Theodore Dreiser: Sister Carrie

Erst 1981 wurde der erste Roman von Theodore Dreiser in der vollständigen Fassung verlegt – und erst jetzt liegt diese in deutscher Übersetzung vor.

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„Welche menschlichen Tragödien ein derartiges Umfeld auslöst, wird oft übersehen. Die Schönen und Mächtigen schaffen eine Atmosphäre, die sich ungut auf die Kleinen und Unbedeutenden auswirkt, eine unmittelbar spürbare Atmosphäre. Schlendere an den prachtvollen Villen, den herrlichen Equipagen, den goldglitzernden Geschäften, den Restaurants und Nachtclubs vorbei, atme den Duft der Blumen, Seidenstoffe, Weine ein, trinke vom Lachen, das aus in Luxus gebetteter Kehle klingt, von Blicken, die wie kühne Speere funkeln, spüre das Lächeln, das wie ein glänzendes Schwert schneidet, und betrachte den von Macht und Einfluss beschwingten Gang und du begreifst, aus welchem Stoff die Welt der Reichen und Mächtigen gemacht ist. Der Einwand, dass das nicht das Reich der Verheißung ist, nutzt wenig, solange der Großteil der Menschen davon fasziniert ist und es für das einzig Erstrebenswerte hält.“

Theodore Dreiser, „Sister Carrie“

Auch auf Carrie, die junge naive Schöne vom Land, übt diese Welt des Luxus ihre Faszination aus. Die junge Frau, die versucht, in Chicago Arbeit zu finden und Fuß zu fassen, erstickt förmlich in der ärmlichen Enge der Wohnung ihrer Schwester und des Schwagers, bei denen sie zunächst unterkommt. Sie ist ein Mädel vom Lande, weder berechnend noch raffiniert, aber mit der insgeheimen Sehnsucht nach einem „besseren Leben“. Fast schon etwas herablassend führt der amerikanische Romancier die Hauptfigur seines Debüts ein, an der sich in der Literatur und in damaligen Leserkreisen die Geister schieden – die Andeutung von Sexualität, eine Heldin, die ohne Trauschein mit Männer zusammenlebte, all dies erschreckte das prüde Amerika.

„Caroline oder Sister Carrie, wie die Familie sie beinahe zärtlich nannte, verfügte weder über große Beobachtungsgabe noch über analytischen Verstand. Ihre hervorstechende Eigenschaft war ein ausgeprägter, wenn auch nicht besonders aggressiver Egoismus. Voll jugendlicher Flausen, nichtssagend hübsch wie viele in diesem Alter, mit einer Figur, die durchaus Potential versprach, und einem Blick, der auf eine gewisse Intelligenz schließen ließ, war sie das Inbild der amerikanischen Mittelklasse in der dritten Einwanderergeneration. (…) Eine schlecht gerüstete Glücksritterin, die voll vager, wilder Eroberungsphantasien in die Begegnung mit der geheimnisvollen Stadt zog, um sich diese untertan zu machen, bis sie wie ein reuiger Sünder vor dem eleganten Damenschuh zu Kreuze kriechen würde.“

Einige hundert Seiten später ist es dann so weit: Carrie ist ein gefeierter Theaterstar, die Reichen, Neureichen und die „demi monde“ New Yorks liegen ihr tatsächlich zu Füßen. Und ihr Schöpfer, der Autor, geht etwas freundlicher mit ihr um, schildert, wie die im Grunde gutmütige und lebenskluge Frau trotz ihres „moralisch verwerflichen“ Lebensweges eine suchende Seele bleibt – eine, die sich nach anderen Werten sehnt, die sich auch, im Gegensatz zu den beiden Männern, mit denen sie zusammenlebte, geistig weiterentwickeln will.

Nachwort von Ilija Trojanow

Die Zitate geben schon einen dezenten Hinweis: Ein begnadeter Autor war Theodore Dreiser (1871 – 1945) nicht. Ilija Trojanow spart dies in seinem Nachwort zur ersten deutschen Übersetzung der vollständigen Carrie-Fassung nicht aus:

„Man könnte Theodore Dreiser unterschätzen, denn seine Schwächen sind evidenter als seine Stärken. Gelegentlich sind seine Plots konstruiert, seine Figuren einfach gestrickt. Er liebt die Wiederholung und es wäre unfair, jedes Wort – oder jeden Satz – auf die Goldwaage zu legen: Sein Stil ist stellenweise schwerfällig und weitschweifig.“

Und dennoch wurde und wird Theodore Dreiser, der als einer der wichtigsten Vertreter des amerikanischen Naturalismus gilt, von Schriftstellern verehrt, werden einzelne seiner Bücher in den einschlägigen „Bestenlisten“ geführt („Sister Carrie“ beispielsweise hier in „The hundred best novels“ im „Guardian“). Warum also „Schwester Carrie“ lesen – am besten im Galopp, wie Saul Bellow riet?

Ein Objekt der Begierde

Es ist weniger die Figur der Carrie, die mich an diesem Roman faszinierte, ja, im Grunde blieb sie mir fremd, ein wenig blass. Viel eindrücklicher, beinahe auch herzergreifend, beschreibt Dreiser den Fall ihres zweiten Liebhabers, eines einigermaßen gut situierten Geschäftsmanns aus Chicago. Er, der ein sinnentleertes Leben als Barmanager führt, in einer kalten Ehe lebt, für seine Kinder vor allem als Geldgeber fungiert und keine tiefergehenden menschlichen Beziehungen pflegt, meint, Carrie „besitzen“ zu müssen: Die junge Frau erscheint ihm wie die Verheißung auf ein besseres Leben, sie wird – wie später auch am Theater – zu einem „Objekt“, einem Objekt der Begierde.

Hurstwood begeht einen Diebstahl, entführt Carrie förmlich, versucht, in New York eine neue Existenz aufzubauen – und scheitert kläglich. Dieser langsame Niedergang eines Mannes, der am Ende in die Obdachlosigkeit und zum Suizid führt, die Schilderung seiner Verwahrlosung, der zunehmenden Depression, die mit dem Abstieg eintritt, all dies beschreibt Theodore Dreiser, der sich als Sozialist stets für die Anliegen der Unterprivilegierten einsetzte, mit direkter, ursprünglicher Kraft.

„Vielleicht“, so schreibt Trojanow, „liegt ja Dreisers Kraft gerade in dieser Empathie begründet. Weder seziert er Hurstwood bis aufs Skelett noch durchleuchtet er ihn mit dem Salonblick eines geübten Psychologen, Er fühlt mit und lässt uns mitfühlen, darin Victor Hugo ähnlich, oder hierzulande Heinrich Böll, zwei weitere höchst einflussreiche Autoren, die den hochgestochenen Anforderungen einer elitären Literaturkritik nicht zu genügen schienen. Empathie als literarische Qualität fällt oft unter den reich gedeckten Tisch des Ästhetischen.“

Wer also bereit ist, auch einige etwas zähe Stellen in Carrie zu überstehen, der wird belohnt – durch einen Roman, der schon sehr früh und spürbar kritisch den „amerikanischen Traum“ durchleuchtete.

Informationen zum Buch:

Theodore Dreiser
Sister Carrie
Übersetzt von Susann Urban
Die Andere Bibliothek, 2017
ISBN: 978-3-8477-0392-1

Albert Londres: Ein Reporter und nichts als das

Albert Londres war das französische Pendant zu Egon Erwin Kisch. Tucholsky würdigte ihn “als Nummer für sich”. Ein rasender Reporter, ein brillanter Literat.

Londres„Er reist wie andere Opium rauchen oder Kokain schnupfen. Das war sein Laster. Er war abhängig von Schlafwagen und Passagierdampfern. Und nach jahrelangen unnötigen Fahrten durch die ganze Welt war er sich ganz sicher, daß weder ein noch so verführerischer Blick einer intelligenten Frau noch die Verlockung eines Geldschranks für ihn den teuflischen Charakter einer einfachen, rechteckigen, kleinen Zugfahrkarte hatten.“

Albert Londres, „Ein Reporter und nichts als das“


Liest man die Reportagen von Albert Londres, dann drängt sich der Vergleich zu einem anderen Reporter-Star dieser Zeit, Egon Erwin Kisch (1885-1948), förmlich auf. Während Kisch deutschen Journalisten bis heute ein Vorbild ist und seit 1977 der nach ihm benannte Preis für aufklärenden, investigativen und sprachlich niveauvollen Journalismus, vergeben wird, so ist Londres (1884 – 1932) das französische Pendant: Dort gilt er nach wie als Inbegriff des „rasenden Reporters“, seit 1933 gibt es den Albert-Londres-Preis für investigativen Journalismus.

Tucholsky würdigte den Reporter 1925 in der „Weltbühne“:

„Albert Londres ist eine Nummer für sich. Man stelle sich einen Egon Erwin Kisch vor, der nicht aus Prag stammt – das geht nicht –, also man denke sich einen gebildeten Mann, der von einer großen Reporterleidenschaft wirklich besessen durch die Welt getrieben wird. Londres ist ein Reporter und nichts als das: keine langatmigen Untersuchungen, keine exakten Dokumente, sondern: Wo ist etwas los? Ich will dabei sein! Ihr werdet lesen.”

Doch es musste fast 90 Jahre dauern, bis einige seiner ausgewählten Reportagen in deutscher Sprache erschienen. Vor allem „Die Andere Bibliothek“ kann sich einmal mehr dieses Verdienst anheften. „Ein Reporter und nichts als das“ – der Titel ist dem Tucholsky-Zitat entnommen – bündelt drei Reportagen des Franzosen, die verdeutlichen, warum er ein Vorbild für viele Journalisten – insbesondere jene, die die literarisch gehobene und politische Reiseberichterstattung pflegen – wurde.

Reportagen aus dem Herz der Finsternis

Die drei Reportagen „China aus den Fugen“ (1922), „Ahasver“ (1929/1930) und „Perlenfischer“ (1931) sind  journalistische Kunststücke und literarische Juwelen. Brillant geschrieben, von einer stilistischen Eleganz und formalen Vielfalt geprägt, reißen sie den Leser mitten hinein ins jeweilige Herz der Finsternis, nehmen ihn mit auf die Reise und übertragen auf ihn diese Mischung aus kontemplativen Flanieren, Schauen und Beobachten und der Atemlosigkeit, die eintritt, wenn die Ereignisse sich überstürzen und der Reporter sich plötzlich mitten im Auge des Sturms befindet.

Einer der berühmtesten Journalisten seiner Zeit

Unbeteiligt, unvoreingenommen, aber niemals distanziert blickt Londres, der seine Reporterkarriere beim „Le Matin“ begann, später bei Le Petit Journal und bei Excelsior zu einem der bestbezahlten Vertreter seiner Zunft wurde, auf die örtlichen Begebenheiten, auf die politischen Unruhen, die Ränke der Machthaber, das alltägliche Leid der Unterdrückten, gemäß seinem Wahlspruch:

Notre rôle nest pas dêtre pour ou contre, il est de porter la plume dans la plaie.“
– Unsere Rolle besteht weder in einem Dafür noch einem Wider, wir müssen die Feder an die Wunde setzen.

Dies tut Londres mit etlichen Berichten, die für Aufsehen, politische Diskussionen und Veränderungen sorgen, sei es über die französischen Straflager in Französisch-Guayana, die Zustände in Nervenheilanstalten oder aber auch sein Bericht über die Tour de France, wo er als einer der ersten einen Dopingfall aufdeckt.

Nachwort von Marko Martin

Zwar betonte er von sich selbst, ein Reporter sei stets unvoreingenommen, kenne keine Linie, außer der einzigen, der Eisenbahnlinie – doch Londres, so mag man wie Marko Martin im Nachwort des Buches vermuten, ist ein „Herzens-Anarchist“. Zuweilen verlässt er die Position des Beobachters und wirbelt gehörig mit, rettet nebenbei eine Kurtisane („China aus den Fugen“) oder ermahnt die Perlenketten tragenden Damen, angesichts ihres Schmucks („Perlenfischer“) nicht zu vergessen, wieviel Blut das Geschmeide die ausgebeuteten Perlentaucher kostet.

Auch wenn sich Albert Londres wohl gerne weltläufig und kaltschnäuzig gab – er war nicht „nur“ ein Reporter, sondern mehr als das. Spürbar wird dies in der umfangreichsten der drei Reportagen, in „Ahasver ist angekommen“. Obwohl kein Jude, wird die Sympathie des Reporters für das jüdische Volk in diesem Bericht, der ihn rund um die Welt führt, mehr als deutlich. Schon das Unternehmen an sich ist von sagenhaftem journalistischen Ehrgeiz – Londres reist 1929 über London in die Tschechei, die Karpaten und weiter via Czernowitz, Lemberg und Warschau nach Palästina. Er schildert die bedrückende Situation der Ostjuden, die Armut, die Ausgrenzung, die ewige Flucht, aber auch die Kluft zwischen orthodoxem Judentum und den jungen Zionisten, für die Palästina gleichzeitig Sehnsuchtsort und Heilsversprechen ist.

Auf den Spuren von Hiob und dessen Kindern

Auch für Londres ist Palästina Endpunkt der Reise, dort angekommen, gerät er mitten hinein in das politische Spannungsfeld zwischen Engländern, Arabern und Juden. Die Reportage, wenige Jahre vor seinem Tod entstanden, ist eines seiner Meisterstücke, eine eingehende Abbildung der bedrückenden Lebenssituation der osteuropäischen Juden kurz vor dem Massenmord.

„Polen, Rumänien sind aus Rußland hervorgegangen. Aber Polen und Rumänien haben aus Rußland ihren Vorrat an Antisemitismus erworben. Ein Jude ist dort immer ein Jude. Unter Umständen ist er ein Mensch, aber in jedem Fall ist er weder Pole noch Rumäne. Und wenn er Mensch ist, dann muss man ihn daran hindern, groß zu werden. Von der ganzen Geschichte der Juden hat Osteuropa nur die von Hiob behalten. (…). Das jüdische Problem ist kompliziert, aber ich glaube, daß es sich in einer Frage nach der Luft zusammenfassen läßt. Atmen oder nicht atmen können. Nicht mehr und nicht weniger.“


Verlagsinformationen zum Buch:

Albert Londres
Ein Reporter und nichts als das
Übersetzt von Petra Bail und Dirk Hemjeoltmanns
Die Andere Bibliothek, 2013
ISBN: 978-3-8477-0348-8


Oliver Hilmes: Berlin 1936

“Berlin 1936” – ein Beispiel des inzwischen so populären “Geschichtsbuchs light”. Das Buch bietet viele Anekdoten, aber keine vertiefte Auseinandersetzung.

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Bild von Thomas Ulrich auf Pixabay

„Und Adolf Hitler? Der Reichskanzler nimmt an dem Empfang seiner Regierung nicht teil. Wie alles in diesen Olympiatagen, so ist auch Hitlers Fernbleiben Teil einer Inszenierung. Er kultiviert das Bild des unermüdlich arbeitenden „Führers“ und treusorgenden Übervaters, dem Amüsement und Geselligkeiten nichts bedeuten. Hitlers Popularität erreicht im Sommer 1936 einen Höhepunkt und wirkt nun auch tief in die Arbeiterschaft hinein.“

Oliver Hilmes, „Berlin 1936. 16 Tage im August“


Geschichtsvermittlung, die zum Pageturner wird? Barbara Tuchmann kann es, Bill Bryson kann es und Florian Illies gelang mit seinem „1913- Der Sommer des Jahrhunderts“ ein Bestseller. An dem aktuellen Olympia-Buch des Historikers und Publizisten Hilmes erinnert nicht nur der Titel an den Illies-Coup – auch das Rezept ist ein ähnliches: Man nehme ein Ereignis, einen Zeitraum, eine Epoche, gruppiere um eine These eine Fülle von dokumentierten Anekdoten rund um mehr oder wenige berühmte Zeitgenossen und runde diese populäre Art der Geschichtsvermittlung durch einen gut lesbaren Erzählstil ab.

Geschichtsbuch light

Das perfekte Rezept für ein lesbares Geschichtsbuch light. Die Frage ist also nicht, ob man es lesen kann – ja, man kann, Hilmes ist ein geschickter Erzähler. Auch wenn der etwas redundante Hinweis darauf, dass sich „in wenigen Tagen“ das Schicksal von XY „ändern“ wird, die fröhlichen Tage überhaupt gezählt sind und bald ein Ende haben werden, mich als Leserin eher ärgert – Hilmes hätte es nicht nötig gehabt, durch solche Kniffe seine Leser bei der Stange zu halten.

Die Frage jedoch ist: Muss man es lesen? Während Illies, um das „Sommer-1913-Buch“ als Vergleichsmaßstab anzulegen, seine Anekdoten-Sammlung geschickt um eine These knüpft – nämlich jene, dass sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges an unterschiedlichen Orten und Plätzen der Welt Künstler aller Genres zu kreativen Höhenflügen aufmachten, bevor die Götterdämmerung eintraf – so fehlt es dem Buch von Hilmes im Grunde an einem Überbau, einer neuen Idee, einer neuen Erkenntnis, die es zu den Olympischen Spielen im Nazi-Regime geben könnte. Und dadurch ist es, wenngleich auch gut erzählt, am Ende doch nicht viel mehr als eine Anekdotensammlung – in der vieles angerissen, für meinen Geschmack aber zu wenig vertieft wird.

Olympiade als nationalsozialistische Leistungsschau

80 Jahre nach den sportlichen Wettkämpfen in Berlin ist dies flott erzählte Werk der Marke „Histotainment“ für den Verlag mit Sicherheit ein gelungener Marketingzug. Hilmes verknüpft mehrere Erzählstränge, die aus verschiedenen Perspektiven die Olympiade 1936, die nach Willen der Nazis eine Leistungs-Demonstration von Hitler-Deutschland und ein Festspiel der Propaganda werden sollte, beleuchten.

Während im Berliner Stadion die Athleten um Spitzenleistungen und Weltrekorde wetteifern, brüten in der Reichskanzlei Hitler und Konsorten bereits über Kriegsplänen und dem Bau von Konzentrationslagern (Joseph Goebbel in seinem Tagebuch: „Nach der Olympiade werden wir rabiat“). Der Schriftsteller Thomas Wolfe taumelt etwas orientierungs- und ahnungslos durch sein geliebtes Berlin, bis ihm, der selbst vom Antisemitismus amerikanischer Bauart angekränkelt ist, die Augen geöffnet werden über die wahren Absichten der menschenverachtenden Diktatur. Mascha Kaléko leidet derweil an Liebeskummer, Leni Riefenstahl überwallen erotische Gefühle im Stadion angesichts diverser Muskelpakete, während Martha Dodd, die Tochter des US-Botschafters um Penisse flattert „wie ein Schmetterling.“ Und in den Lokalen rund um den Kudamm noch einmal die „Roaring Twenties“ nachgeholt werden.

Einige substantielle Informationen fehlen

Weniger aus der Abteilung „Klatsch und Tratsch“ wäre in meinen Augen mehr gewesen – ich muss nicht unbedingt mit dem Schicksal jedes Gigolos, der mit dem Geld einer reichen Berlinerin einen Club eröffnet hatte, vertraut gemacht werden. Dagegen wären einige erläuternde Worte zum Schriftsteller Ernst von Salomon, der immerhin mehrfach zitiert wird, wünschenswert gewesen: So erweckt das wenige an Zitaten einen irreführenden Eindruck dieses Autoren, der immerhin in seiner Jugend am Rathenau-Mord beteiligt gewesen war. Und Gretel Bergmann, die jüdische Leistungssportlerin, die als „Alibi“ eigens für die Olympischen Spiele von den Nazis zurück nach Deutschland geholt wurde und dann doch nicht antreten durfte – sie wird nur in einem kurzen Absatz erwähnt.

Es mag nun kleinkariert erscheinen, solche Auslassungen aufzuzählen. Aber etwas mehr an mancher Stelle an vertiefendem Hintergrund, dafür an anderer Stelle Verzicht auf nur Angerissenes – und das Buch hätte an Substanz gewonnen.

Zwar gelingt Hilmes durch seine Verknüpfung von Sport& Politik, Kultur& Halbwelt und einigen Hinweisen auf die anhaltende Verfolgung von Juden, Sinti und Roma, Homosexuellen, politisch Andersdenkenden und Intellektuellen es durchaus, den widersprüchlichen Charakter dieser Berliner Tage vom 1. bis zum 16. August 1936 aufzuzeigen. Doch außer Atmosphäre lässt dieses Buch wenig zurück – ein Lesehäppchen, das vor allem anregt, Originaltexte über diese Olymiade 1936 und diese Zeit zu lesen.

Eine weitere Besprechung findet sich bei “Zeichen & Zeiten”.


Bibliographische Angaben:

Oliver Hilmes
Berlin 1936. 16 Tage im August
Siedler Verlag, 2016
ISBN: 978-3-8275-0059-5


Weiterführende Literatur:

 „Reisen ins Reich 1933 bis 1945“, Herausgeber Oliver Lubrich, Eichborn Verlag, 2004.

In dieser Sammlung mit dem Untertitel „Ausländische Autoren berichten aus Deutschland“ finden sich auch Texte der bei Hilmes oftmals erwähnten Diplomatentochter Martha Dodd wieder, die mit der Zeit und zunehmenden Erfahrungen mit der Nazi-Clique eine kritische Sicht auf die Dinge entwickelt. Später wird sie politisch aktiv und offenbar für den sowjetischen Geheimdienst tätig. Enthalten ist zudem die 1937 entstandene Kurznovelle von Thomas Wolfe, die auch im Hilmes-Buch Erwähnung findet: „I have a thing to tell you“. Wolfe schildert, wie bei seiner Ausreise aus Deutschland ein jüdischer Anwalt von den Nazis aus dem Zug gezerrt und verschleppt wird. Wolfe, Antisemit amerikanischer Machart und bis dahin großer Deutschland-Liebhaber, kehrt nie wieder in das „Reich“ zurück.
Neben zahlreichen kritischen bis hin zu entsetzten Stimmen beinhaltet dieses Buch auch Texte von Anhängern des Faschismus wie Svend Hedin und Wiking Jerk. Einige Namen, so Sartre und Camus, sind wohl mehr wegen ihrer Prominenz vertreten, ihre während der jeweiligen Deutschlandaufenthalte entstandenen Texte sind jedoch eher von geringer Aussagekraft über das „Dritte Reich“. Überraschend dagegen der frech-zynische George Simenon, der als Reporter unterwegs war („Hitler im Fahrstuhl“), spürbar wird die Beklemmung, die Virginia Woolf bei einer Reise durch Süddeutschland empfindet, Samuel Beckett berichtet voller Abscheu von seinen Erlebnissen mit den Deutschen.

Insgesamt sind 33 Autorinnen und Autoren in diesem Buch vertreten: Dadurch entsteht ein vielschichtiges, zeitgenössisches Bild vom Nationalsozialismus und den Deutschen, gesehen aus der Perspektive von außen.

Weitere Informationen  zum Buch bei „Die andere Bibliothek“.


„Ich war die große jüdische Hoffnung“, Gretel Bergmann, G. Braun Buchverlag

Gretel Bergmann, 1914 in Laupheim, Baden-Württemberg, geboren, war eine der besten deutschen Hochspringerinnen – und sie ist Jüdin (die alte Dame feierte vor wenigen Wochen ihren 102. Geburtstag!). 1933 tritt der Ariererlaß in Kraft: Die junge Sportlerin wird aus ihrem Verein ausgeschlossen, darf an keinen Wettkämpfen mehr teilnehmen, studieren darf sie auch nicht. So geht sie 1934 nach England – wo sie prompt britische Meisterin im Hochsprung wird. Als, wie es auch Hilmes schildert, die USA und andere mit dem Boykott der Olympiade drohen, sollten keine jüdischen Sportler zugelassen sein, holt man Gretel Bergmann unter Zwang „heim ins Reich“. Doch kurz vor den Wettspielen wird sie unter fadenscheinigen Gründen wieder ausgeschlossen – ihr Schicksal wurde verfilmt, wenn auch fiktional ziemlich „aufgepeppt“.

In ihrer temperamentvoll formulierten Autobiographie blickt die „verhinderte“ Olympiasiegerin auf diese Jahre zurück und ihre eigenen Ängste und Gewissensnöte zurück: Jeder Sieg bei den Wettbewerben vor der Olympiade war ein Sieg über „die Unlogik der bösartigen Theorien Hitlers“:
„Ich hatte triumphiert, hatte ihnen Trotz geboten, mich behauptet und auf ausgesprochen befriedigende Weise gerächt. Aber bei aller Euphorie hatte ich auch Angst.“

Erst später erkannte die junge Frau:
„Unter den wachsamen Augen der Auslandspresse und des Internationalen Olympischen Komitees mußte Hitler sein Versprechen halten. Ich war in gewisser Weise ihre Eintrittskarte, und deshalb konnte mir nichts passieren. Sie brauchten mich, um das Ziel einer Olympiade par excellence zu erreichen. Es war reine Ironie, dass ausgerechnet ich, die Jüdin, den Deutschen zu ihrer größten Stunde verhalf. Wie müssen sie mich gehasst haben!“


 „Memoiren“, Leni Riefenstahl, Knaus Verlag, 1937

Ganz anderer Art dagegen die Erinnerungen der Leni Riefenstahl, jene innovative Regisseurin, die sich in den Dienst der Nazis stellte. Vor den beiden Olympiafilmen „Fest der Völker“ und „Fest der Schönheit“ hatte die Riefenstahl schon mit ihren Propagandafilmen 1933 und 1934 dazu beigetragen, den Menschen bestimmte Bilder von Macht und Willen einzubrennen.
Auch die Ästhetik ihrer Olympiafilme ist, wenn auch in gewisser Weise faszinierend, so doch von diesen „herkulischen“ Typen geprägt, vermittelt ein ganz bestimmtes Bild. In ihren „Memoiren“ pflegt sie das Image der missverstandenen Künstlerin, zeigt sich uneinsichtig und wenig selbstreflektierend. Um Politik sei es ihr nie gegangen, sie habe nur für die Kunst, die Filmkunst an sich gelebt – was widersinnig ist, wenn Kunst in den Dienst politischer Propaganda gestellt wird. Die „Memoiren“: Verschriftlichte Lebenslügen, Selbstverleugnung, Verharmlosung – ich konnte die selbstverliebte Inszenierung kaum ertragen beim Lesen.


„Der Fragebogen“, Ernst von Salomon, Rowohlt Verlag, 1951

Interessanterweise war Ernst von Salomon (1902 – 1972) ein Freund des Verlegers Ernst Rowohlt (er wird in diesem Zusammenhang auch an der einen und anderen Stelle im Hilmes-Buch erwähnt), war zudem im Verlag zeitweise als Lektor tätig. Aber von Salomon war auch: In Jugendjahren Freikorps-Anhänger, am Kapp-Putsch und am Rathenau-Mord beteiligt, preußisch und großnational eingestimmt.
Durch sein „Preußentum“ und seine jüdische Lebensgefährtin war von Salomon zwar in Distanz zum Nationalsozialismus, aber doch Vertreter einer rechten, erzkonservativen Denkungsart. Deutlich wird dies an „Der Fragebogen“. Das Buch wurde nach seinem Erscheinen Anfang der 1950er Jahre zum Bestseller. Das traf wohl den Nerv der Zeit: Eine schwafelhafte Rechtfertigung für stramm rechtes Denken. Das Buch mag als Zeitdokument wichtig sein – mir selbst war zu viel von Preußentum etc. die Rede. Nach einem Viertel abgebrochen und in die Ecke gepfeffert.
Der Titel des Buches bezieht sich auf die Entnazifizierungs-Fragebögen in der amerikanischen Besatzungszone. Von Salomon greift dies formal auf und beantwortet die 131 Fragen, nutzt dies als Plattform für eine zurechtfrisierte Autobiographie.

 

P. J. O’Rourke: Reisen in die Hölle und andere Urlaubsschnäppchen

Politische Korrektheit darf man von P. J. O`Rourke nicht erwarten. Er war ein früher Vertreter des Gonzo-Journalismus: Tempo und Stil zählen mehr als Fakten.

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Bild: (c) Michael Flötotto

„Im Herbst 1992 fuhr ich in das frühere Jugoslawien, um mir den Multikulturalismus in der Praxis anzusehen. In letzter Zeit hatten dort verschiedene kulturelle Gruppen eine ungeahnte Kraft entfaltet – durch Schusswaffengebrauch.“

P. J. O’Rourke, „Reisen in die Hölle und andere Urlaubsschnäppchen“


Manche wollen immer dorthin, wo es kracht, scheppert, wummert, wo Tränengas und Pfefferspray in der Luft liegen, wo hinter der nächsten Mauer ein Heckenschütze lauern könnte. Es gibt Journalisten, die Adrenalin-Junkies sind – P.J. O` Rourke, Schriftsteller, Satiriker, der unter anderem für den Playboy, Vanity Fair und als Auslandskorrespondent für den Rolling Stone berichtet hatte, scheint mir einer von diesen zu sein. Er ist einer dieser Kriegsberichterstatter, die – selbst im Urlaub – das Herz der Finsternis besuchen.

Lakonisch, ironisch, manchmal auch zynisch

Abgeklärte philosophische Betrachtungen über die Ursachen und Auswirkungen des Krieges darf man von diesem Buch nicht erwarten. Eher literarische Trips in die Hölle, die beim Lesen jedoch einen Höllenspaß machen. O`Rourke schreibt lakonisch, ironisch, zuweilen hemmungslos zynisch darüber, was der Mensch dem Mensch antut. Und das um den ganzen Globus herum und ohne Aussicht auf Einsicht. Reflektionen über das Wesen des Hasses und des Krieges kommen eher beiläufig daher:

„Und wieder überraschte mich etwas seltsam Alltägliches – der Hass, so allgemein und allmächtig, so einfach und so selbstverständlich wie Gott in der Al-Aksa-Moschee. Nie hätte ich mir träumen lassen, dass Gott oder der Hass Menschen derart durchdringen kann, schon gar nicht gleichzeitig.“ (In: „Das Heilige Land – Gottes Affenhaus!, 1988).

Der Journalist ist hier nicht der abgehobene Berichterstatter, der seinen wehrlosen Zeitungslesern aus scheinbar neutraler, übergeordneter Wächterposition die Welt erklärt. Sondern O`Rourke erinnert zuweilen an ein Kind, das staunend durch den Spielzeugladen Welt läuft und uns daran teilhaben lässt – aber eben durch einen Spielzeugladen, in dem es lebensgefährlich zugeht.

Gratwanderung zwischen Pose und Polemik

Sein Stil ist eine ständige Gratwanderung zwischen Pose und Polemik. Zuweilen verdeckt die Lust an der Sprache, an der gelungenen Formulierung den Ernst der Sache. O`Rourke schreibt nach dem Motto „Besser einen guten Freund verloren, als einen guten Witz verschenkt“. Nichts also für zarte Gemüter.

„Ich hatte gehofft, wenigstens gut zu schlafen. In Beirut waren die Bombenexplosionen doch ziemlich zahlreich gewesen. In der Nacht vor meiner Tour in den Süden hatte ich fünf gehört, die erste gegen Mitternacht in einer Bar, ein paar Blocks vom Commodore entfernt, und das steigerte sich dann bis zu einem großangelegten Attentat auf den Erziehungsminister um sechs Uhr morgens, bei dem Fenster im Umkreis von drei Blocks in die Brüche gingen und in meinem Zimmer die Möbel wackelten. Der Minister überlebte, meine Nachtruhe nicht.“ (In: “Auf Bummeltour im Libanon”, Oktober 1984).

Politische Korrektheit darf man also bei den Reportagen des 1947 geborenen Amerikaners, der sich im Lauf der Zeit vom Hippie zum liberalen Konservativen wandelte, nicht erwarten. Schließlich gilt O `Rourke als einer der frühen Vertreter des Gonzo-Journalismus (siehe Link unten), sein Artikel „How to Drive Fast on Drugs While Getting Your Wing-Wang Squeezed and Not Spill Your Drink“ von 1979 ist ein bestes Beispiel dafür. Doch es fehlt auch die besserwisserische Mentalität, die leichte Arroganz mancher Journalisten. O`Rourke gesteht in seinem Erstaunen über die grauenvolle Seite der Welt ein, dass er von den Ursachen mancher Krisenherde oder Mentalitäten anderer Völker so wenig versteht wie einer seiner Leser, beispielsweise in Toledo, Ohio (da ist er geboren) oder Augsburg.

„Als sich der Junge in der ersten Reihe der Kundgebungsteilnehmer die Spitze des kleinen Fingers abbiß und mit dem eigenen Blut KIN DAE JUNG auf seine superschicke Skijacke schrieb, kam ich mir, glaube ich, zum ersten Mal in meinem Leben wirklich wie ein Auslandskorrespondent vor, der aus der Fremde zu berichten hat.“

Da soll sich mal einer auskennen:

„Praktisch jeder Kandidat für das Präsidentenamt hieß Kim. Da gab es Kim Dae Jung, den Spitzenkandidaten der Opposition, und Kim Young Sam („Kim, die Fortsetzung“), ebenfalls Spitzenkandidat der Opposition, und außerdem Kim Yong Pil („Kim, die frühen Jahre“), den Ausputzerkandidaten der Opposition. Und dann war da noch der Nicht-Kim-Kandidat, Ro Tae Woo (sprich: No Tai Uh oder wie die Vertreter der Auslandspresse ihn nennen: Just Say No). Diesen Ro hatte die Militärdiktatur, die seit 1971 über Südkorea herrschte, ins Rennen geschickt.“

(Beide Zitate aus der Reportage „Seoul Brothers“ über die ersten Präsidentschaftswahlen in Südkorea, Dezember 1987).

„Die Christen hassen die Muslime, weil sie unter den Osmanen nur Leibeigene waren. Die Muslime hassen die Christen, weil sie unter den Kommunisten immer die Doofköppe waren. Die Kroaten hassen die Serben, weil sie mit den Kommunisten kollaboriert haben, und die Serben hassen die Kroaten, weil sie mit den Nazis kollaboriert haben, und nun hassen die Bosnier die Montenegriner, weil die mit den Serben kollaborieren. Die Serben hassen die Albaner, weil sie nach Jugoslawien gekommen sind. Und alle hassen die Serben, weil es von denen mehr zu hassen gibt als von allen anderen und weil sich die Serben, als Jugoslawien 1918 (mit Hilfe unseres oberschlauen Präsidenten Woodrow Wilson) geschaffen wurde, sofort die Kontrolle über Staat und Armee unter den Nagel gerissen und seitdem nicht wieder hergegeben haben. Und die Slowenen werden ebenfalls von allen gehasst, weil sie bei dem jetzigen Bürgerkrieg schon nach zehn Tagen nicht mehr mitmachten.“ (In: „Die multikulturelle Gesellschaft“, Bosnien 1992).

Fatal erinnert dieser Krieg, der vor wenigen Jahren erst mitten in Europa herrschte, an die derzeitigen Vorgänge in der Ukraine. Und auch für die Ukraine könnte man den Schlusssatz von O`Rourkes nehmen:

„Risto wirkte glaubwürdig. Und seine Geschichte war die Geschichte des jugoslawischen Bürgerkriegs in Kurzform: aus vergangenem und gegenwärtigem Unrecht erwächst künftiges Unrecht, Intoleranz gebiert neue Intoleranz, Gewalt zeugt neue Gewalt, und mittendrin die Risto Dukis dieser Weltgegend – als verführte Unschuld.“

So zynisch der Amerikaner zwischendrin über die Politik und über Politiker schreibt – an Mitgefühl mit den Opfern der weltweiten Kriege, seien es palästinensische Familien oder israelische Jungsoldaten im Gazastreifen, Verletzte und Tote im Bosnienkrieg, fehlt es ihm nicht. Nur eine Spezies lässt er – nebst den Politikern – selten ungeschoren davonkommen: Und das sind seine Berufskollegen, die, wenn sie bedächtig berichten, zu „breitmäuligen Reiseschriftstellern“ werden, sich davor fürchten, dass etwas gut und organisiert läuft, wie beispielsweise die Wahlen in Mexiko und wie „bleiche Drohnen“ immer auf der Suche nach der nächsten Story sind.

Selbst der Urlaub wird zum Abenteuer

Wenn die bleiche Drohne wie P. J. O’Rourke schreibt, dann wird man zumindest auf einen höllenmäßigen Trip mitgenommen: Selbst aus einem „Arbeitsurlaub“ auf Guadeloupe, wo er in Ruhe die Europäische Verfassung („das stilistische Niveau ihrer Prosa könnte selbst Danielle Steel nicht unterbieten“) lesen will, wird da ein Abenteuer.

Und zuweilen erinnert er ganz mächtig an einen großen Vorgänger in Sachen politisch unkorrekter Reisereportagen – man denke an die „Arglosen im Ausland“ oder „Bummel durch Europa“. Dies könnte ebenso gut aus der Feder von Mark Twain stammen:

„Ich sah zu, wie die Royalisten auf den Stufen vor einem Betonkasten im sowjetischen Stil, dem einstigen Kulturpalast, ein Podium und ein paar Lautsprecher aufbauten. Sie entrollten die herzchirurgisch eingefärbte albanische Fahne, auf der eine Figur zu sehen ist, die entweder einen doppelköpfigen Adler oder ein sehr wütendes Huhn aus einer Monstrositätenschau darstellt. Die Royalisten riefen Sprüche ins Mikrophon wie: „Wir bekommen unsere Stimmen, auch wenn dafür Blut fließen muss!“ In einer Lautstärke, die selbst die krachendsten Karambolagen übertönten. Dann spielten sie – noch lauter – die albanische Nationalhymne, die so lang ist wie eine Wagner-Oper und so klingt, als würde die Blaskapelle des amerikanischen Marine Corps den Ring aufführen und dabei die Treppe im Washington Monument von oben bis unten herunterrasseln.“
(In: „Schlechter Kapitalismus“, Albanien Juli 1997).

Für den vorliegenden Sammelband hat Albert Christian Sellner die besten Reportagen P. J. O’ Rourkes zusammengestellt. Wenn dieses die besten sind, dann möchte ich gerne wissen, wie gut die schlechteren sich lesen…


Bibliographische Angaben:

P.J. O’Rourke
Reisen in die Hölle und andere Urlaubsschnäppchen
Übersetzt von Reinhard Kaiser
Die Andere Bibliothek, 2006
ISBN: 978-3-8218-4577-7

Hans Christoph Buch: Sansibar Blues

In “Sansibar” treffen Welten aufeinander, amerikanische und ostdeutsche Geheimdiplomatie im Wettstreit. Eine burleske Geschichte, geschmeidig erzählt.

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Bild: (c) Michael Flötotto

“… und als du auf der Dachterrasse ein nasses Laken zur Seite schiebst, stockt dir der Atem beim Rundblick über die Stadt: Hinter rostroten Wellblechdächern blaut das Meer, dessen Brandung ein Fischerboot durchsticht, während eine Flotte von Dhaus vor der Hafeneinfahrt kreuzt, die bunt geflickten Segel von der Abendbrise gebläht.”

Hans Christoph Buch, „Sansibar Blues oder: Wie ich Livingston fand“

Ostafrika im Hirne,
Togo, der Amok tanzt:
das ist die weiche Birne
mit fremder Welt bepflanzt;
die istrisch dunklen Meere
vor dem großen Vestibül,
sein Vater fuhr eine Fähre:
historisches Lustgefühl.

„Ostafrika“ von Gottfried Benn, 1. Strophe.

Entstanden ist das Gedicht “Ostafrika” in den 1920er Jahren in einer Reihe von Texten, in denen Benn Sehnsuchtsorte umschrieb – geprägt vom „Exotismus“ und Vorstellungen, die auch die Intellektuellen in der deutschen Kolonialmacht umtrieben.

Sansibar – der Name klingt wie ein exotisches Versprechen, verheißt den Duft von Gewürzen, den Wind der Wüste, ruft Bilder von Inselparadies und lockendem Afrika hervor. Doch die Hauptfiguren in Hans Christoph Buchs Roman wollen vorwiegend eines: Nichts wie weg da.

Sansibar als Tummelplatz für Spione

Ein amerikanischer Diplomat und ein DDR-Gesandter, der zwar den sprechenden Namen „Hans Dampf“ hat, aber alles andere als ein solcher ist, eine Sultanstochter und ein Sklavenhändler, Che Guevara und Ryszard Kapuscinski geben sich in diesem Roman quasi die Klinke in die Hand. Durch die wechselnden Erzählstimmen und Zeitläufe ist die burleske, bunte Erzählung zwar nicht ganz einfach zu lesen, doch in sich geschlossen – die Fäden laufen zusammen, ergeben eine stimmige Komposition. Zumal sich der 1944 geborene Schriftsteller Hans Christoph Buch intensiv mit der kolonialen Vorgeschichte Afrikas auseinandergesetzt hat und den Kontinent wohl kennt wie seine Westentasche. Empfohlen sei von H. C. Buch, der, wenn er nicht auf Reisen ist, in Berlin lebt, auch sein Romanessay „Apokalypse  Afrika oder Schiffbruch mit Zuschauern“, erschienen 2011 in der Anderen Bibliothek.

Sansibar, die vor Tansania liegende Insel, spielte für Ostafrika lange eine bedeutende Rolle, vor allem als Zentrum des Sklavenhandels, der unter der Herrschaft des Sultans von Oman „florierte“. Kleine historische Anekdote am Rande, die auch von HCB entsprechend verarbeitet wird: Am 27. August 1896 kam es zum kürzesten Krieg der Weltgeschichte, dem nur 38 Minuten dauernden Britisch-Sansibarischen Krieg. Der Krieg begann um 9:00 Uhr morgens. Nachdem der Sultan von Sansibar gestorben (oder vergiftet worden) war, beanspruchte sein Cousin Khalid ibn Barghash den Thron für sich. Der britische Admiral Sir Harry Rowson ließ daraufhin nach einem Ultimatum so lange den Palast des selbsternannten Sultans von See aus mit Schiffsgeschützen beschießen, bis dieser die Flucht ergriff. Auch das zweite bedeutende historische Datum – der Sansibar-Vertrag von 1890, mit dem die Deutschen gegenüber den Briten ihre Gebietsansprüche über Sansibar zugunsten Helgolands fallen ließen – findet in der Blues-Romanze seinen Niederschlag.

Das vorletzte Abenteuer von Che Guevara

Um so richtig in das Buch eintauchen zu können, alle Finten und Finessen, die HCB legt, erfassen zu können, um das Muster aus Fiktivem und Tatsächlichem zu erkennen, sind schon gewisse historische Kenntnisse und Erläuterungen notwendig – dies macht die Lektüre nicht einfach, ohne Hilfestellung und Hintergrund bleibt es bei dem Lesen einer vergnüglichen, amüsanten tour de force über das Eiland.

Marko Martin dröselte das Text-Gewebe in seiner Rezension bei Deutschland-Radio etwas auf:
Verbürgte Tatsache jedenfalls ist, dass eine der Töchter des Sultans Sayid bin Said Mitte des 19. Jahrhunderts mit einem Hamburgischen Kaufmann durchbrannte und als konvertierte Protestantin namens Emily Ruete ihre späteren Tage an der Nordsee und der Berliner Spree verbrachte. Von da brachen dann 100 Jahre später DDR-Diplomaten und Stasi-Experten nach Sansibar auf, um dem dort gerade installierten sozialistischen Regime marxistische Ideologie und effektives Foltern beizubringen, während gleichzeitig ein gewisser Ernesto Guevara de la Serna, genannt Che, auf Sansibar sein vorletztes Revolutions-Abenteuer vorbereiten sollte: eine Kongo-Expedition, die freilich genauso scheitern würde wie Dr. Livingstones oder Morton Stanleys Versuche, dem so genannten “schwarzen Kontinent” sein Geheimnis zu entreißen.

Wem spätestens hier nun der Kopf schwirrt, sei beruhigt, denn Hans Christoph Buchs Stil ist von einer verführerischen (wiewohl doppelbödigen) Geschmeidigkeit, die dem ewigen menschlichen Tohuwabohu immer wieder eine elegant-subversive Note abzugewinnen weiß. Auch wenn in diesem versiertem Große-Jungen-Streich von Roman die Figuren-Psychologie öfters der Schnurre, der überraschenden Wendung und dem Plot geopfert wird – es ist ein pures Vergnügen, wie hier jemand Historisches auseinander nimmt und nach eigenem Gusto wieder zusammenfügt, ohne dass auch nur einmal staubtrocken Papierenes durch die Zeilen wehen würde.“

Zum Weiterlesen über den Autoren selbst empfiehlt sich dessen Internetseite: http://www.hans-christoph-buch.de/

Informationen zum Buch:

Hans Christoph Buch
Sansibar Blues oder: Wie ich Livingstone fand
Die Andere Bibliothek, 2008
ISBN: 978-3821862187