Alice Grünfelder: Jahrhundertsommer

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman. Alice Grünfelder schreibt über eine Familie auf der Schwäbischen Alb, die sich gegen Armut, soziale Ächtung und das Schicksal an sich stemmt.

„Und so schön war es den ganzen Sommer über und auch im Herbst, als auf der Schwäbischen Alb die Wälder in gelbem und feuerrotem Licht schwammen.“

Alice Grünfelder, „Jahrhundertsommer“


Es währt nicht lang, das kleine Glück von Magda: Nur einen heißen Jahrhundertsommer lang, der abends die Alb glühen lässt, spürt sie diese Wärme „wie ein Strohfeuer“ in ihr, ist sie verliebt, beinahe wie ein Teenager. Doch dann verschwindet John, der amerikanische Soldat, wort- und spurlos Richtung Vietnam, lässt die 40jährige mit einem „Dergel“, einem „Balg“ zurück. In ihrem Dorf ist Magda damit doppelt gebrandmarkt: Als „Geschiedene“, die sich von einem „Ami“ ein Kind anhängen ließ.

Bild von Ingo Jakubke auf Pixabay

Die Enge der schwäbischen Dörfer

Scharlachrote Buchstaben gab es in dieser urschwäbischen Gegend zwar noch nie. Aber „gschwätzt“ wird noch immer, in dieser Enge der Dörfer, wo jeder jeden kennt, über jene, die nicht in die gängigen Vorstellungen passen. Es ist auch ein Stück meiner Kindheit und Jugend, in die die Schriftstellerin Alice Grünfelder mit ihrem neuen Roman „Jahrhundertsommer“ entführt. Nur wenige Sätze genügen, um mich in die 70er- und 80er zurückzuführen:

„Jetzt also hatten sie endlich ein eigenes Haus in der neuen Siedlung, gleich neben dem Libellenrain, wo die Reichen lebten. Ihre Neubausiedlung grenzte aber nicht direkt an den Wald, sondern ging über in weite Wiesen und Äcker. Manchmal versprühten Bauern ihren Dung, das roch dann in der ganzen Siedlung.“

Der Traum der Eltern von Leuten meiner Generation vom eigenen Häusle, die Not der Kriegs- und Nachkriegszeit immer noch im Nacken, als die Großmütter selbst noch Socken stopften, die mehr Löcher hatten als Wolle, dieses Credo vom „Schaffa, schaffa, Häusle baua ond net nach de Mädla schaua.“ Der Wunsch, am Wirtschaftswunder teilzuhaben. Und wem das nicht gelang, dem hing der Ruf nach, selbst schuld zu sein. Am Gymnasium meiner oberschwäbischen Kleinstadt-Heimat kursierte zudem ein besonderer Spruch: „Malaria, Cholera, von dr Alb ra“. Die Schwäbische Alb galt als besonders rückständig. Das Karstgebirge ist eine der wasserärmsten Regionen Deutschlands, das Leben für die Landwirte war hart. Eine raue Landschaft, die einen rauen Menschenschlag hervorbrachte. Lebensgewohnheiten, geprägt von harter Arbeit, den engen Grenzen der Kirche und zugleich von den Sagen und Mythen der Ahnen – all das schwingt in „Jahrhundertsommer“ mit.

Von Armut und Widerstandskraft

Alice Grünfelder erzählt die Geschichte einer kleinen Familie, die immer außen vor bleibt, die kämpfen muss, selbst um das Notwendigste, sie erzählt von gescheiterten Lebensplänen und misslungenen Fluchten, aber auch von einer zähen Widerstandskraft, die schwäbisch-stoisch die größten Schläge einstecken lässt. Die Geschichte setzt ein mit Magda in den 60er-Jahren, die von ihrem „Alten“, wie sie ihn dann nur noch abschätzig-zornig nennt, wegen einer jüngeren Frau sitzengelassen wird. Es ist jedoch nicht der untreue Mann, dem die Dorfgemeinschaft etwas anhängt, Magda selbst werde schon ihren Anteil daran haben, wird gemunkelt. Und wird als „Geschiedene“ fortan gemieden. Tochter Ursula flüchtet sich schnell selbst in den Ehehafen, wird schwanger, muss von Thomas geheiratet werden:

„Jetzt bringst du uns noch die Geschiedene ins Haus“, hatten seine Eltern gezetert.
„Nur eine Evangelische wäre noch schlimmer gewesen, dann hätten sie mich verstoßen, das haben sie uns von klein an eingetrichtert“, hatte Thomas Ursula erzählt.

Ursula, die lange mit der Mutter hadert, widerfährt schließlich das gleiche Geschick, auch bei ihr währt das Familienglück im eigenen Haus (in der nach Dung riechenden Siedlung) nicht lange, auch sie wird gegen ein jüngeres Modell eingetauscht. Ihre Halbschwester Ellen, Abkömmling der einzigen Liebe Magdas, scheint es klüger anzustellen: Sie spart eisern ihr Geld, das sie mit Babysitting verdient, um nach Paris zu gehen. Am Ende, als Magda bereits 80 Jahre alt ist, kommt Ellen nach dem Unfalltod ihres Partners mit einem kleinen Kind, aus Not nach zu ihrer Mutter zurück:

Sie schrieb Julia, wie die Leute in Beissweng die Straßenseite wechselten, hinter vorgehaltener Hand tuschelten, so wie immer, so wie früher. Denn ihr Kind hatte dunklere Haut, schwarze Kraushaare, schwarze Kugelaugen.
„Von wem hat sie das Balg?“
„Dass die sich überhaupt traut, zurückzukommen!“

Alice Grünfelder erzählt abwechselnd aus der Perspektive dieser drei Frauen aus drei Generationen über Frauenleben, unerfüllten Wünschen, Hoffnungslosigkeit, die im Falle Magdas bis zum Suizidversuch führt, aber auch vom Überleben in einer feindlichen Umgebung. Man zieht beim Lesen innerlich den Hut vor diesen Frauen, die sich durchbeißen, sei es mit dem Bemalen von Spielfiguren in Heimarbeit, als Marktfrau mit Gemüse aus dem eigenen Garten, als Avon-Beraterin und unterbezahlte Fußpflegerin im Altenheim oder als ausgebeutetes Au Pair-Mädchen in Frankreich.

Drei Frauen und ein Mann

Mit Viktor, Magdas Enkel, Ursulas Sohn, bringt Alice Grünfelder noch eine männliche Perspektive ins Spiel: Auch er ein „Looser“, der schon in jungen Jahren im Alkoholentzug landet, aber auch er einer, der sich immer wieder aufrappelt. Und einer, der am Ende, auf beinahe schon skurrile Weise, die Frauen seiner Familie kurz aus der schwäbischen Armut reißt: Als an Magdas Haus schon die Eternit-Platten abfallen, als in seinem „Elektrofachgeschäft“ die Kunden ausbleiben und Ellen ohne Geld in Frankreich sitzt, kommt Viktor die rettende Idee: „Grün ist die Hoffnung“ lautet das letzte Kapitel, grün ist der Hanf, den er mit Hilfe „seiner“ Frauen in einer Lagerhalle anbaut und gewinnbringend vertickt. Natürlich, und das scheint typisch für diese Familie, geht auch dieses Geschäft irgendwann daneben, fliegt alles auf.

Doch im letzten Kapitel steht Magda, wie zu Beginn des Romans, vor einem Spiegel – nur dass sie sich diesmal nicht überlegt, was sie beim Ausflug auf ein Dorffest mit ihrer Putzkolonne anziehen soll, sondern welche Kleidung für das Gefängnis taugt. Doch Magda ist eine andere geworden, in diesem harten Leben:

„Da muss sie also erst achtzig werden, um gefragt zu werden, ob sie Probleme habe. Die können sie alle mal, dachte sie (…). Es klingelte. Sie ging hinaus. Zwei Jahre Urlaub auf Staatskosten. In Gotteszell.“

Es ist eine Stärke dieses Romans, dass er Figuren nahebringt, die zu Menschen werden: Magda, Ursula, Ellen und Viktor. Man muss sie nicht mögen, sie haben ihre Schwächen, ihre dunklen Seiten, Viktor, der Typ, der sich einfach hängen lässt, Ursula, die sich in Glückserwartung an den jeweils greifbaren Mann hängt, Magda, die ihre Schroffheit an Ellen auslebt. Doch sie werden von Alice Grünfelder so nah- und greifbar geschildert, dass sie förmlich aus dem Buch heraustreten.

Die Sprache transportiert die Mentalität der Gegend

Das bewirkt auch Grünfelders Sprache: Nicht literarisch überhöht, direkt, mit leisem Humor, viel Mutterwitz und dezent eingestreuten Mundart-Sprengseln, die die Handlung, die auch in anderen Landstrichen stattfinden könnte (auch wegen der geschilderten Mutlangen-Proteste wurde ich ab und an beim Lesen an den „Dorfroman“ von Christoph Peters erinnert, ähnliches Milieu, andere Gegend), ins Schwäbische verortet. Die Sprache transportiert die Mentalität einer Gegend, die trotz – oder gerade wegen ihrer Rauheit – eine ganz eigene Anziehungskraft hat.

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman, der durch die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen auch verschiedene gesellschaftliche Themen anspricht, ohne überfrachtet zu wirken: Alleine Magda führt uns vor Augen, was Armut, gerade auch Altersarmut bedeutet – und dass sie, sowohl in der Literatur als auch im „echten Leben“ nicht wegzuleugnen ist.


Bibliographische Angaben:

Alice Grünfelder
Jahrhundertsommer
dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28345-8

Homepage der Autorin: https://www.literaturfelder.com/

Joy Williams: Stories

In den USA ist Joy Williams lange schon eine literarische Größe, bewundert von Lauren Groff, Don DeLillo, Raymond Carver und anderen. Auf dem deutschen Buchmarkt wird das Werk der fast 80-jährigen Autorin erst jetzt entdeckt. Höchste Zeit!

„Dann, eines Nachmittags, kam Walter von der Arbeit in der Autowerkstatt nach Hause, und es schien, als wäre er aus einem seltsamen Schlaf erwacht. Sein Erwachen schien ihn nicht zu erschrecken. Seine kummervollen Tage und Nächte endeten mit einer Wucht, die nicht größer war als das Auflaufen eines Bootskiels am Ufer eines Flusses.“

Aus der Erzählung „Letzte Generation“
Joy Williams, „Stories“


Es sind diese beinahe beiläufigen Bilder, sacht wie das Auflaufen eines Bootskiels, die Joy Williams zu einer Meisterin des Untergründigen machen. In den USA ist die 1944 in Chelmsford, eine Kleinstadt in Massachusetts geborene Schriftstellerin, lange schon eine literarische Referenz: Bewundernde Noten von Don DeLillo, Bret Easton Ellis, Lauren Groff und Raymond Carver sind auf der Rückseite der deutschen Buchausgabe ihrer „Stories“ zu lesen.

Bild von Robert Balog auf Pixabay

In ihrer Heimat vielfach ausgezeichnet, hierzulande bislang noch völlig unbeachtet: Zwei übersetzte Bände erschienen vor über drei Jahrzehnten, danach las man nichts mehr über die Erzählerin. Umso erfreulicher, dass der Band „Stories“ nun von der ganzen Bandbreite des Feuilletons besprochen wurde. Zu Recht: So grandios taucht kaum eine in das menschliche Herz der Finsternis ein. „Stories“ versammelt eine kluge Auswahl aus dem Werk von Joy Williams, sozusagen ein „best of“ von den 1970er-Jahren bis 2014, die die Bandbreite dieser Schriftstellerin zeigen.

Mit einer bissigen Lust an der Entlarvung ihrer Figuren

Mit kurzen, pointierten Sätzen nimmt sie ihren Figuren die Masken vom Gesicht, entlarvt sie mit einer gewissen bissigen Lust. Über Jack, einen egozentrischen forensischen Anthropologen, der sich bei einem Jagdunfall mit einem Pfeil durchs Auge selbst das Gehirn wegschießt, lässt sie dessen frustrierte Lebensgefährtin Miriam sagen:

„Aus der Reha kam er mit einem Gesicht nach Hause, das so ausdruckslos war wie ein glasierter Kuchen.“

Miriam begibt sich in der Erzählung „Kongress“ schließlich mit Jack und dessen Studenten Carl, dessen Besitzansprüche an den behinderten Forscher immer massiver werden, auf einen Roadtrip, beginnt mit einer Lampe mit Tierfüßen zu sprechen und übernimmt am Ende die Stelle eines Präparators in einem Naturkundemuseum mitten in der Pampa. Frank Schäfer kritisierte in seiner Rezension in der “taz” diese Story als einzige, die zu sehr in eine Traumlogik abgleite, andere erkennen in solchen Erzählungen die Nähe zu George Saunders.

„Auch Williams betrachtet die Realität so lange, bis sie einem irgendwann ganz fremd erscheint“, meint Frank Schäfer. „Kongress“ aber zeigt in meinen Augen: Ebenso beherrscht Williams die Kunst, das Irreale ganz normal, ganz real erscheinen zu lassen. Warum nicht öfter mit einer Lampe sprechen?

Ein Abbild amerikanischer Tristesse

Tatsächlich fällt „Kongress“ unter den insgesamt 13 Erzählungen in „Stories“ etwas aus dem Rahmen. Gemeinsam haben sie jedoch alle eines: Sie sind Skizzen dieser speziellen amerikanischen Tristesse, die man auch aus Werken anderer US-Schriftsteller – neben Williams‘ Studienkollegen Raymond Carver sowie Lucia Berlin wären da auch die etwas älteren Richard Yates und John Cheever zu nennen – kennengelernt hat.

Doch neben der Genauigkeit des Beobachtens und der feinen Zeichnung ihrer Figuren (meist Verzweifelte, Abgehängte, Ausgebrannte), der Kunst der feinen psychologischen Skizzierung, die Charaktere in wenigen Bildern greifbar macht und untergründigen Melancholie, die diese Autor*innen gemeinsam haben, sind die Stories von Joy Williams in einem Wesenszug einzigartig: Sie verströmen eine Aura des Unheimlichen, Abgründigen, die einen immer wieder erschauern lässt. Es wundert nicht, dass Bret Easton Ellis „der Mut fehlt, die Geschichten ein zweites Mal zu lesen“.

In „Liebe“ erblickt ein kleines Mädchen bei einer winterlichen Autofahrt einen „Schneeschuhhasen“:

„Der Hase ist prächtig! Und so schnell! Er gleitet um unsichtbare Hindernisse, wie ein Wesen aus einem freundlichen Traum, fliegt über den Graben, die Pfoten wie Paddel, leicht gelblich, von der Farbe rohen Holzes.“

Sekunden später ist der Hase tot und „stürzt, wie eine Kugel, Pfoten und Kopf eng an den Körper gepresst.“

Immer nah am Kipppunkt zur Tragödie

Urplötzlich kommt in diesen Erzählungen der Kipppunkt, in denen die Normalität zur großen Tragödie wird. Oder zumindest schleicht sich die Ahnung ein, dass das Ganze böse enden könnte, sei es nun in „Lu-Lu“, als eine junge Frau die Boa Constrictor ihrer alten Nachbarn entführt oder in der Erzählung „Rost“: Der weitaus ältere Ehemann von Lucy, Dwight, entflammt für einen rostigen Ford Thunderbird, dem keine Autowerkstatt noch eine Chance gibt. Schließlich landet das Auto im Wohnzimmer und das ungleiche Paar im Auto, aus der Fensterscheibe starrend. Das unspektakuläre Ende ist ganz groß. Man kann nur das Schlimmste fürchten:

„Ein leichter Regen fiel, ein warmer Frühlingsregen. Während sie hinsah, fiel er rascher. Er war silbrig, doch je rascher er fiel, desto weniger wirkte er wie Regen, und sie konnte es fast klirren hören, als er auf die Straße traf.“

Warum Joy Williams erst jetzt im deutschsprachigen Raum als große Entdeckung gefeiert wird, mag vor allem darin liegen, dass die Form der Erzählung es auf dem deutschen Buchmarkt allgemein schwer hat. Was die Gründe dafür sind, ist mir ein Rätsel: Für mich ist es große Kunst, eine ganze Welt und ein ganzes Leben, dichte Atmosphäre und funkelnde Sätze auf wenige Seiten zu packen, ohne alles erzählen. Die Kunst der Andeutung – diese beherrscht Joy Williams meisterhaft.


Informationen zum Buch:

Joy Williams
Stories
Übersetzt von Brigitte Jakobeit und Melanie Walz
Dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28321-2

John von Düffel: “Hotel Angst” und “Wassererzählungen”

Wenn John von Düffel von Familien schreibt, von Vätern und Söhnen wie in „Houwelandt“ und „Vom Wasser“, dann ist er am stärksten. So auch im Hotel Angst.

“Das Hotel Angst war ihre Titanic, es war die Herrlichkeit und Weihe ihres Untergangs, es war das Wrack, mit dem sie langsam, aber unausweichlich in die Tiefe sanken, auf den Grund der Vergangenheit, von dem es heute noch aufragt bis in unsre Zeit, eine Titanic des Festlands, erhaben in ihrem Unheil, glamourös in ihrem Verfall. Und so steht das Hotel heute noch immer da, der untergegangene Traum einer Epoche, und macht dem Namen Angst heute vielleicht mehr Ehre denn je.“ 

John von Düffel, “Hotel Angst”

Ein Mann stirbt und mit ihm seine Träume. Ein Sohn begibt sich auf Spurensuche: Er reist an den Urlaubsort seiner Kindheit, nach Bordighera an der italienischen Riviera. Dort steht, mittlerweile eine verwunschene Ruine, das „Hotel Angst“, das legendäre Grand Hotel der Belle Époque. Ein Traumhotel im wahrsten Sinne – ein Lebenstraum des Vaters war es, dieses mondäne Haus mit neuem Glanz zu erfüllen. Wie zäh und nachhaltig der sonst so verschwiegene Mann diesem Traum nachhing, dies wird dem Sohn erst allmählich an der Riviera klar. Eine feingesponnene Novelle, deren melancholisch-leiser Grundton die passenden Bilder von einer untergegangenen Epoche, einer vergangenen Zeit evoziert.  

kupari-1626922_1280
Bild von AliceKeyStudio auf Pixabay

Doch was für diese Gesellschaft sprach, für all die gekrönten und ungekrönten Häupter Europas, die sich im Hotel Angst ein letztes Mal hochleben ließen, war ihre Vergänglichkeit. Sie feierten ihre Ballnächte und Diners am Abgrund der Zeit und schienen insgeheim darum zu wissen, so wie sie sich in Positur warfen vor dem Kameraauge der Ewigkeit. Sie wußten schon damals, daß sie eigentlich nicht mehr existierten, sondern so etwas waren wie Gespenster zu Lebzeiten, die sich noch einmal versammelt hatten für einen letzten körperlosen Tanz im Spiegel des Verschwindens.” 

Die der Geschichte innewohnende Traurigkeit – Trauer um Verluste, Verluste von Menschen, Verluste von Orten, Verluste von Träumen – kontrastiert mit der blendenden Sonne, dem Touristenrummel dieser Tage, den Anflügen von „dolce vita“, denen der Erzähler bei Speis und Trank nachgibt. Elegant verwebt John von Düffel mehrere Erzählstränge in seinem Stoff – er erzählt von jenen Männern, die die feine Welt nach Bordighera brachten, am Ende aber an ihren Träumen scheiterten. Er erzählt von einem italienischen Schriftsteller und Freiheitskämpfer, der im Exil im nebeligen England die italienische Luft und Sonne nicht vergessen kann. Und mit einem etwas kitschigen Roman seinem Heimweh Ausdruck verleiht – ein Roman, der bei anderen die Sehnsucht nach dieser Landschaft wachruft. Und John von Düffel erzählt von dem trockenen Statiker, der so nüchtern in seinen Handlungen wirkt und dabei insgeheim das Träumen nicht lassen kann: Als sich kein Weg findet, dem Hotel Angst wieder Leben einzuhauchen, macht sich der Mann selbst an ein Romanprojekt, in der Hoffnung, Geschichte ließe sich wiederholen.

Eine Erzählung vom Abschiednehmen

Vor allem aber ist dies eine Erzählung vom langsamen Abschiednehmen und dem Näherkommen, das dabei dennoch ermöglicht wird: Je mehr der Sohn von den Träumen seines Vaters erfährt, desto mehr beginnt er ihn zu verstehen – und kann sich so dem Verstorbenen nochmals annähern. Wenn John von Düffel von Familien schreibt, von Vätern und Söhnen wie in „Houwelandt“ und „Vom Wasser“, dann ist er am stärksten – und so birgt auch diese schmale Erzählung wunderbare Sätze, gerade dann, wenn der Sohn den Aufenthalt seines Vaters in der „fünften Dimension“, dem Reich der reinen Möglichkeit, umreißt:

„Er war ein Träumer, aber kein Erfinder, seine Inspiration war die Vergangenheit und das Gefühl, ihr zugehörig zu sein – mehr als allem anderen auf der Welt. (…) Es ging ihm nicht um sich, um seine Phantasie, sondern um das Phantastische, das dem Vergangenen innewohnte, und seine größte Sehnsucht war, ein Teil davon zu sein.“ 

Ein schmales, nostalgisch anmutendes Stück Literatur – eines, das vermag, auch beim Lesen Sehnsüchte zu wecken: Und so ist das „Hotel Angst“ auch für mich zu einem Sehnsuchtsort geworden – einer, der wahrscheinlich nur in der Phantasie weiterbestehen wird.

„Das Wasser an einem Wintertag. Der Himmel über der See ist hauchblau. Eine Bläue, die allen Dunst und Nebel, die Wolken und Schwaden in sich aufgesogen und verwandelt hat in einen Reifatem, der die Sonne blass macht, eine gefrorene Scheibe aus Licht.“

John von Düffel, „Wassererzählungen“

John von Düffel ist also nicht nur ein Langstreckenschwimmer. Seit „Vom Wasser“, sein erster Roman 1998 erschien, bin ich einer der vielen Fische, die ab und an in seinen Fan-Schwarm mit eintauchen. Kein gegenwärtiger deutscher Autor schreibt eben so schön, aber auch so viel über das Element Wasser und die Leidenschaft des Schwimmens wie er. In seine guten Romane kann man einsinken, abtauchen, für einige Stunden untergehen. Dazu zähle ich auch „Houwelandt“, diese Familiengeschichte, in der ebenfalls das Meer eigentlich die Hauptrolle spielt. Oder die Novelle „Hotel Angst“. Aber auf die Ebbe folgt auch die Flut beziehungsweise nach der Flut die Ebbe: „Ego“, die Geschichte eines fitnessbesessenen, karrieregetriebenen Egomanen – sie trieb mich als Leserin dann wieder eine Weile weg von der Düffel-Fangemeinde, ließ mich eher ratlos zurück.

Nun also die Kurzstrecke – Erzählungen. Natürlich drehen auch sie sich bei diesem Autoren, der schon einmal in der Presse auch als „amphibischer Schriftsteller“ bezeichnet wird, um das nasse Element. Und mir erging es beim Lesen der „Wassererzählungen“ ähnlich wie mit den oben genannten Langwerken – ein Auf und Ab, eine Wellenbewegung zwischen abtauchen, sinken lassen, mittreiben und dann wieder ein abebben der Begeisterung bis hin zum – naja, Untergang wäre übertrieben. Soll heißen: Die Mehrzahl der Erzählungen sind „von Düffels“, das heißt, schön zu lesen, dort wo eine leichte Melancholie mitschwingt, wo der Seegrund so tief ist wie die Trauer in manchen Herzen, wo das Meer so blau leuchtet wie die Hoffnung in einem Menschen. „Das Spiel ohne auf die Erde zu kommen“, „Der schwarze Pool“, „Ostsee“ – ein sprachlich eleganter Erzählfluss. Schöne Bilder:

„Als sie den schmalen, geschlängelten Weg hügelan fuhren, erhob sich der Wald vor ihnen wie eine Wand. Die Dämmerung stand zwischen den schwarzen Tannen, während der Himmel noch licht war, hell und stufenlos grau. Die ungemähte Wiese zum Wald hin sah aus, als hätte sich eine Herde von Nebeltieren darin gewälzt. Bleiches, verblühtes Gras lag nass und regenschwer in Wellen darnieder.“

Ab und an meint John von Düffel jedoch, er müsse in die Tiefen der Ironie eintauchen, der Satire oder Kritik am Zeitgeist, wo auch immer er da schriftstellerisch dahinschwimmt. „Die Vorschwimmerin“ und „Das permanente Wanken und Schwanken von eigentlich allem“ sind Beispiele dafür, Erzählungen als Monolog und Dialog verfasst. Hier kommt der Theatermann durch. Wo von Düffel jedoch mit spitzer Feder schreibt, kommt bei mir als Leserin eher Geplätscher an, seichte Wellenausläufer.

So lautet mein Fazit der „Wassererzählungen“: Flut und Ebbe.

Informationen zu den Büchern:

John von Düffel
Hotel Angst
dtv Verlag, 2007
ISBN: 978-3423135719

Wassererzählungen
dtv Verlag, 2017
ISBN: 978-3-423-14554-1