rufen, da alles von nun an unvermeidlich und leicht ist, in einer ruhigen und verzweifelten Welt.“
Bost zeigt sich als ein feiner, feinfühliger Zeichner von Charakteren und Seelenregungen. Auch die – heute vielleicht altmodisch erscheinenden – Liebestaten und Handlungen von Simone, der Geliebten, die sich körperlich verweigert, aber dem langjährigen Freund und Vertrauten eine selbstlose Treue erhält, werden so selbstverständlich und nachvollziehbar:
„In ihr war nicht mehr genügend Kraft, dass sie sich anderem als ihrer eigenen Qual hätte zuwenden können. Es schien ihr nun, dass sie genug Leid angehäuft hatte, wie bei einem Schatz, mit dem man, ums sich verdientermaßen zu erholen, endlich allein sein will, um diesen Reichtum zu zählen. Sie wollte fliehen, weit fortgehen, ohne Brugnon.“
„Das Schicksal des alle Energie verlierenden Brugnon darf man als psychologisches Kabinettstück lesen, das die Zerrissenheit eines eindimensionalen Menschen aufzeigt. Die Art und Weise, wie Bost diesen glücklosen Unternehmer zeichnet, hat freilich auch mit der Zeit zu tun, in der Bankrott spielt. In kleinen Exkursen (…) zeigt Bost, wie der technische und wirtschaftliche Fortschritt in die Psyche der Akteure eingreift.“
Brugnon, der sich in einer Tradition von Unternehmern sieht, die sich „hocharbeiteten“, die Fleiß und Energie als wichtigste Grundlagen des Erfolgs werten, sieht sich vom Zeitalter der Maschinen überrollt: Sowohl der Markt als auch das Leben sind durch eigenes Handeln nicht mehr lenkbar. Der wirtschaftliche Niedergang geht mit dem seelischen Zusammenbruch einher: heute würde man von einem klassischen Burnout sprechen.
Informationen zum Buch:
Pierre Bost Bankrott Übersetzt von Rainer Moritz Dörlemann Verlag, 2015 ISBN: 9783038200185
Ausgegrenzt und voller Hass: In “Arab Jazz” wirft Karim Miské einen Blick auf die Jugendlichen in den Banlieues von Paris. Ein Krimi als Gesellschaftsanalyse.
Bild: (c) Michael Flötotto
Wer etwas über die innere Befindlichkeit einer Gesellschaft erfahren möchte, ist mit Kriminalliteratur nicht schlecht bedient. Wenn sie denn auch noch so hervorragend flüssig geschrieben ist wie das Romandebüt des Journalisten und Filmemachers Karim Miské. Bereits ab 2006 arbeitete der Pariser, Sohn eines Mauretaniers und einer Französisin, an “Arab Jazz” (was den deutschen Verlag dazu verleitete, diesen eingängigen Titel, der bei den meisten Übersetzungen beibehalten wurde, durch “Entfliehen kannst du nie” zu ersetzen, das weiß der Himmel). Und beschrieb darin, was Frankreich seither immer wieder erschüttert: Die Gewalt islamistischer Attentäter.
Zustandsbeschreibung eines zerrissenen Landes
Ein Einwanderer mit psychischen Problemen, die bestialisch ermordete Tochter strenger Zeugen Jehovas, Jungs, die Salafisten in die Hände geraten, junge Frauen, die auf jüdisch-orthodoxe Weise an Fremde verheiratet werden sollen, korrupte, rassistische Polizisten sowie ein originelles, intellektuelles Ermittlerpaar: Diese Gemengelage nutzt Miské nicht nur für eine rasant daherkommende Handlung mit überraschenden Wendungen, sondern auch, um einen glasklaren Blick auf den Zustand des modernen Frankreichs zu zeigen.
Hass, Brutalität, Orientierungslosigkeit – da trifft die Verführungskunst orthodoxer Prediger auf offene Gemüter. Denn eine ganze Generation wird ausgeschlossen und vernachlässigt, steht außerhalb. Das wird allerdings nicht mit erhobenem Zeigefinger erzählt, sondern in einen raffinierten Plot verkleidet, stilistisch sind deutliche Anklänge bei Ellroy zu erkennen (der Titel “Arab Jazz” ist eine Hommage an den US-Amerikaner und dessen Roman “White Jazz”, was von Weißen verursachter Trubel bedeutet). Aktueller können die Bezüge kaum sein – so wenn die Kommissarin, Tochter weißrussischer Einwanderer, auf den älteren Kollegen, “eingeborener” Franzose trifft, dann ist sie “charlie”:
“Ekelhaft. Der Kerl ist einfach nur ekelhaft. Allein sein Anblick weckt in ihr das Bedürfnis nach einer Dusche. Er ist einer von den ewig Gestrigen – fett, aber muskulös, ein verbitterter Rassist, überzeugter Macho und verbissener Schwulenhasser. Und natürlich Antisemit, vor allem wohl deshalb, weil man ihn mit seinem elsässischen Nachnamen oft für einen Juden hält. Wenn sie ihm gegenübersteht, lässt Rachel unwillkürlich die engelsgleiche Antirassistin heraushängen, oder sie gibt sich als Wachhündin und Abonnentin der Satirezeitschrift Charlie Hebdo.”
Miské zeigt, wie Jugendliche aus Einwandererfamilien – egal ob zuhause der Islam gepredigt oder die Thora gelesen wird – zunächst eben durchaus wie in einem “melting pot” zusammenleben, bis die Ereignisse Fronten schaffen und einige in die Radikalität, andere in die Kriminalität treiben. A lost generation. Das alles, wenn auch etwas brutal, rasant, temporeich und äußerst unterhaltsam geschrieben von einem, der die Lebensumstände dieser Generation kennt: Miské arbeitete an einer Langzeit-Filmdokumentation über die Fundamentalistenströmungen in Frankreich, als er mit dem Buch begann.
Bibliographische Angaben:
Karim Miské Entfliehen kannst du nie (Arab Jazz) Übersetzt von Ulrike Werner-Richter Bastei Lübbe, 2014 ISBN: 978-3404168729