
„Sie war sich sicher, jetzt, wo sie wach war. Denn wach war sie. Das war Wachsein. Sich räkeln, mit den Finger wackeln – sie fühlte sich von dem zusammengeknüllten, dünnen rauchgrauen Bettzeug noch einigermaßen geschützt vor dem plötzlichen Angriff der roten Vorhänge mit den weißen und grünen Blumen, dem Bild mit der Mutter und dem Hund, die mit einem Baby schmusten, und der Kommode mit den blauen Papierblumen darauf. Aber auf keinen Fall gab es einen Zweifel daran, dass sie jetzt ernsthaft erwacht war.“
Gwendolyn Brooks, „Maud Martha“
Ein langsames Erwachen in eine Welt, die ebenso mütterliche Sanftmut, Spieltrieb und Freude wie aggressives Rot, Streit und Hass zu bieten hat – das kleine Zitat aus „Liebe und Gorillas“, einer der Vignetten aus dem Leben der Maud Martha Brown, zeigt die virtuose Meisterhaftigkeit der Schriftstellerin Gwendolyn Brooks. In ihrem einzigen Roman, 1953 in den USA erschienen und nun erstmals in deutscher Übersetzung vorliegend, schildert sie ein Frauenleben, den Alltag einer Frau, mit vielen kleinen Spotlights auf Alltägliches – ohne je in ihrer Sprache alltäglich zu werden. Die Poesie der Worte und Bilder durchdringt dank der gelungenen Übersetzung von Andrea Ott die rauchgraue Umwelt, in der Maud Martha leben muss. Gwendolyn Brooks, die Lyrikerin, die 1950 als erste Schwarze Autorin den Pulitzerpreis für ihren Gedichtband „Annie Allen“ erhielt, überrascht und begeistert in diesem Prosatext, den die Genrebezeichnung Roman nur von ungefähr trifft, mit der Poesie ihrer Sprache und einem besonderen Blick auf die Welt, wie ihn Lyrikerinnen innehaben, die aus kleinen Szenen große Geschichten erschaffen.
Autofiktionaler Text der Pulitzer-Preisträgerin
„Maud Martha“, ein autofiktional geprägter Text, führt durch das Leben einer Frau, die in den 1940er-Jahren in der South Side von Chicago inmitten der Schwarzen Community aufwächst. Wie Schlaglichter setzt Gwendolyn Brooks die einzelnen Geschichten auf verschiedene Phasen eines Frauenlebens vom kindlichen Erleben der Erwachsenenwelt bis hin zum eigenen Dasein als Mutter. Diese Vignetten könnten wie poetische Kurzgeschichten jede auch für sich alleine stehen, lose verbunden durch die Protagonistin ergeben sie im Zusammenhang den Roman eines Lebens.
Maud Martha träumt von der ersten und der großen Liebe, von einem Job in New York, von einer eigenen Wohnung, die sie in Gedanken nach ihrem Geschmack einrichtet. Träume sind keine Angelegenheit der Hautfarbe, die Realität dagegen schon: Immer wieder werden ihr Grenzen aufgezeigt, wird sie in von einer Gesellschaft, in der Machtverhältnisse durch Hautfarbe und soziale Zugehörigkeit definiert sind, an ihren Platz verwiesen, sei es direkt, indem sie beim Einkaufen nicht bedient wird, seien es die indirekten Verletzungen durch unbewusste Worte, Gesten, Blicke. Durch den beinahe schon nebensächlichen Ton, in dem Gwendolyn Brooks solche Vorkommnisse in ihren Roman einfließen lässt, werden sie umso gewichtiger: Es wird spürbar, wie „alltäglich“ diese Art von Diskriminierung war (und bis heute noch ist). Und wie sie dennoch immer wieder bis ins Mark trifft.
Nachwort von Daniel Schreiber
„Wie geht man mit der machtvollen inneren Stille unterdrückter Wut um?“ – diese Frage stellt Daniel Schreiber in seinem Nachwort zu „Maud Martha“. Und gibt eine treffende Antwort: „Maud Martha gibt keine radikalen Antworten auf diese Fragen. Stattdessen hört Brooks den emotionalen Echos dieses Erlebens nach, macht sie poetisch erfahrbar und setzt ihnen ein fast schon spirituell zu nennendes Vertrauen in die eigene menschliche Würde entgegen.“
Im viel zu frühen Erwachen aus der Kindheit in eine feindlich gesinnte Umwelt hinein schließt sich bei dieser „Ballade gelebten Lebens“ (Daniel Schreiber) der erzählerische Kreis: Ist es zunächst Maud Martha selbst, die aus dem Schlummer in eine wenig freundliche Umgebung erwacht, so muss sie später als junge Mutter hilflos zusehen, wie ihrer Tochter Paulette die Kindheitsträume genommen werden. In einer der letzten Kürzestgeschichten dieses anrührenden Werkes werden Martha und Paulette wegen ihrer Hautfarbe vom Weihnachtsmann im Einkaufsladen ignoriert. Wie Gwendolyn Brooks die Geschichte beendet, zeigt jedoch nicht nur die Würde, die sowohl ihr als auch ihrer Hauptfigur innewohnen, sondern ebenfalls ihren Mutterwitz:
„Paulette spürte den Blick ihrer Mutter und schaute zu ihr hoch. Maud Martha hätte am liebsten geheult.
Lass ihr noch dieses himmlische Land!
Lass ihr noch die Märchen, wo die Hexen am Ende immer getötet werden und Santa der Herr des Winters ist, freundlich, ein reines Wesen, das niemals schwitzt, niemals etwas Dummes oder Erfolgloses tut oder sagt, niemals komisch aussieht und niemals gezwungen ist, an der Kette zu ziehen, um die Toilette zu spülen.“
„Maud Martha“: Eine wundervolle Wiederentdeckung, die auch dazu einlädt, die Lyrikerin Gwendolyn Brooks kennenzulernen – leider sind mir momentan jedoch keine Übertragungen ihrer Lyrik in die deutsche Sprache geläufig.
Informationen zum Buch:
Gwendolyn Brooks
Maud Martha
Übersetzt von Andrea Ott
Manesse Verlag, 2023
ISBN: 978-3-7175-2564-6