Alice Grünfelder: Jahrhundertsommer

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman. Alice Grünfelder schreibt über eine Familie auf der Schwäbischen Alb, die sich gegen Armut, soziale Ächtung und das Schicksal an sich stemmt.

„Und so schön war es den ganzen Sommer über und auch im Herbst, als auf der Schwäbischen Alb die Wälder in gelbem und feuerrotem Licht schwammen.“

Alice Grünfelder, „Jahrhundertsommer“


Es währt nicht lang, das kleine Glück von Magda: Nur einen heißen Jahrhundertsommer lang, der abends die Alb glühen lässt, spürt sie diese Wärme „wie ein Strohfeuer“ in ihr, ist sie verliebt, beinahe wie ein Teenager. Doch dann verschwindet John, der amerikanische Soldat, wort- und spurlos Richtung Vietnam, lässt die 40jährige mit einem „Dergel“, einem „Balg“ zurück. In ihrem Dorf ist Magda damit doppelt gebrandmarkt: Als „Geschiedene“, die sich von einem „Ami“ ein Kind anhängen ließ.

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Die Enge der schwäbischen Dörfer

Scharlachrote Buchstaben gab es in dieser urschwäbischen Gegend zwar noch nie. Aber „gschwätzt“ wird noch immer, in dieser Enge der Dörfer, wo jeder jeden kennt, über jene, die nicht in die gängigen Vorstellungen passen. Es ist auch ein Stück meiner Kindheit und Jugend, in die die Schriftstellerin Alice Grünfelder mit ihrem neuen Roman „Jahrhundertsommer“ entführt. Nur wenige Sätze genügen, um mich in die 70er- und 80er zurückzuführen:

„Jetzt also hatten sie endlich ein eigenes Haus in der neuen Siedlung, gleich neben dem Libellenrain, wo die Reichen lebten. Ihre Neubausiedlung grenzte aber nicht direkt an den Wald, sondern ging über in weite Wiesen und Äcker. Manchmal versprühten Bauern ihren Dung, das roch dann in der ganzen Siedlung.“

Der Traum der Eltern von Leuten meiner Generation vom eigenen Häusle, die Not der Kriegs- und Nachkriegszeit immer noch im Nacken, als die Großmütter selbst noch Socken stopften, die mehr Löcher hatten als Wolle, dieses Credo vom „Schaffa, schaffa, Häusle baua ond net nach de Mädla schaua.“ Der Wunsch, am Wirtschaftswunder teilzuhaben. Und wem das nicht gelang, dem hing der Ruf nach, selbst schuld zu sein. Am Gymnasium meiner oberschwäbischen Kleinstadt-Heimat kursierte zudem ein besonderer Spruch: „Malaria, Cholera, von dr Alb ra“. Die Schwäbische Alb galt als besonders rückständig. Das Karstgebirge ist eine der wasserärmsten Regionen Deutschlands, das Leben für die Landwirte war hart. Eine raue Landschaft, die einen rauen Menschenschlag hervorbrachte. Lebensgewohnheiten, geprägt von harter Arbeit, den engen Grenzen der Kirche und zugleich von den Sagen und Mythen der Ahnen – all das schwingt in „Jahrhundertsommer“ mit.

Von Armut und Widerstandskraft

Alice Grünfelder erzählt die Geschichte einer kleinen Familie, die immer außen vor bleibt, die kämpfen muss, selbst um das Notwendigste, sie erzählt von gescheiterten Lebensplänen und misslungenen Fluchten, aber auch von einer zähen Widerstandskraft, die schwäbisch-stoisch die größten Schläge einstecken lässt. Die Geschichte setzt ein mit Magda in den 60er-Jahren, die von ihrem „Alten“, wie sie ihn dann nur noch abschätzig-zornig nennt, wegen einer jüngeren Frau sitzengelassen wird. Es ist jedoch nicht der untreue Mann, dem die Dorfgemeinschaft etwas anhängt, Magda selbst werde schon ihren Anteil daran haben, wird gemunkelt. Und wird als „Geschiedene“ fortan gemieden. Tochter Ursula flüchtet sich schnell selbst in den Ehehafen, wird schwanger, muss von Thomas geheiratet werden:

„Jetzt bringst du uns noch die Geschiedene ins Haus“, hatten seine Eltern gezetert.
„Nur eine Evangelische wäre noch schlimmer gewesen, dann hätten sie mich verstoßen, das haben sie uns von klein an eingetrichtert“, hatte Thomas Ursula erzählt.

Ursula, die lange mit der Mutter hadert, widerfährt schließlich das gleiche Geschick, auch bei ihr währt das Familienglück im eigenen Haus (in der nach Dung riechenden Siedlung) nicht lange, auch sie wird gegen ein jüngeres Modell eingetauscht. Ihre Halbschwester Ellen, Abkömmling der einzigen Liebe Magdas, scheint es klüger anzustellen: Sie spart eisern ihr Geld, das sie mit Babysitting verdient, um nach Paris zu gehen. Am Ende, als Magda bereits 80 Jahre alt ist, kommt Ellen nach dem Unfalltod ihres Partners mit einem kleinen Kind, aus Not nach zu ihrer Mutter zurück:

Sie schrieb Julia, wie die Leute in Beissweng die Straßenseite wechselten, hinter vorgehaltener Hand tuschelten, so wie immer, so wie früher. Denn ihr Kind hatte dunklere Haut, schwarze Kraushaare, schwarze Kugelaugen.
„Von wem hat sie das Balg?“
„Dass die sich überhaupt traut, zurückzukommen!“

Alice Grünfelder erzählt abwechselnd aus der Perspektive dieser drei Frauen aus drei Generationen über Frauenleben, unerfüllten Wünschen, Hoffnungslosigkeit, die im Falle Magdas bis zum Suizidversuch führt, aber auch vom Überleben in einer feindlichen Umgebung. Man zieht beim Lesen innerlich den Hut vor diesen Frauen, die sich durchbeißen, sei es mit dem Bemalen von Spielfiguren in Heimarbeit, als Marktfrau mit Gemüse aus dem eigenen Garten, als Avon-Beraterin und unterbezahlte Fußpflegerin im Altenheim oder als ausgebeutetes Au Pair-Mädchen in Frankreich.

Drei Frauen und ein Mann

Mit Viktor, Magdas Enkel, Ursulas Sohn, bringt Alice Grünfelder noch eine männliche Perspektive ins Spiel: Auch er ein „Looser“, der schon in jungen Jahren im Alkoholentzug landet, aber auch er einer, der sich immer wieder aufrappelt. Und einer, der am Ende, auf beinahe schon skurrile Weise, die Frauen seiner Familie kurz aus der schwäbischen Armut reißt: Als an Magdas Haus schon die Eternit-Platten abfallen, als in seinem „Elektrofachgeschäft“ die Kunden ausbleiben und Ellen ohne Geld in Frankreich sitzt, kommt Viktor die rettende Idee: „Grün ist die Hoffnung“ lautet das letzte Kapitel, grün ist der Hanf, den er mit Hilfe „seiner“ Frauen in einer Lagerhalle anbaut und gewinnbringend vertickt. Natürlich, und das scheint typisch für diese Familie, geht auch dieses Geschäft irgendwann daneben, fliegt alles auf.

Doch im letzten Kapitel steht Magda, wie zu Beginn des Romans, vor einem Spiegel – nur dass sie sich diesmal nicht überlegt, was sie beim Ausflug auf ein Dorffest mit ihrer Putzkolonne anziehen soll, sondern welche Kleidung für das Gefängnis taugt. Doch Magda ist eine andere geworden, in diesem harten Leben:

„Da muss sie also erst achtzig werden, um gefragt zu werden, ob sie Probleme habe. Die können sie alle mal, dachte sie (…). Es klingelte. Sie ging hinaus. Zwei Jahre Urlaub auf Staatskosten. In Gotteszell.“

Es ist eine Stärke dieses Romans, dass er Figuren nahebringt, die zu Menschen werden: Magda, Ursula, Ellen und Viktor. Man muss sie nicht mögen, sie haben ihre Schwächen, ihre dunklen Seiten, Viktor, der Typ, der sich einfach hängen lässt, Ursula, die sich in Glückserwartung an den jeweils greifbaren Mann hängt, Magda, die ihre Schroffheit an Ellen auslebt. Doch sie werden von Alice Grünfelder so nah- und greifbar geschildert, dass sie förmlich aus dem Buch heraustreten.

Die Sprache transportiert die Mentalität der Gegend

Das bewirkt auch Grünfelders Sprache: Nicht literarisch überhöht, direkt, mit leisem Humor, viel Mutterwitz und dezent eingestreuten Mundart-Sprengseln, die die Handlung, die auch in anderen Landstrichen stattfinden könnte (auch wegen der geschilderten Mutlangen-Proteste wurde ich ab und an beim Lesen an den „Dorfroman“ von Christoph Peters erinnert, ähnliches Milieu, andere Gegend), ins Schwäbische verortet. Die Sprache transportiert die Mentalität einer Gegend, die trotz – oder gerade wegen ihrer Rauheit – eine ganz eigene Anziehungskraft hat.

„Jahrhundertsommer“: Ein Dorfroman, ein Anti-Heimat-Roman, vor allem aber auch ein Gesellschaftsroman, der durch die Verknüpfung der verschiedenen Ebenen auch verschiedene gesellschaftliche Themen anspricht, ohne überfrachtet zu wirken: Alleine Magda führt uns vor Augen, was Armut, gerade auch Altersarmut bedeutet – und dass sie, sowohl in der Literatur als auch im „echten Leben“ nicht wegzuleugnen ist.


Bibliographische Angaben:

Alice Grünfelder
Jahrhundertsommer
dtv Verlag, 2023
ISBN: 978-3-423-28345-8

Homepage der Autorin: https://www.literaturfelder.com/

Christoph Peters: Dorfroman

In seinem „Dorfroman“ rückt Christoph Peters die Provinz in den Mittelpunkt – und zeigt, wie die Kernkraft ein Dorf, eine Familie, Freundschaften spaltet.

„Obwohl nichts mehr so ist wie zu der Zeit, als ich hier aufgewachsen bin, habe ich oft darüber nachgedacht, zurückzukehren. Weniger, weil ich noch immer unter Heimwehattacken leide oder mir andernorts etwas Bestimmtes fehlt. Wahrscheinlich würde mir in Hülkendonck nach wenigen Wochen weit mehr fehlen als überall, wo ich nach meinem Weggang länger gelebt habe. Trotzdem: Nirgends sonst hat sich je wieder dieselbe Vertrautheit mit Landschaft, Wetterverhältnissen, Sprachmelodie eingestellt. Am Rheinufer zu sitzen, mit unserem Haus im Rücken aufs Wasser zu schauen, erscheint mir zumindest für Momente wie ein Ausweg aus jeglicher Lage.“

Christoph Peters, „Dorfroman“


Der Heimatbegriff, häufig missbraucht, irgendwie abgenutzt, zwiespältige Gefühle hervorrufend. Und dennoch einer dieser wirkmächtigen Wörter, mit so viel Emotionen aufgeladen. Heimat, das ist für viele zugleich auch die Provinz, aus der man flieht, Zuflucht sucht und scheinbare Freiheit in den Städten. Provinzroman und Heimatdichter: In der zeitgenössischen Literatur ist man damit durch. Umso mehr erscheint es fast wie ein tollkühnes Wagnis, was Christoph Peters hier mit seinem jüngsten Roman unternommen hat: Er schrieb einen „Dorfroman“ und nannte ihn auch ganz keck so.

Doch dieses starke, ruhige Werk zeigt, was Christoph Schröder bereits in einer „Polemik“ 2011 in der „Zeit“ schrieb:

„Von ländlichen Gefilden in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur geht eine weitaus größere Sprengkraft aus als von den urbanen Selbstverhätschelungen; ein weitaus größerer Realitätsgewinn als von all diesen Erzählungen von Leuten, die mit Flugzeugen über die Kontinente fliegen, um irgendwelche Gender-Abenteuer zu erleben.“

Für Sprengkraft sorgt in dieser Entwicklungsgeschichte ein Bauwerk, das von Beginn an höchst umstritten war: Der „Schnelle Brüter“ in Kalkar am Niederrhein, der 1985 fertiggestellt wurde, jedoch nie in Betrieb ging und später Teil eines Freizeitparks wurde. Der Atomreaktor sorgt auch für einen bodentiefen Riss durch das ganze Dorf Hülkendonck, in dem der Erzähler gut behütet aufwächst: Die Eltern, längst dem Bauernstand entwachsen, sind der neuen Technik gegenüber aufgeschlossen, die Landwirte hingegen wehren sich gegen Enteignung, Landwegnahme, Veränderung.

Drei abwechselnde Zeitebenen

Peters erzählt die autofiktionale Geschichte „seines Dorfes“ und seines Protagonisten auf drei Zeitebenen, die einander abwechseln: Aus der Perspektive des Kindes, das gutgläubig und blauäugig die Glaubenssätze der Eltern und zahllosen Tanten nachbetet, das sich vor der Roten Armee Fraktion mehr fürchtet als vor einer unkalkulierbaren Technik. Der Jugendliche verliebt sich in Juliane, die auf der „anderen“ Seite steht, eine junge Frau, vom autoritären Vater gebrochen, die in einer Kommune ein anderes Leben, das Glück sucht und doch nicht findet. Und dann, Jahrzehnte später, führt der erwachsene Sohn die Leser zurück zu den alt gewordenen Eltern, erinnert sich an die Jahre des Aufbruchs und der Zerrissenheit.

Das alles ist ganz gelassen und ohne falsche Sentimentalität erzählt, selbst das große Trauma – der Suizid Julianes, die sich, nachdem die Polizei Kommune und Träume weggeknüppelt hat, ins Wasser begibt – wird beinahe nüchtern verhandelt. In dieser Ruhe liegt jedoch die Kraft dieser Art des Erzählens: Sie lässt Platz für subtile Ironie, insbesondere dort, wo das Kind aus Kinderaugen über die Erwachsenen berichtet, die Krieg und Hitler verdrängen wollen, angetrieben vom Wunsch, „dass die Kinder es einmal besser haben“. Sie lässt Platz für diese Zwischentöne, Zwischengefühle, die wohl jeder kennt, der in „der Provinz“ aufwuchs: Man möchte nichts als weg von dort, der Enge entfliehen und hängt dennoch an einem unsichtbaren Faden, der einen mit einem Teil seines Daseins an die Provinz, die Heimat, das Elternhaus bindet.

Roman besticht durch Realitätsnähe

Und nicht zuletzt besticht dieser Roman durch seine Realitätsnähe: Selten findet man in literarischen Werken den normalen Familienalltag, das Denken der Mittelschicht, die Gefühlslage und Gedankenwelt der Nachkriegsgeneration und ihrer Nachkommen so exakt beschrieben wie in diesem „Dorfroman“. Peters ist Jahrgang 1966, ebenso wie ich – und an so vielen Stellen musste ich nicken, schmunzeln und mich wundern: Ob in Hülkendonck oder in Burgrieden oder in einem anderen Dorf der BRD: Die Verhältnisse ähnelten sich, die Glaubenssätze glichen sich, die Uhren tickten gleichartig. Insofern ist der „Dorfroman“ auch großartiges Abbild unserer Zeit.

Das Buch ist auch psychologisch stimmig bis hin zum letzten Absatz, der die Zerrissenheit des Erwachsenen aufzeigt, der ein langes Pfingstwochenende bei den Eltern kaum aushalten kann, fluchtartig zurückfährt nach Berlin und doch vom Gedanken geplagt wird, die Alten dort allein zu lassen:

„Ich werde trotzdem ins Auto steigen, zurück nach Berlin fahren, wo ich auch nicht zu Hause bin.
Es ist falsch.“


Zum vertieften Nachlesen: Die Rezension von Christoph Schröder in der Zeit.

Christoph Peters ist auch bildender Künstler. Auch davon gibt es auf der Homepage etwas zu sehen:
https://www.christoph-peters.net/

Informationen zum Buch:

Christoph Peters
Dorfroman
Luchterhand Verlag, 2020
Hardcover mit Schutzumschlag, 416 Seiten, 22,00 Euro
ISBN 978-3-630-87596-5