
“In London konnte er kaum bis zum Briefkasten trotten, ohne einem Mops, Retriever, einer Bulldogge, einem Mastiff, einem Collie, Neufundländer, Bernhardiner, Foxterrier oder einer der sieben berühmten Familien vom Stamme der Spaniels zu begegnen. Jedem gab er einen anderen Namen und jedem einen anderen Rang. Hier in Pisa hingegen gab es, obwohl es von Hunden wimmelte, keine Rangstufen; alle – war das denn möglich? – waren Mischlinge. Soweit er sehen konnte, waren sie einfach bloß Hunde – graue Hunde, gelbe Hunde, gesprenkelte Hunde, gefleckte Hunde; es war jedoch unmöglich, auch nur einen einzigen Spaniel, Collie, Retriever oder Mastiff unter ihnen zu entdecken. Hatte die Rechtsprechung des Kennel Clubs denn in Italien keine Geltung? War der Spaniel Club unbekannt? (…) Flush fühlte sich wie ein Fürst im Exil. Er war der einzige Aristokrat inmitten der canaille. Er war der einzige reinrassige Cocker Spaniel in ganz Pisa.”
Virginia Woolf, „Flush. A Biography“, 1933
Nicht nur für den Cocker mit Stammbaum, dem Virginia Woolf eine eigene Biographie widmete, war die Flucht nach Italien auch eine Befreiung von engen Zwängen und Konventionen: Sondern auch für sein Frauchen, die viktorianische Dichtern Elisabeth Barrett. Und ein Stück weit „literarisches Atemholen“ wohl auch für die Verfasserin, die sich von den „Wellen“ erholen musste.
„Flush ist nur so eine Art Witz. Ich war so müde nach den Wellen, daß ich im Garten lag und die Liebesbriefe der Brownings las, und die Figur ihres Hundes brachte mich zum Lachen …“,
schrieb Virginia Woolf 1933 in einem Brief. Eine „Gehirnlockerung“ sollte das Buch sein, an dem sie später ihre Zweifel hegte, befürchtete, diese „törichte“ Arbeit könnte zum Erfolg werden – auf Kosten ihrer ernsthafteren Werke. Tatsächlich ist diese kleine Hundebiographie von einer sanften Ironie getragen – die einen als Leser aber auch dieses spezielle Hundeschicksal viel viel besser ertragen lässt. Weil man ansonsten eher wütend gegen den Tort anbellen müsste, der Flush angetan wird.
Der Hund am Krankenbett von Elisabeth Barrett
Denn Flush ist eigentlich ein wilder Racker vom Lande, streunend, strolchend, freiheitsliebend. Dessen gutmütige Besitzerin, Mrs. Mitford, beschließt jedoch den Hund ihrer Freundin Elisabeth Barrett (1806 – 1861) zu deren Erbauung und Erheiterung überlassen. Für den Cocker Spaniel ändern sich damit die Lebensverhältnisse auf das Extremste – vom freien Feld ans Krankenlager. Das Bett in einem abgedunkelten Zimmer ist der Lebens- und Schreibort von Miss Barrett seit dem Tode ihres geliebten Bruders. Ob ihre Bettlägerigkeit tatsächlich mit körperlichen Erkrankungen oder psychosomatisch bedingt war, ist heute umstritten. Hier ein Link zu ihrer Biographie: fembio. Gleichwohl: Für Flush ist das künftig der Zwinger, den er zu mit Frauchen zu teilen hat.
Schwer vorstellbar, dass ein Hund das mit Freuden tut. Virginia Woolf beschreibt die Erstbegegnung so:
„Beide waren überrascht. Schwere Locken hingen zu beiden Seiten an Miss Barretts Gesicht herab; große helle Augen leuchteten daraus hervor; ein großer Mund lächelte. Schwere Ohren hingen zu beiden Seiten von Flushs Gesicht herab; auch seine Augen waren groß und hell; sein Mund war breit. Während sie einander anstarrten, fanden beide: Das bin ja ich! – und dann fanden beide: Doch wie anders! (…) Zwischen ihnen lag die breiteste Kluft, die zwei Wesen voneinander trennen kann. Sie konnte sprechen. Er war stumm. Sie war Frau; er war Hund. So eng verbunden, so unendlich weit getrennt, starrten sie einander an. Dann sprang Flush mit einem Satz aufs Sofa und legte sich, wo er fortan für alle Zeiten liegen sollte – auf die Decke zu Miss Barretts Füßen.“
Wie es sich für die Biographie des Hundes einer Dichterin gehört, werden die profanen Einzelheiten ausgespart, z.B.: War Flush schon stubenrein? Wer ging mit ihm täglich mehrmals Gassi? Wie wurde sein Bewegungsdrang kompensiert? Oder verfettete er in den Jahren als Sofahündchen? Bevor man sich jedoch zu sehr den Kopf über artgerechte Tierhaltung zerbricht, tritt eine Lichtgestalt in unser aller Leben: Mr. Browning.
Der Konkurrent von Mr. Browning
Flush macht den Zweibeiner sofort als Konkurrenten um Miss Barretts Zuneigung aus – und reagiert sowohl eifersüchtig als auch bissig. Denn Frauchen beginnt sich zu verhalten, komisch zu verhalten: Sie verlässt immer öfter das Bett, sogar das Zimmer, sogar das Haus. Und er selbst steht nicht mehr im Mittelpunkt ihres Lebens. Ein Hund, der auf sich hält, setzt da die Beißerchen ein – so viel ist Flush von seinen Urinstinkten auch auf dem Sofa noch geblieben.
Für ihre wundersame Heilung sorgt also nicht die zum Hund, sondern die zum Mann – und für den lesenden Hundeliebhaber kommt so das Ganze doch noch zu einem Happy-End: Robert Browning ehelicht Elisabeth, entführt sie förmlich aus den Fängen des dominanten Vaters und in Italien durften sie dann alle, solange sie gelebt haben, endlich wieder nach Herzenslust streunen.
Man muss die Verzärtelung und Vermenschlichung, die die einsame Miss Barrett ihrem Hund angedeihen ließ, nicht mögen – das Buch von Virginia Woolf, von Beginn an auch als Parodie typischer viktorianischer Biographien gedacht, jedoch schon: Das Barrett-Browning-Flush-Verhältnis ist mit so feiner Ironie, ja mit leichtem Sarkasmus gestrickt, das ringt einem beim Lesen einfach ein Lächeln ab.
Bibliographische Angaben:
Virginia Woolf
Flush
Übersetzt von Karin Kersten
S. Fischer Verlag, 1993
ISBN: 978-3-10-092521-3