Lina Atfah: Das Buch von der fehlenden Ankunft

Die syrische Lyrikerin Lina Atfah schreibt über ihre zerstörte Heimat, über Flucht, Krieg und Tod. Gedichte voller Zorn und Wehmut.

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Ein Buchladen in Syrien, 2006. Ob der Inhaber noch lebt, fragt sich auch die Fotografin: Bild von Lauren Mulcahy auf Pixabay

… kein Horizont der wie ein Zelt Gedichte auf dem Sprachsand
aufschlägt
der Tod allein
der Tod er prüft die Wahrheit
und prüft alles Geschriebene
nicht leicht ist es, an ihn zu glauben …

Lina Atfah, „Das Buch von der fehlenden Ankunft“
Zitat aus dem Gedicht: „Der Tod stimmt mich nicht traurig“

Seit 2011 tobt in Syrien dieser verheerende Krieg, dem hunderttausende Menschen zum Opfer fielen und der Millionen in die Flucht zwang. Darunter auch die junge syrische Dichterin Lina Atfah: 1989 in Salamiyah geboren, kam sie 2014 über den Libanon nach Deutschland. Sie hatte schon früh Repressalien erfahren müssen: Bereits  die Texte und Gedichte der 17-jährigen waren dem Assad-Regime aufgestoßen. 2006 wurde sie beschuldigt, Gotteslästerung und Staatsbeleidigung begangen zu haben. Erst nach einer langen Zeit des Wartens erhielt sie 2014 die Erlaubnis zur Ausreise.

Wie es ist, seine Heimat unfreiwillig verlassen zu müssen, wie es ist „Am Rande der Rettung“ zu stehen, einer Rettung, die Leib und Leben meint, aber die Seele zerreißt, das thematisiert Lina Atfah in dem Gedicht „Am Rande der Rettung“:

„…Ich nahm Abschied von allen Lieben
und umarmte zum letzten Mal die Seele des Ortes…“

Zugleich mit der Bilanz der Dinge, die sie zurücklässt, offenbart sich ihr, der Dichterin und Studentin der arabischen Literatur, die zeitweilige Ohnmacht der Sprache:

„… ich ordnete die Dinge meines Herzens
das Schreiben gehorchte mir nicht
meine Sprache umarmte meinen Wunsch nicht
meine fernen Erinnerungen beugten sich über meine Gegenwart…“

Es ist die Ohnmacht der Sprache und die spürbare Heimatlosigkeit, die eine Dichterin, die mit und in ihrer Sprache lebt, doppelt trifft. Nino Haratischwili, die zu diesem ersten in Deutschland erschienen Lyrikband von Lina Atfah ein Vorwort beigetragen hat, schreibt darin:

„Die Erfahrung, aus der Heimat fliehen zu müssen, ist, so denke ich, in jeder menschlichen Biografie ein harter Schnitt, eine Zäsur, ein Teilen in Davor und Danach, aber für einen Autor ist es eine doppelte Entwurzelung, ein Verlust der Sprache und somit ein Sprung in die Unerträglichkeit des Ungewissen.“

Auch davon erzählt „Das Buch von der fehlenden Ankunft“, von jenen, die wie in dem gleichnamigen Langgedicht „nach einem verlorenen Paradies“ suchen, die die „Narben des Abschieds tragen“, die schlicht und einfach Opfer sind:

„Wir flohen vor dem Krieg, doch dieser Krieg ist nicht
Täuschung oder List
er ist die Geschichte brutaler Gewalt in Zeiten der Blindheit
als bräuchte der Tod eine List!“

Mehr noch als die andauernden Fernsehbilder aus Syrien von zerstörten Städten schreiben sich einem diese Gedichte ins Herz, machen begreif- und erfassbar, was dies alles für die Betroffenen und für die Menschheit bedeutet. Lina Atfah klagt an, benennt zornig den Irrsinn des Krieges, beweint in ihren Zeilen die Kinder, die ihm zum Opfer fallen:

„Regen löscht das Feuer in den Leichnamen der Kinder
der uns entfachende Regen, Regen, der jetzt schreibt
für jede Stirn gibt es Patronen
zwei Mädchen die sich schwesterlich die Landeswunden teilen
und unser Unglück teilen“

(Auszug aus: „Lin und Leila und Der Wolf“)

Dass „Das Buch von der fehlenden Ankunft“ nun im Pendragon Verlag erscheinen konnte und somit Lina Atfah ein wenig auch im deutschen Literaturbetrieb ankommen konnte, das ist auf ihr Talent zurückzuführen, aber auch dem Projekt „weiter schreiben“ zu verdanken: Dort finden Autorinnen und Autoren aus Krisengebieten eine Plattform. Denn:

„Weiter schreiben zu können heißt aber auch weiter gelesen zu werden. Denn das Schreiben und das Gelesenwerden gehören zusammen. Man schreibt nicht für sich, man schreibt aus sich heraus. Für Autor*innen ist es elementar, dass der Prozess des Schreibens nicht abbricht. Schreiben ist nicht nur eine Kunst, es ist auch eine Lebensform, eine Art, die Welt wahrzunehmen, sich auf sie einen Reim zu machen und sich darüber in Beziehung zu setzen mit ihr. Das gilt für Autor*innen aus Krisengebieten in besonderem Maße. Für sie ist der Schreibprozess durch die politische Situation nicht nur unterbrochen, sondern manchmal sogar lebensgefährlich. Mussten die Künstler*innen ihr Land oder ihre Region verlassen, bricht ihnen zudem der eigene Sprachraum weg.“

In dem schön gestalteten Band des Bielefelder Pendragon Verlages finden sich die Gedichte von Lina Atfah auch in arabischer Schrift, manche zudem in zweifacher Übertragung in die deutsche Sprache, was den Zugang zu ihrer Lyrik besonders interessant macht. So ist es spannend zu lesen, wie unterschiedlich beispielsweise Joachim Sartorius und Dorothea Grünzweig ihre Akzente bei einen Gedicht über den Umgang mit Tod und Gewalt setzen. Insgesamt zwölf Übersetzer und Autorinnen und Autoren, die die Gedichte übertragen und nachgedichtet haben, werden aufgeführt, darunter auch Jan Wagner und Julia Trompeter, Suleman Taufiq und Osman Yousufi.

Dadurch kann sich auch die ganze Spannbreite von Lina Atfahs Schreiben in der deutschen Sprache entfalten: Denn neben den Gedichten, die eine zornige, bittere Anklage gegen den Krieg und von politischer Wucht und Klarheit sind, beherrscht die Dichterin auch die Kunst der sinnlichen, orientalischen Dichtung, lebensprall, poetisch und voller Schönheit:

„ich berausche mich an mir
ich beobachte wie die Finger des Schattengottes mich zweimal gestalten
hier im Schatten des Stoffes
und hier im Text, wenn er zur unschuldigen Falle wird,
um das listige Gemälde zu verführen!“

Informationen zum Buch:

Lina Atfah
Das Buch von der fehlenden Ankunft
Pendragon Verlag
Gebunden, Lesebändchen, 152 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-86532-641-6