Erich Maria Remarque: Arc de Triomphe

“Arc de Triomphe”: Der Roman (1945) von Erich Maria Remarque brachte Edgar Hilsenrath wieder zum Schreiben. Und mich nach Paris.

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Bild von Emanuela Puscasu auf Pixabay

„Es war da etwas in ihn hineingeschlichen, auf das er nicht geachtet hatte. Regte es sich da wieder? Bewegte es sich? Wie lange war das her? Rief da nicht schon wieder etwas aus der Vergangenheit, aus blauen Tiefen; wehte es nicht bereits wie ein Hauch von Wiesen, voll von Pfefferminz, einen Pappelreihe am Horizont, der Geruch von Wäldern im April? Er wollte es nicht mehr. Er wollte es nicht besitzen. Er wollte nicht besessen werden. Er war unterwegs.

Er stand auf und begann sich anzuziehen. Man mußte unabhängig bleiben. Alles begann mit kleinen Abhängigkeiten. Man achtete nicht darauf – und plötzlich hing man im Netz der Gewohnheit. Gewohnheit, für die es viele Namen gab – Liebe war eine davon. Man sollte sich an nichts gewöhnen. Nicht einmal an einen Körper.“

Erich Maria Remarque, „Arc de Triomphe“


Es gibt Bücher, die liebt man einfach, die packen einen an den Sinnen, die begleiten einen durch das ganze (oder halbe) Leben – ganz egal, was man später über sie liest und ob Legionen von Feuilletonisten und Literaturwissenschaftler ihre Näschen rümpfen.

Eines davon ist für mich „Arc de Triomphe“ von Erich Maria Remarque. Als ich die Büchergilde-Ausgabe meiner Eltern so mit 16, 17 Jahren aus dem Regal zog, wusste ich nach den ersten Kapitel sofort: Ich will nach Paris. Und ich will Calvados trinken. Gesagt, getan. Und auch heute noch überkommt mich beim gelegentlichen Wiederlesen dieses Romans – der sich alle fünf, sechs Jahre zwischen die Neuerscheinungen schmuggelt – dieses bestimmte Gefühl, diese November-Nebel-Paris-Melancholie, der man am besten mit einer Kurzreise und/oder einem geistigen Getränk samt einer Gauloises begegnet.

Liebe am Vorabend des Weltkriegs

Von der Literaturkritik wurde Remarque, der mit „Im Westen nichts Neues“ einen der weltweit am meisten verkauften Romane deutscher Literatur schrieb, immer etwas kritisch behandelt: Zu nah am Kitsch, zu viel Sentiment, zu trivial. In Teilen trifft dies durchaus auch auf „Arc de Triomphe“ zu, im Grunde ein etwas kitschiger Liebesroman, angesiedelt im Jahr des Kriegsausbruchs in Paris. Dort treffen, am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, Menschen aus allen Herren Länder aufeinander: Flüchtlinge aus deutschen Konzentrationslagern und Gestapo-Spitzel, Versprengte des spanischen Bürgerkrieges, Juden auf der Flucht, Glücksspieler und Glückssuchende, Verzweifelte, Lebensmüde und ganz pragmatische Kleinbürger.

Ravic – im Grunde wie Remarque eigentlich ein unpolitischer Typ – ist als Fluchthelfer gefährdeter Freunde in die Fänge der Gestapo geraten. Er kann entkommen, seine Geliebte erhängt sich in einem KZ. In Paris hält sich der Mediziner durch gelegentliche Operationen über Wasser, lebt ansonsten versteckt, einsam und ohne Papiere in einem Hotel, das Flüchtlingen Unterschlupf bietet. Ihm kommt diese erzwungene Einsamkeit jedoch zupass – Besitz, so heißt es im Buch immer wieder, ist Ballast bei einem Leben auf der Flucht. Und Beziehungen und Bindungen machen verletzlich – bis der Zufall ihm Joan förmlich vor die Füße spielt: Eine Frau, nicht besonders schön, nicht besonders klug, aber – obwohl sie sich im Moment des Kennenlernens in die Seine stürzen will – mit einem enormen Lebenshunger und Anziehungskraft ausgestattet. „Ein Luder“, urteilt der weise russische Nachtclubportier, ein Freund Ravics. Es kommt, wie es kommen muss. Die gemeinsame Zeit ist begrenzt, dem Paar nur einige sonnige Tage an der Riviera vergönnt, doch schon da liegt die Ahnung von Abschied in der Luft.

„Er vergaß Joan. Er vergaß sich selbst. Er öffnete sich einfach dem klaren Tage, diesem Dreiklang aus Sonne, Meer und Land; der eine Küste blühen machte, während die Bergwege darüber noch voll Schnee lagen. Über Frankreich hing der Regen, über Europa brauste der Sturm – aber diese schmale Küste schien von all dem nichts zu wissen. Sie schien vergessen zu sein; das Leben hatte noch einen anderen Puls hier; und während das Land hinter ihr schon grau vom Nebel der Not, der Vorahnung und der Gefahr, schien hier die Sonne, und sie war heiter, und in ihrem Leuchten sammelte sich der letzte Schaum einer sterbenden Welt.“

Als Ravic sich auf ein Leben mit ihr einzulassen beginnt, verlässt sie ihn – ohne ihn jedoch ganz zu lassen. Zwischen den beiden steht zu viel Vergangenheit (auch in Person des Gestapo-Folterers, den Ravic in Paris wieder trifft und ermordet) und zu wenig Zukunft.

Roman mit kleinen Ausrutschern ins Klischee

Man sieht: Auch in diesem 1945 veröffentlichten Roman spart Remarque nicht mit Klischeefiguren. Der einsame Wolf, das blonde Luder, der russische Portier mit großem Herzen, der Nazi mit den feisten Händen und Trinkeraugen – sie alle haben ihren Auftritt. Und dennoch mag ich an diesem Roman nicht kritteln und nicht rütteln lassen. Mag er auch seine kleinen Schwächen haben – am Ende bleibt einfach ein starker, großer Eindruck zurück.

Remarque wurde nicht von ungefähr oft auch als „deutscher Hemingway“ bezeichnet. Die Ähnlichkeiten liegen auf der Hand: Starke Dialoge, oftmals lakonisch in der Sprache, gebrochene Helden, die Liebe in Zeiten politischen Irrsinns. Und auch: Ganz unverhohlen romantisch, auf eine schöne Art und Weise. Weil sich insbesondere „Arc de Triomphe“ für mich mit ganz starken persönlichen, sinnlichen Eindrücken – der Geschmack von Calvados, die Seine an einem Novembertag – verbindet, liebe ich dieses Buch umso mehr.

Und weil ich das Buch so sehr liebe, habe ich mich gefreut, darüber bei und von Edgar Hilsenrath zu lesen, für den “Arc de Triomphe” eine ganz besondere Bedeutung hat:

„Um auf mein Schreiben zurückzukommen: Ich hatte die Schriftstellerei ganz aufgeben und war damit beschäftigt, meine Depressionen zu pflegen. Im Sommer 1950, ich war gerade vierundzwanzig, traf ich einen deutschjüdischen Emigranten. Er gab mir Erich Maria Remarques “Arc de Triomphe”. “Das ist der Autor von Im Westen nichts Neues”, sagte er. Lesen Sie mal den “Arc de Triomphe”. Ich las das Buch und war begeistert wie nie zuvor von einen Roman. Hier war jemand, der wirklich schreiben konnte. Alles stimmte, die Handlung, die genau eingefangene Atmosphäre, die Dialoge und die erzählerische Spannung. Ich war wie berauscht. Plötzlich hatte ich wieder Lust, selbst zu schreiben, und dabei dachte ich an meinem Ghettoroman, den ich angefangen hatte.“
(Quelle: TEXT + KRITIK, Heft 149, “Lesen Sie mal den Arc de Triomphe”)

Darauf ein Calvados!

Victoria Wolff: Die Welt ist blau

“Die Welt ist blau”: Eine charmante Sommerromanze der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Victoria Wolff vor ernstem Hintergrund.

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Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Es ist auch schön, hier zu sein in diesem beglückenden Nest, die Blumen zu sehen, die leuchtender scheinen im Regen, und die Düfte zu schmecken, die würziger geworden sind durch ihn. Hier ist ein verwittertes altes Haus und dort ein umwachsener Bogen mit Ausblick auf den See; da ein Malerwinkel und hier ein Zaubergarten. Und alles ergänzt und überschneidet sich auf eine leichte und beglückende Weise.
Peter, der schwere Mann, wird selbst leichter und schneller dadurch. Er sinnt, ob nicht das Künstlerische, das seinem Wesen fehlt, hier zu finden wäre.
Unten im Obstgeschäft auf der Dorfstraße hängt die Ananas, die er sich wünscht. Er betrachtet diese vollkommene Frucht, die, ehe sie ihm übergeben wird, in eine sorgsame Hülle gepackt wird.
Sie ist wie Ursula, denkt er, Stacheln verdecken von außen die innere Süße.“

Victoria Wolff, „Die Welt ist blau“


Geradezu spiegelverkehrt verhält sich dieser „Sommer-Roman aus Ascona“ zu Ursula und zur Ananas: So luftig-federleicht kommt er daher, so spielerisch-elegant die Sprache mit ihren Dialogen (die an die Tradition der Screwball-Komödie erinnern), dass man Gefahr läuft, in Blau zu schwelgen – und die dunkleren Pinselstriche, die Victoria Wolff ihrem Sommergemälde gab, zu überlesen.

Friederike Albat fühlte sich in ihrer Rezension in der „Madame“ nicht von ungefähr an Tucholskys Schloss Gripsholm erinnert: Ein charmantes Buch voller Witz und Leben. Doch die blaue Welt entfaltet sich vor düsterem Hintergrund: Der Roman spielt 1933 – im Jahr von Hitlers Machtergreifung, im selben Jahr, in dem die deutsch-jüdische Schriftstellerin Victoria Wolff den Weg in die Emigration wählt.

„Angewidert von den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, welche die Machtübernahme der Nationalsozialisten begleiteten, hatte sie ihre Geburts- und Heimatstadt Heilbronn am 1. April 1933 verlassen und war gemeinsam mit ihren Kindern, der sechsjährigen Ursula und dem vierjährigen Frank, nach Ascona im schweizerischen Tessin emigriert“, erläutert Anke Heimberg, Herausgeberin der Werke von Victoria Wolff und Lili Grün beim AvivA Verlag, in ihrem Nachwort.

Klug und unterhaltsam

Auch wenn die Schweiz noch nahe der Heimat war und sich die materielle Lage der Wolffs (zunächst) wohl nicht so belastend gestaltet hatte wie die anderer Flüchtlinge: Erstaunlich ist es dennoch, wie schwungvoll-leicht dieser im Exil entstandene Roman wirkt, wie (scheinbar) unbelastet von den aktuellen Geschehnissen dieser Zeit, wie klug und unterhaltsam es Victoria Wolff vermochte, alle Farbschattierungen in ihrer charmanten Sommererzählung zu verweben.

Peter, der strebsame, ehrgeizige und zuweilen etwas zu konservative Anwalt und die freigeistig-temperamentvolle Ursula – dazu erzogen, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen und Konventionen nicht der Konvention willen anzuerkennen – dies durchaus also sehr unterschiedlich getaktete Pärchen schenkt sich Ferien, fährt ins Blaue.

Es herrscht beschwingte Urlaubsstimmung, eine Ahnung von grenzenloser Freiheit liegt in der Luft – eine „kleine“ Flucht aus dem Alltag, Rückkehr vorgesehen. Nur zwischen den Zeilen lässt Victoria Wolff anklingen, dass die Verhältnisse dort, im „Tiefland“, „Primitivland“, wie Ursula Deutschland bezeichnet, keine angenehmen mehr sind.

Irrungen und Wirrungen zweier Verliebter

Im Vordergrund des Buches steht die Paarbeziehung der beiden. Die sind über die erste Verliebtheit hinaus, sich aber dennoch noch fremd und daher unsicher, ob sich da wirklich der passende Topf und Deckel gefunden haben. Urlaub ist schon seit jeher ein geeigneter Beziehungstest und so lassen die Wirrungen und Irrungen nicht lange auf sich warten: Peter wird von einer forschen Berlinerin becirct, die ihm jedoch insgeheim eher Angst macht. Ursula, die Skeptikerin, lässt sich eher aus Trotz und Neugier kurz von einem fadenscheinigen Magier bezaubern. Die erste Krise lässt nicht lange auf sich warten:

„Du weißt, daß ich dich gerne habe, Peter, und du mußt dieses Wissen so in dir verankern, daß du mir meine kleinen Scherze ganz ohne Bitterkeit gönnst. Ich brauche diese Freude am Spiel; ich werde sie immer brauchen.
Peter säubert schweigend seine Brille mit einem Taschentuch.
„Man kann den Problemen am besten aus dem Wege gehen, Peter, indem man schweigt, aber gelöst werden sie auf diese Weise noch lange nicht.“
„Das nenne ich kein Problem, Ursula, das nenne ich schlechtes Benehmen.“
„Glücklicherweise ist die deutsche Sprache so reich, daß sie für alle Vorkommnisse des täglichen Lebens zwei Begriffe hat.“
„Man kann mit dir heute nicht reden, Ursula.“
„Ich glaube eher, man kann heute mit dir nicht reden, Peter.“
„Gute Nacht also, Ursula, schlaf gut.“
„Gute Nacht also, Peter. Natürlich schlafe ich gut, erst recht schlafe ich gut.“
Zu ist die Türe, die Stiefel fliegen in die Ecke, die Kleider wohin sie wollen.

So viel sei verraten: Selbstverständlich gibt es ein Happy End, findet das Paar wieder – und besser – zusammen.

„Die Erde gleicht einer liebenswürdig grün und blau gekleideten Prinzessin, und das hoffnungsreiche Leben, von heiteren Aussichten sprudelnd und schäumend, schwebt wie ein ungebundener, schöner Tänzer, der weder Kummer und Sorgen kennt, frei daher.“

Für Victoria Wolff und die Schweiz jedoch gab es dieses glückliche Ende nicht: Dort, wo Peter und Ursula Urlaub machen und sie selbst ab 1933 eine neue Heimat gefunden hatte, durfte sie nicht bleiben. 1939 wurde sie mit ihren Kindern ausgewiesen, weil sie gegen die Auflage verstoßen hatte, die ihr journalistisches Arbeiten verbot.

Anke Heimberg im Nachwort:

„Trotzdem dachte Victoria Wolff im US-amerikanischen Exil, wohin sie und ihre Familie sich 1941 mit Hilfe von FreundInnen und Verwandten hatten flüchten können, stets gern und voller Sehnsucht an die Jahre in Ascona zurück. Das sture, hartherzige Verhalten der Schweizer Behörden vermochte ihre Erinnerung an die von ihr als überaus reich und beglückend erlebte „himmelblaue“ Zeit im Tessin nicht zu trüben. So oft es später ihre regelmäßigen Europa-Reisen erlaubten, suchte sie Ascona auf, um dort noch einmal etwas von diesem Traum, dem von ihr immer wieder beschworenen „seelischen Zustand“ von damals wiederzufinden. Victoria Wolff starb 1992 im Alter von 88 Jahren in Los Angeles.“

Mag kann, ja man muss sich einfach in diese charmante Sommer-Romanze verlieben. Man kann die Beziehung jedoch auch noch vertiefen, der Leichtigkeit neue Dimensionen abgewinnen – durch das umfassende und informative Nachwort von Herausgeberin Anke Heimberg, die die Romanze in den politischen Kontext einordnet, aufzeigt, wo Victoria Wolff Bezug nimmt auf das Regime, das in Deutschland wütete. Zudem lässt  Heimberg das sommerliche Ascona und den legendären Monte Verità beinahe wieder lebendig werden, beschreibt, wie der Ort vom Fischerdorf zu einem Anziehungspunkt für die Lebensreformer und Lebenskünstler wurde und welche Faszination er insbesondere auf die Berliner Bohème ausübte.

Ebenso werden Bezüge zwischen den Figuren des Romans und Menschen aus Victoria Wolffs Umfeld deutlich – sie hatte sich in Ascona unter anderem mit Erich Maria Remarque, Ignazio Silone und Tilla Durieux angefreundet. Die extravagante Schauspielerin mit dem großen Herzen ist unverkennbar die Vorlage für die Berliner Sirene, die den braven Peter in kurze Verwirrung stürzt.

Victoria Wolff schrieb bereits 1931 in der Heilbronner „Neckar-Zeitung“ über Ascona:
„Aber Ascona ist und bleibt Insel in Europa, Insel der Glücklichen (…), der Geistigen (…) und der Weltlichen (…) über allem lacht ohne Ermüdung eine milde Sonne, in der sich die Palmen und Kastanien, Menschen und Gedanken, Wellen und Intrigen sachte bewegen.“

Ach … Ascona! Heute natürlich auch nicht mehr das … möchte man phrasengleich anschließen. Und dennoch: Wen nach diesem Roman nicht die Lust packt auf ein paar „blaue“ Tage, vielleicht auch auf einen kleinen Urlaubsflirt, wer weiß, jedenfalls auf Fahrten ins Blaue, blauen Himmel und eine blaue Welt, dem ist einfach nicht zu helfen.


Bibliographische Angaben:

Victoria Wolff
Die Welt ist blau
AvivA Verlag
ISBN 978-3-932338-89-7

Ernst Glaeser: Jahrgang 1902

Als „Jahrgang 1902“ erscheint, ist Glaeser erst 26 Jahre alt. Das Debüt wird aus dem Stand zum Erfolg. Es traf den Nerv einer traumatisierten Generation.

„Pfeiffer sammelte weder Granatsplitter, noch klebte er auf die Flaschen die Photos der Generäle. Pfeiffer hatte auch keine Landkarte, auf der er die Front absteckte, nicht einmal ein schwarz-weiß-rotes Abzeichen oder einen Stempel: „Gott strafe England!“ Statt dessen machte er Botengänge, kehrte manchen Bürgern Samstags die Straße und verdiente damit monatlich 3,50 Mark, die er seiner Mutter genau ablieferte. Der zwölfjährige Junge war Zivilist, wir spürten das, ohne es formulieren zu können – deshalb verprügelten wir ihn. Er überwand diese Prügel, indem er sie aushielt.“

Ernst Glaeser, „Jahrgang 1902“

Heranwachsende zwischen den Fronten, Kinder, die andere Kinder als Zivilisten bezeichnen, deren kindliche Spiele Krieg statt Frieden simulieren, die sich zunächst in den Ferien mit französischen Gleichaltrigen wortlos verstehen können und dann ebenso wortlos anfeinden müssen, deren erste Liebe von Bombensplittern zerfetzt wird: Mit diesem Psychogramm einer Jugend in Deutschland wurde Ernst Glaeser in der Weimarer Republik, der Zwischenkriegszeit, zum literarischen Star. Anders als bei den ebenfalls in diesen Jahren erschienenen Romanen von Erich Maria Remarque und Arnold Zweig steht nicht der Frontsoldat im Mittelpunkt, beschrieben wird, ähnlich wie in Georg Finks „Mich Hungert“ die Generation, die mit dem Krieg aufwuchs, zu jung für die Front, doch bereits auch zu alt, um wegzusehen – eine „lost generation“, der „Jahrgang 1902“.

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Bild von Michael Gaida auf Pixabay

Auch der Autor selbst gehört zu dieser verlorenen Generation, zu den Orientierungslosen, im Geiste Wurzellosen – dazu jedoch später mehr. Als „Jahrgang 1902“ erscheint, ist Glaeser (1902-1963) gerade mal 26 Jahre alt und trat zuvor nur mit einigen wenigen Dramen hervor. Der Debütroman wird jedoch aus dem Stand zum Sensationserfolg – bis Ende 1929 erreicht er eine Gesamtauflage von 200.000 Stück und wird in über 20 Sprachen übersetzt. Ein Bestseller, ähnlich wie „Im Westen nichts Neues“, der offenbar den Nerv ganzer Massen trifft.

Der fatale Glaube an Gott und Kaiser

Erzählt wird die Geschichte eines Jungen, der in behüteten Verhältnissen in der Wilhelminischen Zeit aufwächst. Christian Klein, Akademischer Rat im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal, der nun für den Wallstein Verlag die Neuherausgabe des Buches besorgt hat, vermutet in seinem kenntnisreichen Nachwort wohl nicht von ungefähr, dass „Glaeser in ähnlichen Verhältnissen wie der Protagonist in seinem Roman Jahrgang 1902 aufwächst: Bürgerlich-konservativer Wohlstand und der Glaube an die Autorität von Kaiser und Vaterland dürften den jungen Glaeser zuhause umgeben haben.“ Und Glaeser selbst schreibt über sein Buch:

„Meine Beobachtungen sind lückenhaft. Es wäre mir leicht gewesen, einen ‘Roman’ zu schreiben. Ich habe mit diesem Buch nicht die Absicht zu ‘dichten’. Ich will die Wahrheit, selbst wenn sie fragmentarisch ist wie dieser Bericht.”

Scheinbar also in der hessischen Provinz nichts Neues, die konservativ-autoritäre Vaterfigur, die Mutter, weltflüchtend in die Lektüre von Hugo von Hofmannsthal. Doch die bürgerliche Ordnung birgt ihr dunklen Seiten und zeigt Risse: Das Buch beginnt mit der Schikane eines jüdischen Schulkameraden durch einen schmissigen Lehrer, aufgezeigt werden ebenso die Nöte und die Armut der Arbeiterfamilien, der Weltekel eines weltoffenen Adeligen, der am Provinzialismus und Militarismus seiner Klasse erstickt, die Obrigkeitshörigkeit und Dumpfheit der Konservativen ebenso wie die Verfolgung von Menschen, die sich für die Rechte der Arbeiter einsetzen.

Der Krieg, das sind die Eltern

Glaeser streift die Grundzüge der Gesellschaftsordnung: Antisemitismus, Furcht vor dem Sozialismus und eine konservativ-kaisertreue Klasse, die, bereits am Ende, ihr Heil im Krieg sieht. Dazwischen die Jugendlichen, die in dieser Welt ihre Orientierung suchen. Der Protagonist ist das beste Beispiel für einen sensiblen Jungen auf der Suche nach einem Vorbild, einem Halt. Berührungspunkte gibt es zu den verschiedensten Welten – zu Leo, dem jüdischen Freund, der bald verstirbt, zu Ferd, dem Adelsspross, zu August, dem Arbeitersohn. Gaston, ein Franzose, den er bei einem Kuraufenthalt in der Schweiz kennenlernt, äußert schließlich den entscheidenden Satz, der dem Buch auch als Zitat vorangestellt ist:La guerre, ce sont nos parents.

„Jene schon zu Friedenszeiten innerlich längst in Auflösung begriffenen, nach außen aber umso lauter propagierten Werte und Ideale, auf die man gerade im Ernstfall hätte bauen können sollen, verloren angesichts der Herausforderungen des Krieges gänzlich ihre Tragfähigkeit. Die Welt der Eltern erschien als Welt der leeren Versprechungen und verlogenen Phrasen“, schreibt Christian Klein in seinem Nachwort.

Vielmehr jedoch wird die Welt der Eltern zur Welt der Verheerungen:

„Es war Abend, als ich nach Hause kam. Ich war sehr erregt und konnte nichts essen. Mutter war auf einer Wohltätigkeitsveranstaltung für „unsere Feldgrauen im Osten“, ich saß allein und wußte nicht, wie ich meine Mathematikaufgaben für den nächsten Tag fertigbringen sollte. Die Begegnung mit dem toten Soldaten hatte mir jede Sicherheit geraubt. Ich sah sein Gesicht, den verkrampften Mund und mußte plötzlich an Pfeiffer denken. Ich beschloß, zu ihm zu gehen und ihm die Geschichte mit den Pferden und dem Sergeanten zu erzählen. Dauernd hörte ich die Stimme des Urlaubers: „Der sieht aus, als sei er in der vordersten Linie gefallen…“ Sahen die alle so aus, die dort fielen? Sah so der Heldentod aus? Ich hatte ich ihn mir bisher als etwas Schönes vorgestellt.“

Erich Maria Remarque über das Buch

Der Wallstein Verlag zitiert auf seiner Homepage Erich Maria Remarque zu „Jahrgang 1902“:
„Die Schärfe des Blicks in diesem Buch ist außerordentlich, aber noch überraschender ist, daß eine so hart und klar gesehene Arbeit dennoch Wärme und Zartheit hat, daß sie wunderbar lebendig ist, und daß nie, trotz aller Unerbittlichkeit, das Knochengerüst der Gedanken sich durchscheuert. Die Fülle ist hier nicht eine Angelegenheit der Phantasie, sondern des Auges. Das Buch Glaesers ist nicht nur literarisch wertvoll, sondern bedeutend mehr: es ist zeitgeschichtlich wichtig.“

Das Dokument einer verlorenen Jugend

So ist dieses Buch auch heute noch zu lesen: Als Zeitdokument, als Dokument einer verlorenen Jugend. Und – wer die historischen Umstände zu abstrahieren vermag – kann in dieser Adoleszenz-Geschichte durchaus auch Fingerzeige für die Gegenwart entnehmen, herauslesen, wie aus jugendlicher Zerrissen- und Verlorenheit Mitläufertum oder gar Radikalismus entstehen können. Denn Ernst, obwohl voller Empathie für die Schwächeren, kann sich auch der Anziehung der braungefärbten Dumpfen nicht entziehen, der Protagonist bleibt ein Fähnchen im Wind. Unsentimental – so durchaus auch ein zeitgeschichtliches Prädikat, das dem Roman zugeordnet wurde – ist das Buch nicht. Dazu sind Autor und Protagonist zu sehr auch in der eigenen Welt gefangen, durchaus auch selbstbemitleidend im Ton, durchaus zu indifferent in der Haltung – kritiklos kann der Roman auch heute nicht gelesen werden.

Letztendlich ist dieses Schwanken auch ein Hinweis auf die spätere, wechselvolle Biographie des Autoren:

„Sich selbst und seine Generation, die im Jahr 1902 Geborenen, hatte er als orientierungslose, verlorene Zwischengeneration beschrieben, ohne Halt und Haltung, zu Kriegsbeginn zwölf Jahre alt, am Ende sechzehn“, so Volker Weidermann in „Das Buch der verbrannten Bücher“. „Das Meisterliche an Glaesers Buch ist diese radikale Position, das jämmerliche Leiden und Selbstbemitleiden eines Einzelnen glaubhaft als Generationenphänomen darzustellen. (…) Als Buch war das groß. Im Leben war es lächerlich und armselig, in der einmal konstatierten Falle der Standort- und Überzeugungslosigkeit zu verharren.“

Anbiederung an die Nationalsozialisten

Sowohl bei Weidermann als auch im Nachwort von Christian Klein zu „Jahrgang 1902“ wird dieses Verharren respektive Schwanken Glaesers gut umrissen – vom etablierten Literaten über den revolutionären kommunistischen Schriftsteller, dessen Bücher verbrannt werden, zum wurzellosen Emigranten bis hin zum Rückkehrer, der sich den Nationalsozialisten anbiedert und schließlich Schriftleiter einer Frontzeitung der Luftwaffe wird.

Vor allem Ernst Glaeser gelten die Worte von Erika und Klaus Mann in ihrem Buch über die deutsche Kultur im Exil, „Escape to life“:
“Denn die Emigration ist kein Club, dessen Mitglied zu sein am Ende nicht viel bedeutet. Sie ist Verpflichtung und Schicksal; sie ist eine Aufgabe, und keine leichte. Diese Emigranten sind seltsame Leute. Sie wollen keinen in ihrer Mitte haben, der, kokett und verschlagen, sentimental und geschäftstüchtig, auch „nach der anderen Seite“ blinzelt. Einen solchen stoßen sie aus ihrer Mitte. Wohl ihm, wenn er nun noch einen Platz findet, wo er sein Haupt betten kann, das wir nicht einmal mehr mit den Spitzen unserer Finger berühren möchten.“

Glaeser bettete sich erneut ein im Nationalsozialismus. Doch ob er gut geruht hat, ist eine andere Frage.

Informationen zum Buch:

Ernst Glaeser
Jahrgang 1902
Wallstein Verlag, 2013
ISBN 978-3-8353-1336-1

Irmgard Keun: Kind aller Länder

“Kind aller Länder” und “D-Zug dritter Klasse”: Zwei schwächere Romane von Irmgard Keun. Fast scheint es, als habe sie in der Emigration ihre Stimme verloren.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Wir haben so viele Gefahren, das alles ist so schwer zu verstehen. Vor allem muss ich lernen, was ein Visum ist. Wir haben einen deutschen Pass, den hat uns die Polizei gegeben. Ein Pass ist ein kleines Heft mit Stempeln und der Beweis, dass man lebt. Wenn man den Pass verliert, ist man für die Welt gestorben. Man darf dann in kein Land mehr. Aus einem Land muss man `raus, aber in das andere darf man nicht `rein. Doch der liebe Gott hat gemacht, dass Menschen nur auf dem Land leben können. Jetzt bete ich jeden Abend heimlich, dass er macht, dass Menschen jahrelang im Wasser schwimmen können oder in die Luft fliegen.“

Irmgard Keun, „Kind aller Länder“, 1938


Der Pass, nach Brecht edelster Teil des Menschen, ein immer wiederkehrender Gegenstand in der Exilliteratur. Verzweifelt warten beispielsweise die Protagonisten in „Transit“ (Anna Seghers) oder „Die Nacht von Lissabon“ (Erich Maria Remarque) auf Papiere: Einen Pass, ein Visum, eine Bordkarte. Sie ermöglichen die Flucht, Flucht ohne eine Wiederkehr auf absehbare Zeit – am Ende egal wohin, nur weg vom brennenden Kontinent, in dem es für Juden, politisch Widerständige, Intellektuelle und andere Verfolgte kein Versteck mehr gibt. Papiere sind lebensrettend.

In dem 1938 von Irmgard Keun geschriebenen Roman „Kind aller Länder“ schlagen sich diese Themen nieder, das Herumirren durch ganz Europa, die Not der Exilanten, ständig auf der Jagd nach Papieren, Geld, einem neuen Unterschlupf. Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied: Irmgard Keun, damals 33 Jahre alt und selbst schon seit Mai 1936 im Exil, schreibt aus der Sicht eines Kindes, der zehnjährigen Kully. In deren Eltern – dem haltlosen, leichtsinnigen Schriftsteller Peter und der Mutter, die im Exil zwischen Heimweh, Wunsch nach Bodenständigkeit (der Versuch, ein Heim in der Fremde zu imitieren, scheitert nicht nur an der politischen Situation, sondern auch an der Rastlosigkeit des Mannes), Pragmatismus und Tagträumerei schwankt – hat Keun, nicht unschwer zu erkennen, auch ihrem Geliebten Joseph Roth und sich ein literarisches Denkmal gesetzt, ihre Erfahrungen dieser Zeit verarbeitet.

„Mein Vater schreibt für unseren Lebensunterhalt. In Ostende hat er ein neues Buch geschrieben, das aber nicht fertig geworden ist, weil wir so viele Sorgen hatten. Wenn meine Mutter und ich meinen Vater mittags abholten, sahen seine Augen manchmal aus, als seien sie weit ins Meer geschwommen und noch nicht wieder zurück. Meine Mutter und ich können sehr gut schwimmen, aber die Augen von meinem Vater schwimmen noch viel weiter. Er hat uns auch oft fortgeschickt, weil er nicht essen wollte. Ein regelmäßiges Leben stört seine Arbeit und ekelt ihn an.“

Die Hetze der Flucht spiegelt sich in der Sprache wieder

Dieses ständige Gehetztsein, der Druck, an Geld zu kommen, gerade auch der Druck, der deshalb auf dem Schreiben lastet  – dies ist nicht nur ein Thema des Romans, sondern auch ein Thema, das sich hier offenbar in der Sprache von Irmgard Keun niederschlägt: Die Leichtigkeit des Erzählens, der schnodderige Ton, wie wir sie aus „Gilgi, eine von uns“ und „Das kunstseidene Mädchen“ kennen, sie wirken ausgerechnet, da Keun ein Kind als erzählende Figur wählt, da dieser Erzählton der „reflektierten Naivität“ stimmig wäre, nicht durchgehend schlüssig: Manches Mal klingt das Kind eine Spur zu altklug, manches Mal zu wenig kindlich-ängstlich in dieser bedrängenden Situation. Ähnlich wie die erwachsenen Protagonistinnen der Keun-Bücher plaudert das Mädchen Kully über die Alltagsnöte und ihre kindlichen Ängste hinweg:

„Mein Vater treibt ja immer wieder Geld auf. Er kommt auch immer wieder zurück. Ich glaube nicht, dass er uns vollkommen vergisst. Damals in Ostende hat er mich ja auch nicht vollkommen vergessen, nur beinahe.“

Erzählerische Struktur wirkt zerfahren

Verlustängste und Angst vor dem Krieg sind an solchen Stellen spürbar, werden dann aber unter diesem Erzählstrom, der Begegnungen, Anekdoten und nicht zuletzt zahllose Orte – Amsterdam, Brüssel, Prag und schließlich auch die USA sind Stationen dieser Hatz – aneinander reiht, begraben. Die Keun-Biografin Hiltrud Häntzschel wertete das Buch als „vergnügliche Lektüre“, die zugleich die Schrecken der Heimatlosigkeit dadurch potenzieren, weil die Leser eben mehr wissen als die Erzählerin, die noch das Urvertrauen eines Kindes in sich trägt. So könnte man das Buch lesen – doch dieses kindliche Geplauder wirkt auf Dauer eher etwas ermüdend denn vergnüglich, zudem, und das gesteht auch Häntzschel ein, wirkt der Roman „unfertig“, „zerfleddert“ am Ende. Das „Nichtmehrbewältigen der erzählerischen Struktur“ sei symptomatisch für Keuns Situation im Herbst 1938: Die Hetzerei von einem Ort zum anderen – sie findet nicht nur im Roman, sondern auch im Leben der Autorin statt. Und so wirkt auch der Erzählton: Gehetzt.

Dennoch gibt es von mir eine Leseempfehlung:

An vielen Stellen blitzen „Gilgi“ und „Doris“ auf und damit das erzählerische Temperament der Irmgard Keun.

„Und weiter hat sie gesagt: Ein guter Mann hat immer eine schlechte Frau – und ein schlechter Mann hat immer eine gute Frau. Das muss so sein. Ich finde es besser, eine gute Frau zu sein und einen schlechten Mann zu haben, denn mit einem guten Mann ist man auch nicht glücklich, aber mit einem schlechten Mann langweilt man sich wenigstens nicht.

Trotz der erzählerischen Schwächen: Das Experiment, das Exil und seine Konsequenzen aus der Sicht eines Kindes zu zeigen, hat Wirkung. Keun bringt bittere Wahrheiten, kindlich-süß verpackt, auf den Tisch – ganz nach dem Motto „Kindermund tut Wahrheit kund“.

„Es gibt auch Emigranten, die keine Dichter sind. Die Emigranten haben auch Vereine, wo sie sich ungestört zanken können. Viele Emigranten wollen sterben, und mein Vater sagt oft, es sei das beste und einzig Wahre, aber sie sind alle etwas unschlüssig und wissen nicht recht, wie sie es anfangen sollen, denn es genügt nicht, dass man einfach betet: Lieber Gott, lass mich bitte morgen tot sein.“

Eng an der eigenen Biographie

Und nicht zuletzt ist dieses wohl das engste an ihrer eigenen Biographie entlanggeschriebene Werk, das Einblick gibt in diese fatale Beziehung zwischen Irmgard Keun und Joseph Roth. Von daher für Anhänger der beiden Schriftsteller, die dieser „amour fou“ nachspüren wollen, eine Pflichtlektüre.

Das narrative Verfahren – Erzählen aus der Sicht eines Kindes – fand bereits im ersten „Exilbuch“ von Keun Anwendung: Noch in Deutschland geschrieben, veröffentlichte sie 1936 die Erzählungen um „Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften“ im holländischen Verlag Allert de Lange.


Irmgard Keun, „D-Zug dritter Klasse“, 1938

Wenn eine Schriftstellerin von Beginn an einen eigenen Stil, eine eigene Sprache gefunden hat, dann fällt es dem Leser mitunter schwer, ihr bei wesentlichen Veränderungen zu folgen. Doch allein daran lag es wohl nicht, dass dieser Roman mich wenig ansprechen konnte. Irmgard Keun, die sonst so Rasante, bummelt im „D-Zug dritter Klasse“ vor sich hin, die Erzählung quält sich voran. Mag sein, dass ihre private Situation Einfluss auf ihre Schreiben hatte: Irmgard Keun quälte sich noch mit der Trennung von Joseph Roth, das Leben in der Emigration war äußerst belastend, von Zukunftsängsten und Geldsorgen bestimmt.

Vielleicht musste gerade deswegen schnell „Nach Mitternacht“ ein neues Buch erscheinen – eine kurze Romanerzählung, die jedoch unfertig, beinahe fahrig wirkt. Warum auch immer, aber der „D-Zug dritter Klasse“ lässt vieles vermissen, insbesondere die gewohnte freche und naive und dabei doch so hellsichtige Erzählerinnenstimme. Der schmale Roman ist konventionell angelegt: Eine auktoriale Erzählstimme, ein nicht ganz neuer Plot – eine zufällig zusammengewürfelte Gruppe deutscher „Reichsbürger“ im Zug nach Paris. Nach und nach treten die Reise- und Fluchtgeschichten, die privaten Irrungen und Wirrungen zutage.  Doch die Figuren bleiben unglaubwürdig, unausgegoren, ihre Motive wenig glaubhaft, fast schon parodistisch übertrieben.

Eine misslungene Emigrationsparodie?

Auch nutzte Irmgard Keun die politische Lage – 1938 gab es genügend existentielle Gründe, um aus Deutschland zu fliehen – kaum: Die Reisenden sitzen im Zug, weil sie ihr privates Leben in Sand gesetzt haben, sie flüchten vor ihren Lebensumständen. Dass in ihrer Heimat eine Diktatur wütet, dass ein Krieg heranzieht, dass Menschen verfolgt werden, ist dem Roman kaum zu entnehmen. Zwar werden die Ängste thematisiert, die mit einer Flucht in ein neues, fremdes Land, mit einem Neubeginn und mit dem Leben im Ungewissen verbunden sind, aber auch das wirkt seltsam unausgereift, flüchtig dahingepinselt. Die Keun-Biographin Hiltrud Häntzschel schreibt: „Fast mutet D-Zug dritter Klasse wie Spott auf die Emigration an; vielleicht lässt sich das Buch auch als – dann allerdings misslungene – „Emigrationsparodie“ lesen.“

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues

Es ist das „Anti-Kriegsbuch“ der deutschen Literatur: “Im Westen nichts Neues”. Dazu kurz vorgestellt: “Der Weg zurück” und “Die Nacht von Lissabon”.

„Genau wie wir zu Tieren werden, wenn wir nach vorn gehen, weil es das einzige ist, was uns durchbringt, so werden wir zu oberflächlichen Witzbolden und Schlafmützen, wenn wir in Ruhe sind. Wir können gar nicht anders, es ist förmlich ein Zwang. Wir wollen leben um jeden Preis; da können wir uns nicht mit Gefühlen belasten, die für den Frieden dekorativ sein mögen, hier aber falsch sind.“

Erich Maria Remarque, „Im Westen nichts Neues“


2014 lag der Beginn des 1. Weltkrieges, der vielfach auch als „Urkatastrophe“ bezeichnet wird, genau 100 Jahre zurück. Anlass genug, um auf ein Buch zurückzugreifen, das als das „Anti-Kriegsbuch“ der deutschen Literatur bezeichnet wird. Über 20 Millionen Mal seit seinem Erscheinen verkauft, in über 50 Sprachen übersetzt: Ein Weltbestseller.

Ein Buch und seine Geschichte:

Erich Paul Remark, so der eigentliche Name des Schriftstellers, wird 1898 in Osnabrück geboren. Der musisch begabte junge Mann träumt eigentlich davon, Komponist zu werden. Dem voran steht jedoch die Schullaufbahn – Remarque ist überall Klassenbester, die Aufnahme in das Lehrerseminar scheint perfekt zu sein. Aus dieser bis dahin nicht ungewöhnlichen Jugend wird Erich Maria Remarque jedoch wie so viele andere seines Jahrgangs gerissen: Noch als Schüler wird er 1916 eingezogen und kommt nach einer kurzen Ausbildung nach Flandern an die Front. Die traumatischen Kriegserlebnisse verarbeitet er später in seinem Buch.

Orgelspiel und Grabsteine

Remarque überlebt das Inferno, arbeitet nach dem Krieg kurz als Lehrer, entscheidet sich dann aber gegen den ungeliebten Beruf und für eine Laufbahn als Schriftsteller. Die ersten Versuche zeitigen wenig Erfolg – um sich über Wasser zu halten, schlägt er sich als Vertreter für Grabsteine und als Organist durch. 1925 kommt Remarque schließlich nach Berlin, hier genießt er die „Goldenen Zwanziger“, soweit es die Mittel erlauben, in vollen Zügen.

Tagsüber Redakteur bei einer Sportzeitschrift, bleibt ihm nachts die Zeit, um weiter literarisch zu arbeiten. Mit „Im Westen nichts Neues“, das er 1928 fertiggestellt hat, ist auch eine der größten Fehlentscheidungen der deutschen Verlagsgesichte verbunden: Der Fischer Verlag lehnt das Manuskript ab, auch beim Ullstein Verlag hat man zunächst Zweifel: Die Menschen, so meinte man, haben genug vom Krieg, die Masse an Kriegsliteratur nach 1918 habe den Markt erschöpft. Eine Dekade später wolle das niemand mehr lesen.

Film wird zum Welterfolg

Doch schon die Reaktionen auf ein Vorabdruck in der Vossischen Zeitung zeigen: Das Buch wird ein ungeahnter großer Erfolg werden. Innerhalb weniger Wochen wird es zum Bestseller, 1930 in Hollywood verfilmt – Carl Laemmle, der Schwabe, der Universal Pictures gründete, produziert den Film, der heute ebenfalls im Rang eines Klassikers ist und damals zum Kassenerfolg wurde.

In der Heimat von Erich Maria Remarque beginnen zu dieser Zeit bereits die Folgen der „Urkatastrophe“ ihre Wirkung zu zeigen – die Weimarer Republik, von Beginn an gebeutelt, geht der nächsten, noch größeren Krise entgegen. Bereits bei der Uraufführung des Hollywood-Films in Deutschland kommt es zu Krawallen nationalsozialistischer Störtruppen, angeführt von Goebbels. Gegen den Autoren wird gehetzt. 1932 kehrt Remarque Deutschland den Rücken, zunächst geht er in die Schweiz, dann in die USA, die deutsche Staatsbürgerschaft wird ihm aberkannt. Anders als andere Vertriebene kann der Schriftsteller dort von seinen Honoraren und Einkünften – unter anderem arbeitet er auch an Drehbüchern mit, verfasst weitere Romane, die zwar Verkaufserfolge werden, jedoch nicht mehr an „Im Westen nichts Neues“ heranreichen – komfortabel leben. Er verkehrt mit Hollywood-Größen, hat eine Beziehung zu Marlene Dietrich, heiratet schließlich die Schauspielerin Paulette Godard. In die Schweiz kehrt er immer wieder zurück – dort stirbt er 1970.

Schwester wird zum Tod verurteilt

Deutschland kehrte er jedoch den Rücken, auch auf die deutsche Staatsbürgerschaft – die ihm zudem auch nicht wieder angeboten wurde – legte er keinen Wert mehr. Denn, da der Verfasser des bekanntesten Antikriegsromans für die Nationalsozialisten nicht mehr fassbar war, so hielten sie sich an seiner in Deutschland verbliebenen Familie schadlos: Seine Schwester Elfriede wurde am 29. Oktober 1943 zum Tode verurteilt, nachdem sie die Damenschneiderin von einer Kundin wegen angeblich kritischer Äußerungen denunziert worden war. Roland Freisler, Präsident des Volksgerichtshofes, äußerte dazu: “Ihr Bruder ist uns ja entkommen, sie nicht.”

Was hebt nun „Im Westen nichts Neues“ heraus aus den Romanen dieser Jahre? Was macht dieses Buch zu einer Besonderheit, das einerseits Millionen von Menschen so wichtig wurde, andererseits den Hass einer Verbrecherclique heraufbeschwor?

„Ich war außerordentlich überrascht über die politische Wirkung. Ich habe etwas Derartiges gar nicht erwartet“, sagte Remarque später in einem Interview, „mein eigentliches Thema war ein rein menschliches Thema, dass man junge Menschen von 18 Jahren, die eigentlich dem Leben gegenübergestellt werden sollten, plötzlich dem Tode gegenüberstellt.“ So wie der junge Paul Bäumer, aus dessen Perspektive die Kriegsteilnahme erzählt wird, fühlten sich Hunderttausende Soldaten um ihr Leben betrogen – und dies betraf nicht nur deutsche Soldaten, was den weltweiten Erfolg des Buches erklärt. Die schlichte Ich-Erzählung zieht mit ihrer simplen, fast schon reduzierten Sprache den Leser in ihren Bann – man meint, die Enge der Schützengräben, den Schmutz, den Lärm, den Geruch fast mitzuerleben. Die beinahe lakonische Schilderung des Frontgeschehens wird durchbrochen durch fast schon poetische Reflektionen, kleine Fluchten, die sich Paul alias Erich Maria gedanklich erlaubt.

Letztendlich sind es Passagen wie diese, die einmal gelesen, nicht zu vergessen sind:

„Wie sinnlos ist alles, was je geschrieben, getan, gedacht wurde, wenn so etwas möglich ist! Es muss alles gelogen und belanglos sein, wenn die Kultur von Jahrtausenden nicht einmal verhindern konnte, dass diese Ströme von Blut vergossen wurden, dass diese Kerker der Qualen von Hunderttausenden existieren.“

Das Tragische daran ist: Als Remarque dies schrieb, konnte noch nicht einmal geahnt werden, wie wenig die Kultur erst recht wenige Jahre später der Gewalt und der Ermordung von Millionen entgegenzusetzen hatte.


Weitere Bücher von Erich Maria Remarque:

“Der Weg zurück” (1931):

„Ich will es dir mal sagen, – ich habe auch schon darüber nachgedacht – dies da“, er zeigte auf die Wiesen vor uns, „das war Leben, es blühte und wuchs, und wir wuchsen mit. Und das hinter uns -“, er deutet mit dem Kopf zurück in die Ferne, „das war Tod, es starb und zerstörte uns ein bißchen mit.“ Er lächelt wieder. „Wir sind ein wenig reparaturbedürftig, mein Junge.“

Sie waren 16, 17, 18 Jahre alt, als man sie in den Krieg schickte. Kinder noch. Und sie kehren als Soldaten, die zu Mördern werden mussten, im November 1918 in die Heimat zurück. Ein Ankommen war das jedoch nicht: An Leib und Seele versehrt, erfahren sie weder Hilfe noch Unterstützung – vielmehr schlägt ihnen Unverständnis, wenn nicht gar Verachtung entgegen. In seinem zweiten Roman erzählt Erich Maria Remarque von den Frontrückkehrern, die für das „Vaterland“ verheizt wurden, nun aber fremd und überflüssig sind. Nur wenigen gelingt es, wieder Fuß zu fassen, als Dorflehrer einen Lebenssinn zu finden oder aber als Schieber von der Nachkriegsnot zu profitieren. Die meisten jungen Männer aus der Korporalschaft des gefallenen Paul Bäumer scheitern – sie verzweifeln, verschwinden im Nichts, verlieren den Verstand, resignieren oder nehmen sich gar das Leben. Der Ich-Erzähler beobachtet kritisch, wie in „der Heimat“ der selbstgefällige Geist der alten, tonangebenden Machtmenschen und Bürokraten überlebt hat, wie fest die Verantwortlichen nach wie vor im Sattel sitzen, wie Pfadfinderübungen als Kriegsspiele missbraucht werden.

„Für den Heroismus von wenigen ist das Elend von Millionen zu teuer.“
So ist, wie auch „Im Westen nichts Neues“, das 1931 erschienene „Der Weg zurück“ ein deutliches, engagiertes Plädoyer gegen den Krieg. Von Beginn an hatte Remarque „Im Westen nichts Neues“ als mehrteiliges Buch geplant – er wollte nicht nur die Grauen des Krieges festhalten, sondern auch, was mit jenen geschieht, deren Aufgabe jahrelang das Töten war, die von den Gemetzeln in ihren Träumen verfolgt werden, deren Werte zerstört wurden. Literarisch und als Plädoyer gegen den Krieg nicht weniger eindrucksvoll als sein Vorgängerroman wurde auch „Der Weg zurück“ zu einem vielgelesenen Buch. 2014 gab Kiepenheuer & Witsch den Roman in der Fassung der Erstausgabe heraus, zudem mit einem Anhang, der die Textstellen aus den vorgeschalteten Veröffentlichungen in der „Vossischen Zeitung“, die Remarque nicht mehr in die Romanfassung übernahm, beinhaltet – ich empfehle diese Ausgabe, die Entstehungsgeschichte und den Wandel des Buches verdeutlicht.


„Die Nacht von Lissabon“ (1962):

 „Wer von hier das gelobte Land Amerika nicht erreichen konnte, war verloren. Er musste verbluten im Gestrüpp der verweigerten Ein- und Ausreisevisa, der unerreichbaren Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen, der Internierungslager, der Bürokratie, der Einsamkeit, der Fremde und der entsetzlichen allgemeinen Gleichgültigkeit gegen das Schicksal des Einzelnen, die stets die Folge von Krieg, Angst und Not ist. Der Mensch war um diese Zeit nichts mehr; ein gültiger Pass alles.“

Allein wegen solcher Passagen, die immer noch ihre (traurige) Gültigkeit haben, lohnt es sich, diesen späten Exilroman von Erich Maria Remarque zu lesen. „Es gibt keine Rückkehr aus dem Exil“: Diesen Satz äußerte der Schriftsteller in einem Interview 1968 – dieser Satz prägte sein halbes Schriftstellerleben.  Die Erfahrungen aus dem Exil, sie holten auch den 1898 geborenen Osnabrücker, dessen Bücher 1933 von den Nazis verbrannt wurden, immer wieder ein. In der Lissaboner Nacht – man zählt das Jahr 1942 – treffen sich zwei Fremde, beides Emigranten, der eine ohne Hoffnung auf eine Schiffspassage in die USA, der andere mit Visa und Schiffskarte, aber ohne Lebenshoffnung. Jener nennt sich Josef Schwarz und erzählt seiner Zufallsbekanntschaft eine Nacht lang von seiner Flucht aus Deutschland, der Rückkehr nach Osnabrück, um seine Ehefrau Helen nochmals zu sehen, vom gemeinsamen Exil und der Odyssee durch halb Europa. Eine Liebe ohne Zukunft – doch das traurige Ende verheißt einem anderen Menschen einen Neubeginn.
Es zählt stilistisch nicht zu den stärksten Büchern Remarques, der Stil ist durchaus spröde, manches etwas langatmig – aber es ist ein Buch, das einen nicht kalt lässt, „beängstigend-eindringlich in seinem emotionalen Zugriff“, schrieb Orville Prescott 1964 in der New York Times.
Wer lesend erfahren möchte, was die ständige Flucht vor den Handlangern einer Diktatur mit den Menschen machen kann: In diesem Roman steht es.

Eine ausführliche Rezension und Hintergrundinformationen zu Remarque finden sich auf dem Blog “Über den Kastanien”.