Kristof Magnusson: Ein Mann der Kunst

Mit milder Ironie zeichnet Kristof Magnusson in seinem dritten Roman ein Bild kulturbeflissener Bildungsbürger und schwieriger Künstler. Herrlich unterhaltsam!

Bild von Kai Pilger auf Pixabay

„Die Hansens waren also intensiv damit beschäftigt, sich vorzubereiten. Sich einzulesen, was eines ihrer Lieblingsworte war, wobei Martha Hansen eine noch größere, protestantisch-textbegeisterte Ernsthaftigkeit an den Tag legte als ihr Mann. Das Wichtigste war dabei für Martha Hansen stets: ein kritisches Bewusstsein!
Und Martha Hansens kritisches Bewusstsein vertrug sich eben nicht mit dem kritischen Bewusstsein, das KD Pratz auf seinen Bildern so deutlich zur Schau stellte. Immer wieder, gerade wenn sie nun in dem Heft die älteren Bilder von KD Pratz betrachtete, sagte sie: »Das Bild spricht nicht zu mir.«

Kristof Magnusson, »Ein Mann der Kunst«

Wer sich ab und an auf Vernissagen, kulturellen Veranstaltungen oder aber im Gehege eines Kunstvereins tümmelt, der wird an diesem Roman ein besonderes Vergnügen haben. Mit milder Ironie und sehr scharfsichtig nimmt Kristof Magnusson, der zunächst vor allem durch seine Theaterkomödien bekannt wurde, in seinem inzwischen dritten Roman die Kunstszene aufs Korn. Das ist herrlich zu lesen, nah an der Realität und äußerst unterhaltsam.

Der Plot: Ein Frankfurter Kunstverein, der sich für das kleine, aber ambitionierte Museum Wendevogel einsetzt, bekommt ein Grundstück vererbt. Landes- und Bundesmittel werden in Aussicht gestellt, wenn dort ein eigener Anbau für die Werke des Malerfürsten KD Pratz entsteht. Der als schwierig geltende Künstler, der seit Jahren zurückgezogen auf einer Burg im Rheingau lebt, ist unter den Mäzenaten jedoch nicht unumstritten. Also geht es auf zu einer Busfahrt für Kulturbeflissene, eine Butterfahrt für Geld- und Kunstleute gewissermaßen, um den Künstler vor Ort in seinem Atelier zu begutachten. Ein Vorhaben, das im kreativen Chaos endet …

Kunstliebhaberinnen auf Butterfahrt

Ich-Erzähler „Consti“, seines Zeichens Architekt und Sohn der kunstbegeisterten, alleinerziehenden, feministisch-grün angehauchten Psychotherapeutin Ingeborg, begleitet die Mutter, eine frustrierte Museumsassistentin, einen ehrgeizigen Museumsleiter, ein „Einstecktuch“ (sprich Geldsack) sowie einige weitere prägnante Typen auf dieser Wochenendreise. Das ist plastisch beschrieben, mit viel Gespür für die einzelnen Figuren – man sieht sie förmlich vor sich, die Damen in lockeren Leinen- und bunten Seidengewändern, bestückt mit auffälligem Holzhalsschmuck und Designerbrillen, die Herren im Rollkragenpullover oder legerem Freizeitlook.

Als die Gruppe mit dem ewig grantigen Maler zusammentrifft, stoßen zwei Welten aufeinander und Erzähler Constantin wird mehr und mehr zum Vermittler zwischen den beiden Parteien.

»KD Pratz tat mir leid. Es war eine Gemeinheit von uns, ihn mit der Aussicht auf sein eigenes Museum aus seiner Isolation zu locken. Seinen Ruhm, seine Produktivität, seine besten Bilder verdankte er dieser Isolation, nun sollte er sie aufgeben, uns nett empfangen und gleichzeitig weiterhin den entrückten, genialischen Einsiedler geben.«

Künstlerischer Narzissmus

Was Constantin hier wohl unterschätzt: Die Entrücktheit ist Teil der Show, der Imagebildung. Und angetrieben ist der Künstler von seinem ihm eigenen Narzissmus – ein eigenes Museum, da macht selbst ein KD Pratz Kompromisse. Mit seinem KD Pratz hat Magnusson einen Künstler erschaffen, der durchaus an lebende Vorbilder erinnert, mich zu allererst übrigens an Markus Lüpertz. Magnusson selbst stellt andere Bezüge her:

»Provokant könnte man sagen, dass KD Pratz detailverliebter als Gerhard Richter ist, archaischer als Anselm Kiefer und expressiver als Georg Baselitz.«

Lover von Marina Abramović

Durch eine kurzfristige Beziehung mit Marina Abramović, die der Autor seinem Künstler gönnt, gewinnt die Kunstfigur KD Pratz zudem noch mehr an Realitätsnähe. Sein Liebesleben, sein Umgang mit Frauen und die Art, sie darzustellen, führt jedoch zum Eklat zwischen der kritischen Ingeborg und dem egomanischen Künstler – und so scheint am Ende der Traum von einem KD Pratz-Museum ebenso ins Wasser zu fallen wie die Kunstwerke, die er in den vergangenen Jahren schuf: Eine spontane „life performance“, bei der die Kunstvereinsmitglieder angeführt von KD Pratz dessen Bilder im Rhein versenken, gehört zu den amüsanten Höhepunkten dieses Romans.
Ob es doch noch zu einem KD-Pratz-Museum kommt? Das sei hier nicht verraten. Nur so viel: Es gibt einen herrlich übertriebenen Showdown im Guggenheim in New York – und alle sind zufrieden.

„Ein Mann der Kunst“ ist eine schwungvoll geschriebene Satire, die das Kunstleben und die Mechanismen des Kunstmarkts mit liebevollem Spott beschreibt. Prädikat: Unterhaltsam!

Informationen zum Buch:

Kristof Magnusson
Ein Mann der Kunst
Verlag Antje Kunstmann, 2020
Hardcover, 240 Seiten, 22,00 Euro
ISBN: 978-3-95614-382-3

THERES ESSMANN: Bernhard Ulbrich über Konflikt, Krise, Kehrtwende und Katharsis

Ein Gastbeitrag von Bernhard Ulbrich: Er beschäftigte sich mit der Novelle „Federico Temperini“ von Theres Essmann, die er für seinen Lesekreis analysierte.

EIN GASTBEITRAG VON BERNHARD M. ULBRICH

Jürgen Krause ist Taxifahrer in Köln, lebt alleine, hat Probleme. Er ist schon länger geschieden. Sein geliebter Sohn Leon lebt bei seiner ex-Frau Irene, die vor Jahren mit Ulrich eine neue Beziehung eingegangen. Er kämpft um die Gunst seines postpubertären Sohnes. Beide planten, eine Tour durch Kanada zu machen, was nun der Stiefvater mit Leon realisiert. Jürgen fühlt sich abgehängt.

Der Anruf eines Kunden mit Namen Federico Temperini bringt Änderung in Gang. Er ist ein Mann alter Schule, der ihn als Chauffeur für die Fahrten zu den Konzerten in der Philharmonie bucht. Die Gespräche während der Fahrten sind zunächst reserviert. Es entspinnt sich aber bald eine wundersame, die Leben von Fahrer wie Fahrgast durchleuchtende Geschichte. Wir werden neugierig gemacht.

Als ich ihn so am Arm hatte, kam mir zum ersten Mal der Gedanke, dass der alte Herr etwas von mir wollte. Und dass ich keinen blassen Schimmer hatte, was. Nur dass es mehr war als Taxifahren. (39)

Man wird förmlich in die Entwicklung hinein gezogen. Jürgens Freund Wolfgang meint:

Der Typ hat dich ganz schön am Wickel.“ Und Jürgen selber denkt sich: Und zieht mich in etwas hinein, … (56)

Wir merken wieder auf: Da muss noch etwas Unerwartetes kommen. Und die Neugier lässt uns weiterlesen. Nebenbei erfahren wir etwas über Paganini und sein enormes, musikalisches Talent, denn:

Am Ende führten alle Wege zu Paganini. (38)

Microsoft PowerPoint - lbRez_Essmann-Plot-200524-brmuEs erhellen sich die Hintergründe, weil der Alte peu-à-peu Informationen über sein Leben mitteilt. Das bringt Jürgen des Nachts ins Träumen:

Ein Taxi hält am Wiesenrand, als ob er ein Bürgersteig wäre, die Fond-Tür geht auf und Paganini steigt aus, seine Geige in der Hand. Er sieht aus wie Temperini, trägt seinen Hut, seinen Mantel. (59)

Noch ein Fingerzeig. Aber wofür?

Jürgen beginnt, in Paganinis Biographie zu lesen. So kann er sich auch einbringen:

Ich glaube, Paganini hat seine ganze verdammte Seele in das Geigenspiel gepackt. (98)

Das drückt er zwar burschikos aus, trifft aber den Kern der Sache. Genie als die vollkommene Einheit von Wollen, Können und Tun.

Wir erfahren auch, dass der kauzige Alte, der sich wie Paganini in Schwarz kleidet, ebenfalls ein begnadeter Geiger war. Er nennt es:

Kongenial. Die Kritiker nannten mein Paganini-Spiel immer wieder kongenial. (109).

Und ebenso wie Paganini musste er seine Karriere wegen einer unheilvollen Erkrankung der linken Hand aufgeben. Die Ähnlichkeiten mehren sich, bis Jürgen sein Heureka-Erlebnis hat. Er liest alte Rezensionen.

Und dann las ich: „Federico Temperini, Solist.“ Ich schaute in die schwarze Leere vor meinem Fenster, …, und ich dachte: Natürlich. Natürlich, du Depp. (101)

An dieser Stelle legt man das Buch zur Seite und denkt verwundert: wieso Depp? Und der Blick fällt auf das Cover mit der offenen Hand und auf den Begriff „Novelle“. Ist sie nicht charakterisiert durch die vier „K“: Konflikt, Krise, Kehrtwende, Katharsis? Und plötzlich winken Parallelen. Bezogen auf unsere Hauptfigur Jürgen stellt sich der Konflikt mit seiner Frau Irene dar als das Gerangel um die Zeit, die Jürgen mit seinem Sohn Leon verbringen darf. Dieser Konflikt steigert sich über die Jahre bis zur Krise, denn Leon wird mit seinem Stiefvater statt mit Jürgen die Kanadareise unternehmen. Jürgen fürchtet, auch noch die Liebe seines Sohnes zu verlieren. Und dann der innere Wendepunkt, ausgelöst durch Temperini, der Jürgen den Horizont erweitert und ihn von den persönlichen Problemen ablenkt, wie ein Katalysator. Dank seiner hat Jürgen eine Erkenntnis: Natürlich, Natürlich, du Depp.

Dieser Katalysator namens Federico Temperini wird in der Novelle derart gleichartig zu Niccolò Paganini im äußeren Erscheinungsbild wie im musikalischen Talent gezeichnet, dass man stutzt: Das ist gewollt! Könnte es sein, dass uns die Autorin im Realismus des heutigen Stadtlebens einen magischen Aspekt untergeschoben hat? Eine Inkarnation des Paganini? Die Beziehungsprobleme werden dadurch relativiert, der Protagonist wird „ver“-führt, sich mit der Genialität von Paganini zu befassen. Für ihn eine unerwartete Horizonterweiterung. Neuer Blick auf das eigene Leben, auf das Verhältnis zu seinem verstorbenen Vater wie auch das zu seinem Sohn.

Es stellt sich eine Entspannung ein, eine Katharsis. Sein ach so klein geratener Vater hatte nämlich auch dem großen, noch genial geigenden Herrn Temperini als Chauffeur gedient. Jürgen ist verwundert:

Was wissen Söhne schon über ihre Väter. (121)

Diese Erkenntnis gilt auch für das Verhältnis zu seinem Sohn Leon.

Auch wenn es wehtat. Was immer passiert war oder noch passieren würde, es war nur ein Ausdruck dessen, was war, wie es war: Leo hatte zwei Väter. Ich war einer von beiden. (134)

Auf dieser Basis müsste man sich zusammenraufen können.

Wenn Sie nun wissen wollen, wie alles ausgeht, nehmen Sie die Novelle in die Hand und lesen selbst. Es lohnt sich!

© 31.5.2020  Bernhard R. M. Ulbrich / litbiss.de


THERES ESSMANN: Federico Temperini

Sie könnten unterschiedlicher nicht sein: Der Kölner Taxifahrer Jürgen Krause und sein neuer Fahrgast, Federico Temperini. Den alten Herrn, der Krause als Chauffeur engagiert, umweht ein tragisches Geheimnis. Und Krause, einmal neugierig geworden, lässt sich ein auf die Obsession des Alten, dessen Leben und Denken sich vollständig um den einstigen Geigenvirtuosen Paganini dreht. Langsam entwickelt sich zwischen den beiden ungleichen Männern eine Freundschaft, die auch über den Tod hinaus Bestand hat.

Theres Essmann entfaltet mit „Federico Temperini“ auf knappem Raum, gekonnt verdichtet, das Leben zweier Männer, sie erzählt von gescheiterten Lebensentwürfen, von der Kraft des Neubeginns sowie von einer ungewöhnlichen Freundschaft. Eine Novelle über Verlust und Vergänglichkeit. Über die Sehnsucht, geliebt zu werden und die Einsamkeit des Grandiosen. Und über das, was uns wahrhaft groß macht: unsere Menschlichkeit.


Zur Autorin:

Theres Essmann wurde 1967 in Nordwalde (Münsterland) geboren, studierte Literaturwissenschaften und Philosophie, lebt und arbeitet in Stuttgart und Köln. Sie schreibt Lyrik und Prosa. 2018 erhielt sie für ihren Erzählzyklus ein Stipendium des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg.

Homepage der Autorin: https://theres-essmann.de/


Stimmen zum Buch:

„Ein Debüt, das gespannt macht auf mehr.“ – Richard Mayer, Augsburger Allgemeine

„Eine mustergültige Novelle.“ – Susanne Schramm, Kölner Stadtanzeiger

„Stilistisch ist die Novelle von einer behutsamen Direktheit, die kaum Bilder braucht, um ästhetisch zu funktionieren.“ – Guy Helminger, Luxemburger Tageblatt

„Mit „Federico Temperini“ ist der Autorin Theres Essmann eine berührende Novelle über Vergänglichkeit und Verlust gelungen.“ – Kathrin Stahl, Südwestpresse

„Theres Essmann hat in ihrem Debüt mit feinem Strich Figuren gezeichnet, die ohne große Geste auskommen, aber dafür umso prägnanter auf den Leser wirken. (…) Unaufdringlich, aber voller Gefühle, leise, aber bis ins Mark. So spannend sind menschliche Begegnungen … wenn die Sprache stimmt.“ – Guy Helminger, Luxemburger Tageblatt

„Essmann ist eine gute Beobachterin der nichtsprachlichen Kommunikation.“ – Andreas Sommer, Heilbronner Stimme

„In ihrer Novelle stellt die Literaturstipendiatin des Landes Baden-Württemberg, Theres Essmann, die Frage nach wahrer Größe.“ – Silke Arning, SWR 2

„In dieser makellos komponierten Novelle verhandelt Theres Essmann Fragen
nach dem, was einem Menschenleben Größe, Bedeutung und Sinn verleiht.“ – Mareike Ilsemann, WDR 5

„Klug komponiert, mehrfach gespiegelt und gebrochen, erzählt Essmann in ihrem gelungenen Debüt in ruhigem Ton, verknüpft mit einer Portion Nonchalance und Humor, von Einsamkeit, von gescheiterten Plänen, aber auch von neuem Halt und Aufbruch.“ – Anton Philipp Knittel bei literaturkritik.de

„Die Autorin erzählt mit subtiler Überzeugungskraft.“ – Markus Jäger, EKZ

Lesung auf der Verlagsseite:

 

Bibliographische Angaben:

Theres Essmann

Federico Temperini
Novelle
Klöpfer, Narr Verlag
Tübingen
164 Seiten
Hardcover mit Lesebändchen
Erscheinungstermin: Februar 2020
ISBN 978-3-7496-1026-6
18 Euro


Ein Beitrag im Rahmen meiner Pressearbeit für die Autorin

Susanne Neuffer: Im Schuppen ein Mann

Susanne Neuffer ist eine Schriftstellerin, die messerscharf menschliche Befindlichkeiten analysiert und sich zugleich eine kindliche Verspieltheit bewahrt hat.

broom-4565111_1280
Bild von Birgit Böllinger auf Pixabay

„Die Ehrenamtlichen spalten sich gerade auf in eine Fraktion, die wie Elfie anspruchsvolle experimentelle Kleinkunst und Vernissagen favorisiert, und in ein kleines Grüppchen, das gerne mehr Diavorträge, Bastelausstellungen und Tanztees im Programm hätte. Vielleicht auch noch etwas Gymnastik am Morgen. Ich sehe das Problem nicht, aber ich sehe ohnehin nicht gerne, wenn Gegensätze sich zuspitzen. Mit den Jahren fange ich an, etwas für dialektisches Denken zu halten (und zu verteidigen), was vielleicht ein gewisser Hang zum Kompromiss ist. Zum Beispiel zwischen Tanztee und experimentellen Musiktheater.“

Aus der Erzählung „Bankett für alle oder: Ach wir Armen“.

Susanne Neuffer, „Im Schuppen ein Mann“


Es kommt zu keinem Kompromiss zwischen diesen beiden Freundinnen, die schon längst keine Freundinnen mehr sind, als sie gemeinsam den lang geplanten Urlaubstrip verbringen. Mit sanfter Widerborstigkeit setzt sich die Ich-Erzählerin durch, die sich insgeheim ärgert, dass sie, „wenn es um Elfi geht, immer in den Kategorien von Kampf und Macht und Gewinnen und Verlieren denke.“

Um diese „ärgerlichen“ Kategorien, die dennoch viele unserer zwischenmenschlichen Beziehungen zumindest unterschwellig prägen, kreisen die Erzählungen der vielfach ausgezeichneten und aber noch nicht angemessen bekannt genugen Hamburger Schriftstellerin. Es mag daran liegen, dass es nicht um „die ganz großen“ Konflikte in diesen Geschichten geht, sondern eher um Menschliches und Allzumenschliches: Der Familienvater, der für eine Weihnachtsfeier eingeladen ist bei seiner ehemaligen Frau und deren neuen Lebensgefährtin und sich vorkommt wie ein Fremdkörper. Der ambitionierte Autor, der an einem Schreibwettbewerb seiner Geburtsstadt, in der ihn keiner mehr kennt, teilnimmt und mit einer Plastiktüte voller Werbematerial abgespeist wird. Die Familienmitglieder, die den Haushalt der verstorbenen Mutter auflösen.

Das Alltägliche wird unerwartet zum Besonderen

Und doch nehmen diese Geschichten alle eine unerwartete Wendung oder sind von einem Ton geprägt, der das Alltägliche zu etwas Besonderem macht. In einem Portrait in der „taz“ ist über das Schreiben von Susanne Neuffer dies zu lesen:

„Jemand aus der Hamburger Literaturszene hat mir mal gesagt, ich sei zu harmlos und meine Geschichten seien zu harmlos, also würde das nichts mit mir werden“, sagt Susanne Neuffer und lächelt auf eine Weise verlegen, die ahnen lässt, dass sie für ein solches Urteil nur leisen Spott übrig hat und dass es ihr dennoch ein wenig Sorge bereitet. Was, wenn ihre erzählten Welten wirklich risikolos zu betreten wären?

Papperlapapp! Denn ihre Geschichten sind alles andere als harmlos. Sie sind im Gegenteil von einer untergründigen Sprengkraft; sie sind poetisch raffiniert ausgefeilt und zugleich sozusagen bitterkomisch und es ist ein kleines bis großes Rätsel, dass Neuffer als Autorin so wenig bekannt ist.

Untergründige Sprengkraft oder eben auch sanfte Widerborstigkeit, wie ich es nenne: Ich stelle mir Susanne Neuffer vor wie das „Kind A.“ aus einer ihrer Erzählungen.

„Und doch könnte ich auf die kleine A. verweisen, diese autarke Kind, das einen Teil des Tages auf jener Veranstaltung an meiner Seite war. Ein Kind in einem rot-lila Blumen- und Punkte-Kleid, mit in die Höhe wachsenden Kringellocken, die auf dem kleinen Kopf standen wie rätselhafte Waffen einer neuen Spezies: Dieses Kind ließ seine Eltern einfach sitzen und gesellte sich zu uns, das heißt zu mir und den Kindern, die gerne absurde Spiele spielen wollten und mich daran hinderten, mit den anderen Erwachsenen höflich desinteressierte Gespräche zu führen.“

Der Hang zu absurden, widerständigen Spielen, die Lust an humorvoller Anarchie: Dies dringt auch durch die Miniaturromane, die Susanne Neuffers Erzählungen eigentlich sind. Auf wenige Seiten komprimiert, werden ganze Familien-, Freundschafts- und Beziehungsgeschichten und vor allem Lebensgeschichten entfaltet, im Ungesagten und oftmals in einer überraschenden Wendung liegt dabei die Kraft.

Kein kuscheliges Sozialmärchen

So lässt einen schon die titelgebende Story „Im Schuppen ein Mann“ perplex zurück. Erzählt wird von einem, der, aus welchen Gründen auch immer, aus den sozialen Auffangnetzen gefallen ist. Mit seinem letzten Anzug kann er die bürgerliche Fassade noch aufrechterhalten, als Obdach dient in ein Schuppen im Garten einer ihm fremden Frau. Seine Anwesenheit bleibt ihr nicht verborgen, kleine Zeichen deuten darauf hin, eine Art Annäherung beginnt. Doch bevor man es sich als Leserin mit einem kuschelig-kitschigen Sozialmärchen-Happyend bequem machen kann, zieht einem Susanne Neuffer einen Strich durch die Rechnung: Der Schuppen muss weg, beschließt die Hausbesitzerin, eine kleine weiße Gartenbank an dieser Stelle wäre schön. Ein offenes Ende, das nachwirkt – denn was wird mit dem Mann im Schuppen?

Doch damit muss man bei Susanne Neuffer rechnen: Manchmal skurril bis surreal, manchmal poetisch und manchmal geprägt von absolut trockenen Humor sind ihre Erzählungen alles andere als harmlos, sondern immer überraschend.

Messerscharfe Analysen

Sie scheint mir ebenso zu sein wie eine meiner liebsten Figuren in diesem Erzählband, wie das Kind A., eine, die sich durch „ernstes Mitspielenwollen“ und zugleich „distanzlose Entferntheit von allem“ auszeichnet. Eine Schriftstellerin, die messerscharf menschliche Befindlichkeiten analysiert und sich dabei zugleich eine kindliche Verspieltheit bewahrt hat:

„Natürlich ist es zu spät, um zu den anderen Erwachsenen hinzugehen und zu sagen: Ich spiele jetzt mit. Aber es ist nicht zu spät sich vor der nächsten Veranstaltung Kringellocken machen zu lassen, steil nach oben ragende, entschlossene Kringellocken.“


Mehr Informationen zum Buch:

Susanne Neuffer
„Im Schuppen ein Mann“
Maro Verlag, 2019
Broschur, 224 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-87512-489-7

Homepage der Autorin:
https://susanne-neuffer.de/

Michael Lichtwarck-Aschoff: Der Sohn des Sauschneiders

Können Rinder ohne Hörner gezüchtet werden? Und ist der Mensch verbesserlich? Ein doppelbödiger Roman über eine spannende Zeit in der biologischen Forschung.

pharmacy-4496633_1920
Bild von analogicus auf Pixabay

„Der Grottenolm kommt blind auf die Welt. Wozu bräuchte er in der Dunkelheit, in der er sein Leben verbringt, auch Augen. Aber die Anlagen zu Augen hat er. Und wenn er in zwei Heimaten leben kann, in einer finsteren und einer taghellen – könnte er dann nicht auch lernen, seine Augen zu öffnen, sie aus den flachen Gruben heraus, in denen sie schlummern, zum vollen Sehen entwickeln? Könnte er das Sehen lernen, wenn man ihn in eine andere Heimat verpflanzt?“

Michael Lichtwarck-Aschoff, „Der Sohn des Sauschneiders oder ob der Mensch verbesserlich ist“


Dem Grottenolm haftet etwas Sagenhaftes an. Der Schwanzlurch, der wohl bis zu 100 Jahre alt werden kann, wurde zu früheren Zeiten wegen seines Aussehens und seiner Lebensweise – er hält sich in überfluteten Höhlenteilen auf und kommt selten ans Tageslicht – auch als „Drachenjunges“ bezeichnet oder als „Menschenfischlein“. Was aber tun, wenn der einzige Besitz der Familie ein karger Acker ist, auf dem nur Steine zu finden sind und ab und an ein Grottenmolch auf den Boden geschwemmt wird?

Eigenwilliger Held, spröde wie das Land

Ein großes Geschäft mit den Drachenkindern zu machen, das ist die Sache des Franz Meguşar nicht. Dieser eigenartige, eigenwillige Held dieses ebenso eigenartigen und eigenwilligen Romans ist so spröde wie sein Familienacker. Er starrt und staunt, im Dorf hält man ihn gar für zurückgeblieben, doch plötzlich macht es einen „Riss“ und die Fähigkeit zu laufen, zu sprechen, zu fühlen ist da. Als seine kleine Schwester Jožefa gar von einem Stier – dessen Samen die zweite Erwerbsquelle der Familie ist – mit dem Horn verletzt wird, verursacht dieses Unglück den ganz entscheidenden Riss:

„Die Zeit dazwischen, also von da weg, wo der Vater im Wirtshaus auf ihn wartet, bis zu diesem Schlachtfeld in Wolhynien, verbrachte Franz mit dem Versuch, der Kuh die Hörner wegzuzüchten und dem blinden Drachenkind das Sehen beizubringen. Es wäre ihm dabei um die Frage gegangen, ob man das Rindvieh zur Hornlosigkeit erziehen kann und ob es, nach abgeschlossener Ausbildung, tatsächlich nur noch friedliche, hornlose Kälber in die Welt setzt.“

Das Vivarium von Hans Leo Prizbram

Dem Franz und seiner Idee von der Hornlosigkeit des Rindes, die er obsessiv verfolgt, kommt ein Zufall entgegen: Ausgerechnet auf dem Familienacker prallen zwei gegensätzliche Weltanschauungen aufeinander. Sowohl den Biologen Paul Kammerer als auch den Eugeniker Abel zieht es in die Steiermark auf der Suche nach dem Grottenolm. Franz, der sich von der Begeisterungsfähigkeit Kammerers anstecken lässt, geht zu diesem nach Wien: An das „Vivarium“, der ersten biologischen Versuchsanstalt in Europa, in der tatsächlich unter dem Zoologen Hans Leo Prizbram wegweisende biologische Experimente durchgeführt wurden.

Begegnung mit Alma Mahler-Werfel

Dort landet Franz, zwischen Grottenolmen, Geburtshelferkröten, Gottesanbeterinnen und Alma Mahler-Werfel. Die Femme fatale der Wiener Kulturwelt arbeitete an dem Institut tatsächlich einige Zeit als Praktikantin im „Vivarium“, der Autor gibt ihr, mit leiser Ironie, die Rolle der Tierpflegerin bei den Gottesanbeterinnen. Franz gerät mitten hinein in einen Wissenschaftsstreit: Abel bezichtigt im Kampf um eine Professur den Kammerer des Betrugs und lässt das Vivarium ausspionieren. Eine entscheidende Rolle kommt dabei dem Erzähler, einem gescheiterten Journalisten, zu. Als Ungereimtheiten bei den Experimenten öffentlich werden, ist der Ruf der Anstalt ruiniert. Abel steht vor seinem Ziel, die Universität Wien „judenfrei“ zu halten. Paul Kammerer wird sich später das Leben nehmen, noch sehr viel später stirbt Prizbram im Konzentrationslager Theresienstadt. Und weil man bei den Büchern von Michael Aschoff-Lichtwarck immer nebenbei noch etwas dazu lernt, so erfährt man ganz unerwartet, dass auch einen wie Arthur Koestler später das Schicksal des Vivariums beschäftigte.

Auf kunstvolle Weise verknüpft hier Lichtwarck-Aschoff Fiktion und historische Realität, um weitaus mehr zu erzählen als die Geschichte eines für seine Zeit innovativen Instituts: Es ist die Epoche, als Darwins Forschung ideologisch missbraucht wird, die Epoche, als Sigmund Freud mit seinen Erkenntnissen den Blick auf den Menschen revolutioniert, als in der Forschung Welten aufeinanderstoßen. Die eines humanitären Weltbildes, das den Menschen zwar als Raubtier erkennt, aber ebenso wissen will, was es braucht, damit „der Mensch verbesserlich ist“. Und die eines Weltbildes, das die Schwachen zurücklassen will, das Gebrechliche aussondert, das auf die „Reinheit“ des Erbgutes setzt.

Der Weg zur nationalsozialistischen Euthanasie

Bei einem entscheidenden Rededuell zwischen den beiden Polen lässt Lichwarck-Aschoff den Eugeniker Abel folgendes sagen:

„Das hat Darwin uns gelehrt: Die Stärksten mit den besten Erbanlagen setzen sich durch. (…) Natürlich bin auch ich für Freundlichkeit und für den Schutz der Schwachen, wer wäre das denn nicht? Wir sind Menschen und keine Untiere. Wir stürzen die Alten und Schwachen nicht vom Felsen herunter. Aber wir dürfen vor lauter Gefühlsduselei nicht übersehen, dass die Natur auch bei uns Menschen mit dem großen Knüppel zulangt, sie ist blind, und nur weil sie blind ist, auch gerecht. Wir dürfen die Schwachen nicht vernichten, wie kämen wir dazu. Aber sollen wir sie ermuntern, sich auch noch fortzupflanzen? (…) So vermehrt sich das Schwache auf Kosten des Starken, bis wir einen immer größeren Teil unserer Reichtümer damit verschwenden, Schwachsinnige zu päppeln.“

Was da, als der Erste Weltkrieg aufdämmert, als Gedankengut ausgesprochen wird, wird wenige Jahre später zur grausamen Realität mit dem Euthanasie-Programm der Nationalsozialisten. Auf der fiktiven Ebene übrigens stirbt unser schweigsamer, spröder Held Franz den „Heldentod“. Sein Freund, der Berichterstatter, sorgt für eine spätere Rehabilitation Franzens, entlastet ihn vom Betrugsvorwurf. Dennoch ist dies im Grunde ein melancholisches, fatalistisches Ende: Abel und seine Anhänger „mit den ausrasierten Nacken“ obsiegen und beweisen damit im Grunde, dass der Mensch wenig verbesserlich ist.

Die Grottenolme kommen aus der Höhle

Insofern gibt dieser Roman, obgleich er in zurückliegender Zeit spielt, auch einen Fingerzeig auf die Zustände unserer Welt heute. So viel scheint wieder hervorzukriechen wie der Grottenolm aus seiner Höhle. Und obwohl finstere Zeiten hinter uns liegen, scheint der Mensch daraus wenig gelernt zu haben. Man fragt sich, wie oft wir Rindviecher uns noch die Hörner abstoßen müssen, bis die Vision friedlicher, hornloser Kälber eintritt?

Schon bei seinem Erzählband „Als die Giraffe noch Liebhaber hatte“ begeisterte mich die Fähigkeit von Michael Lichtwarck-Aschoff, Naturwissenschaft als feinsinnige Geschichte(n) zu erzählen. Mit seinem Roman setzt er dies fort und zeigt einmal mehr auf kluge Art und Weise, wie sehr Forschung und Weiterentwicklung immer auch im Kontext ihrer Zeit und der herrschenden Weltanschauungen stehen. Für seinen Roman wählte er eine spröde, fast altmodisch klingende Sprache, die dem Rhythmus des langsamen Franz angepasst ist. Er erzählt bedächtig, fast zögerlich geht die Geschichte voran. Aber das passt zu diesem doppelbödigen Buch: Denn wie man sieht, ist auch die Entwicklung des Menschen zum hornlosen Rind ein langer Weg.


Bibliographische Angaben:

Michael Lichtwarck-Aschoff
„Der Sohn des Sauschneiders oder ob der Mensch verbesserlich ist“
Klöpfer.Narr Verlag, 2019
ISBN 978-3-7496-1005-1

Inger-Maria Mahlke: Archipel

Mit ihrem „rückwärts erzählten“ Familienroman errang Inger-Maria Mahlke 2018 den Deutschen Buchpreis. Zu Recht – das Experiment ist gelungen.

the-medano-2095711_1920-1024x768
Bild von Mister I auf Pixabay

„Hellgrau leuchten die Wolldecken im von der Mauer zurückgeworfenen Mondlicht, sonst haben sie die gleiche stumpfe Farbe wie Kittel, Schürzen und Nachthemden. Die neue Farbenlehre. Soldaten sind khaki, verwaschen blau die Falange, die Polizisten grau, Guardia Civil graugrün, die Armen staubfarben, die Pfarrer schwarz, Seminaristen chorhemdweiß, violett ist der Bischof. Rot ist niemand mehr.“ (1944).

Inger-Maria Mahlke, „Archipel“


Die neue politische Farbenlehre Spaniens, eingeführt nach dem Ende des Spanischen Bürgerkriegs und dem Putsch gegen die Republik, beginnend mit dem Aufstieg der Faschisten. Sie wird noch Generationen überdauern, das Land und seine Menschen über Jahrzehnte prägen. Kunstvoll verknüpft Inger-Maria Mahlke die Schicksale mehrerer Familien auf der Insel Teneriffa in ihrem Roman „Archipel“, mit dem sie 2018 den Deutschen Buchpreis erhielt. Nicht zu Unrecht, ist dieses Buch doch sowohl erzählerisch als auch formal als gelungen zu betrachten.

Der Roman setzt ein 2015: Felipe Bernadotte González, Sprössling einer der über das Wasser und die Insel herrschenden Familie, in ewiger Opposition zu den kolonialistisch tätigen Vorfahren lebend, verbringt seine Tage süffelnd in einem Club, Ehefrau Ana ist in einen Politik- und Korruptionsskandal verwickelt und Tochter Rosa, so heißt es lapidar im Personenregister, „macht irgendetwas mit Kunst.“ Anas Vater Julio Baute, einst von den Faschisten verfolgt, hütet als betagter, aber rüstiger Portier die weniger rüstigen Alten im Heim, Eulalia, die Haushaltshilfe der Familie González, hat angesichts der Wirtschaftskrise noch ganz andere Sorgen.

„Ein Freistaat, so hat Sidney sich die Zukunft der Insel immer vorgestellt, wenn schon keine britische Kolonie, dann ein Freistaat. Keine Zölle, keine Steuern. Um die Straßen von den Packstationen zu den Verladekais, um die Erweiterung des Hafens würden sich die Firmen kümmern, in ihrem eigenen Interesse. Die tägliche Portion Gofio wäre den Einheimischen sicher.“ (1919).

Von diesem Ausgangspunkt in der Gegenwart aus erzählt Inger-Maria Mahlke rückwärts, hinein bis in das Jahr 1919, als die Insel wirtschaftlich fest in der Hand der Briten und Amerikaner war. Die feudale Gesellschaftsordnung begünstigt den Aufstieg einzelner Familien, die auch die Zeit der wirtschaftlichen Isolation während der Franco-Diktatur unbeschadet überstehen. Statt Land- und Wasserrechten und dem Export von Bananen und Tomaten bringt die Demokratie und die Öffnung des Landes neue wirtschaftliche Möglichkeiten: Tourismus ist die neue Währung.

Ein opulenter Familienroman

Doch, so zeigt es Inger-Maria Mahlke in ihrem Experiment eines Familienromans, von der Entwicklung profitiert keiner: Die González, die für die „upper class“ stehen, wirken degeneriert, auch ob Rosa eine Hoffnungsträgerin wird in ihrer „irgendwas-mit-Kunst-Opposition“ ist ungewiss. Die Mittelschicht muss durch alle Jahrzehnte hinweg um ihren Platz bangen, ist den Wogen der Politik ausgeliefert wie ein Boot auf dem Ozean. Und die unteren Zehntausenden, repräsentiert durch Eulalia, ihre Mutter Merche und deren unbenannte, nur als „Katze“ bezeichnete Mutter, bleiben dort, wo eine auf Kapitalismus und durch den Katholizismus geprägte Gesellschaft sie vorgesehen hat: Unten.

In „Der Tagesspiegel“ wurde der Roman von Carsten Otte hervorgehoben:

„Der Roman heißt nicht nur „Archipel“, er ist auch in ästhetischer Hinsicht eine Art Inselgruppe mit sehr unterschiedlichen Eilanden, die unterirdisch miteinander verbunden sind und von Mahlke sowohl in literarischer Lupenansicht als auch aus einer Art Helikopter-Perspektive untersucht werden. Als wäre dies nicht allein eine literarische Herausforderung, bietet der Roman formal und inhaltlich ein alles überwölbendes Hauptthema, und das besteht im beeindruckenden Versuch, Geschichte und Lebensgeschichten gegen die bedingungslose Macht der Zeit zu erzählen.“

Hinzuzufügen ist, dass das Buch, auch wenn die Vielzahl an Personen und die Technik des Rückwärts-Erzählens kein Easy-Reading ermöglichen, durch seine bildkräftige Sprache und den beinahe lakonischen Stil der Autorin (die in Lübeck und Teneriffa aufgewachsen ist) überzeugen. Alles in allem: Excelente!


Informationen zum Buch:

Inger-Maria Mahlke
Archipel
Rowohlt Verlag, 2018
ISBN: 978-3-498-04224-0

Dörte Hansen: Mittagsstunde

Der zweite Roman von Dörte Hansen ist bevölkert von knorrigen Typen. Aber die Geschichte wirkt etwas dröge, vage, unfertig.

cow-354428_1920-1024x786
Bild von Frauke Feind auf Pixabay

„Der große Büffelschädel, der neuerdings an einer Wand des Brinkebüller Tanzsaals hing, gab Gasthof Feddersen ästhetisch endgültig den Rest. Am rechten Horn des Schädels hing ein Spinnennetz, und Ingwer war schon drauf und dran, das Staubtuch und die Trittleiter zu holen, um es wegzumachen. Putzperle Feddersen! Er pfiff sich gerade noch zurück. Ein Staubtuch hätte sowieso nichts mehr genützt, es konnte nicht mehr schlimmer werden. Die Hässlichkeit des Raumes hatte ihre maximale Sättigung erreicht, es kaum auf ein paar Spinnennetze nicht mehr an.“

Dörte Hansen, „Mittagsstunde“


Vor nicht allzu langer Zeit habe ich, wie viele andere auch, „Altes Land“, das Debüt von Dörte Hansen, mit Begeisterung gelesen. Es brauchte allerdings keine maximale Anstrengung dafür, es war neu, frisch, unaufgeregt geschrieben und für eine Bayerin mit wenig Kenntnis des hohen Nordens beinahe schon exotisch. Hängen geblieben ist allerdings nicht viel. Es ging irgendwie um Norddeutschland, ums Dorf, die Invasion der Städter, die Verstrickungen und Verirrungen der Dorfleute um- und miteinander. Und nun „Mittagsstunde“: Nach der maximalen Unterhaltung durch die knorrigen Typen im alten Land ein neuer nördlicher Ausflug, geprägt allerdings von minimaler Anstrengung. Wieder was mit Norden, Dorf, Städtern, Verstrickungen. Beim Lesen jedoch mein Ankämpfen gegen minimale Müdigkeit. Und einen minimalen Ärger.

Brinkebüll ist ein Klischee

Als ärgerlich empfinde ich es, dass in nicht wenigen Rezensionen zu diesem Buch herausgehoben wird, es vermeide Klischees. Für mich wurde jedoch dieses ganze fiktive Brinkebüll beim Lesen zu einem einzigen Klischee: Angefangen vom stets alkoholisierten Junggesellen, Dauergast im Gasthof Feddersen, über den stocksteifen Lehrer bis hin zu all den ganzen anderen entweder knorrigen oder aber „halfbackenen“ Typen, die dieses Buch bevölkern. Das Dorf, Keimzelle des Originellen, Absonderlichen. Und dabei alle „genügsam wie ein Torfmoos“. Ich warte nun auf ein Pendant aus dem Bayerischen, aus Adelschlag etwa oder Etzelwang, das könnte „Abendmesse“ lauten und wäre bevölkert mit irgendwie grantigen, derben, vor allem aber knorrigen Typen.

Ja, ich weiß: Normalität, das Alltägliche, der Allerweltsmensch, das eignet sich für das romanhafte Erzählen für die meisten Schriftsteller nicht. Und obgleich das Buch eine eigentlich ganz alltägliche Geschichte – ein nicht mehr ganz junger Mann kehrt inmitten einer Selbstfindungskrise in das Dorf seiner Kindheit zurück – erzählt, und obwohl Dörte Hansen dies irgendwie „norddeutsch“-unaufgeregt erzählt, wie dieser nicht mehr ganz junge Mann seine gebrechlichen Großeltern pflegt und dabei die Familiengeschichte aufgeblättert wird, ja obgleich, obwohl – das Ganze ist mir etwas zu angestrengt „aufgepeppt“ durch knorrige Typen und bleibt denn doch irgendwie im Vagen, Ungefähren. So unentschlossen wie sein Protagonist Ingwer (das bleibt vom Buch beim Kochen nun zumindest hängen, dass einer so heißen kann), so offen wie sein Ende.

Charaktere bleiben zu sehr Typen

Bleiben die Charaktere (vielleicht einfach auch zu viel davon) irgendwie diffus, manche zwar, wie Lehrer Steensen etwas tiefer auserzählt, etliche jedoch einfach zu sehr „Typ“ mit Nebenauftritt, so mangelt es mir an der Geschichte an sich auch an Tiefe. Es wirkt so unfertig und ein wenig dröge wie sein Held Ingwer.

Es ist die Sprache von Dörte Hansen, die über manches hinwegträgt. Aber auch da findet sich in diesem Roman ein wenig zu viel des Guten: Es scheint mir fast, als wäre die Autorin in einen Beschreibungsrausch gefallen. Das alte Dorf ist niemals nur eng, sondern es gibt das  „ganze Enge, Schiefe und Beschränkte“, es ist nicht am Verschwinden, sondern es wird „ausradiert, berichtigt und begradigt“, man sitzt in „Kellern, Gruften oder Höhlen“, man plaudert, schludert, tratscht, man fühlt ein Brennen, Schuld und Scham, es geht zu wie Kraut und Rüben, großes Kuddelmuddel. Heilige Dreiwortigkeit. Es erschien mir fast, als habe die Autorin ihrer eigenen Sprachkraft nicht mehr über den Weg getraut. Dabei kann sie Bilder zeichnen von großer Einprägsamkeit, in Sätzen, die auf die Aufzählungsversicherung verzichten können:

„An den Koppelrändern standen Kühe mit gesenkten Köpfen wie Melancholiker an Bahnsteigkanten, sie suchten unter den Büschen Schutz und starrten kauend auf die durchgeweichten Felder, die Hufe tief im nassen Grund. Sie stellten sich beim Melken an, als würden sie belästigt.“


Informationen zum Buch:

Dörte Hansen
Mittagsstunde
Penguin Verlag, 2018
Hardcover mit Schutzumschlag, 320 Seiten
22,00 Euro
ISBN: 978-3-328-60003-9

Kurz&knapp: Kinderbücher von Erika Mann, Marlen Haushofer und Hilde Domin

Sie verfassten moderne Literatur für Erwachsene – und ganz zauberhafte Kinderbücher: Hilde Domin, Erika Mann und Marlen Haushofer.

Kinderbü
Bild: (c) Michael Flötotto

Ihre Namen bringt man mit herausragender Lyrik in Verbindung, mit einem Klassiker der zeitgenössischen Literatur, mit engagiertem politischen Schreiben, mit Exilliteratur, mit Kabarett und modernen Romanen – kurzum mit Erwachsenenliteratur. Doch Hilde Domin, Erika Mann und Marlen Haushofer, sie alle drei schrieben auch ganz bezaubernde und bemerkenswerte Bücher für Kinder und Jugendliche.

„Ich lebte auf einer Insel, die war ganz anders als die Inseln, die ihr kennt. Nachmittags pünktlich um fünf flogen Papageien über das Haus, eine grüne Wolke. Wie Tauben, aber eben grün. Sie kreisten nicht, sie flogen vorbei, und sie unterhielten sich sehr laut, in ihrer eigenen Sprache.“

Hilde Domin, „Die Insel, der Kater und der Mond auf dem Rücken“, 1966

Hilde Domin (1909-2006) verbrachte 22 Jahre ihres Lebens im Exil – einen Großteil davon in der Dominikanischen Republik. Domin, die mit Mädchennamen Löwenstein hieß und nach ihrer Verheiratung Hilde Palm, veröffentlichte ihre Gedichte nach der Rückkehr nach Deutschland 1954 unter dem Pseudonym „Domin“. Abgeleitet von der Insel, auf der sie zum Schreiben fand, die zum Zufluchtsort geworden war. Doch nicht zur reinen Insel der Seligen: Das Andersbleiben in der Fremde, das Leben zwischen verschiedenen Welten, dies kommt auf ganz poetische Art und Weise auch in den Erzählungen über den kleinen Kater Gogh zum Ausdruck. Der Lyrikerin war auf der Insel selbst ein einohriger Kater zugelaufen, der sie Jahre später zu der Geschichte inspirierte. Gogh ist der sprichwörtliche „schwarze Kater“, dem, weil er anders ist als andere Katzen, alles Unheil zugeschrieben wird. Das „Anderssein“: Ein Thema, mit dem Hilde Domin zunächst als Jüdin in ihrem Heimatland, dann als Exilantin auf der Flucht ständig konfrontiert war. Aber auch ein Thema, das Kinder immer wieder bewegt.

Hilde Domin hatte ansonsten nur für Erwachsene geschrieben. Die Texte um den Kater Gogh blieben eine Ausnahme. 1966 wurde sie von der Kinderbuchverlegerin Gertraud Middelhauve gebeten, einen Text für Kinder zu verfassen. So entstand der »Bericht von einer Insel«, der in der Anthologie »Dichter erzählen für Kinder« veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „Die Insel, der Kater und der Mond auf dem Rücken“ wurde die Geschichte zum 100. Geburtstag der Dichterin im Jahr 2009 vom S. Fischer Verlag veröffentlicht, illustriert von Alexandra Junge.

„Seit Christoph Bartel zehn Jahre alt war, durfte er allein bei den Booten sein und aufpassen. Er hatte auch eine schwarze Ledertasche umhängen wie ein erwachsener Straßenbahnschaffner und wußte genau, daß eine halbe Stunde Kahn fahren dreißig Pfennige kostete, wenn die Leute selber ruderten. Wenn aber er ruderte, Christoph– Stoffel, kostete sie fünfzig Pfennige, und in diesem Fall war er besonders stolz. Natürlich ging das alles nur nachmittags, denn vormittags war Schule, und Stoffel war sogar ein ziemlich guter Schüler. «Vom Schlechtsein hat man bloß Ärger», pflegte er zu sagen, «und schließlich sind die Lernsachen ja alle ganz ulkig – man muß sie sich nur richtig zurechtlegen.»“

Erika Mann, „Stoffel fliegt übers Meer“, 1932

Eine ganz andere Seite zeigte die sonst so scharfzüngige Kabarettistin und Journalistin Erika Mann (1905-1969) in den insgesamt sieben Kinderbüchern, die sie schrieb. Vor allem das erste davon, das 1932 erschienene „Stoffel fliegt übers Meer“ (als Taschenbuch beim Rowohlt Verlag erhältlich) fand großen Anklang. Gewidmet war es ihren jüngeren Geschwistern Elisabeth und Michael: „Für Medi und Bibi, weil sie meine Geschwister sind, und weil sie es gerne wollten“. Die Illustrationen dazu steuerte ihr Jugendfreund Richard Hallgarten bei. Das Buch erschien kurze Zeit nach dem Suizid des Malers und Grafikers, der sich im Mai 1932 das Leben genommen hatte – eigentlich wollte Erika Mann Hallgarten mit diesem Projekt Lebensmut geben, doch er war nicht zu halten.

Das Buch erzählt vom zehnjährigen Stoffel, der zum Unterhalt seiner Familie durch Bootsvermietungen etwas beisteuert. Die Weltwirtschaftskrise macht sich auch in der ländliche Idylle bemerkbar: Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Daher will Stoffel den reichen Onkel Sepp im sagenhaften Amerika besuchen. Er gelangt über verschiedene Stationen tatsächlich in den Zeppelin nach New York und erlebt dabei etliche Abenteuer – mit Happy End.

Im Hause Mann hatten Kinderbücher Tradition: Schon Erikas Vater und Onkel – Thomas und Heinrich, müßig zu erwähnen – hatten ihren jüngeren Geschwistern ein „Bilderbuch für artige Kinder“ gewidmet. Erika setzte als älteste Tochter von Klaus Mann diese Tradition fort. Neben Szenen aus den Kinderspielen, die die jungen Manns so trieben, gingen auch viele authentische Erlebnisse in den „Stoffel“ ein, Urlaubsabenteuer im bayerischen Land oder auch die Weltreise, die Erika und Klaus Mann 1927 unternommen haben. Das Kinderbuch ist auch heute noch herzerwärmend und lesenswert. Marcel Reich-Ranicki schrieb 1989 über Erika Manns Texte für Kinder: „Die flotten und phantasievollen Kinderbücher, in denen sie bisweilen den Großmeister dieses Genres, Erich Kästner also, heiter nacheiferte, hatten viele Leser (…). Es seien dem Stoffel daher viele neue Leser gewünscht.“

„Als er noch ganz winzig war, nannten ihn die Menschen Peter. Er lag bei seiner Mutter Tschitschi in einem weichgepolsterten Korb, und es ging ihm sehr gut. Seine Mutter war weich und warm, roch sehr angenehm und versorgte ihn mit süsser Milch. Manchmal juckte ihn etwas, aber er wusste nicht, dass es ein Floh war, und er vergass den kleinen Schmerz gleich wieder. Seine Mutter war eine zarte silbergraue Katze, die sehr viel auf Reinlichkeit hielt und ihn immer wieder sauberleckte. Sein Vater war der ärgste Raufbold der Stadt, sein Grossvater ein riesiger Dorfkater, der berühmt war wegen seiner Stimme, und einer seiner fernen Urahnen war ein Wildkater gewesen. Von ihm stammte die schöne Zeichnung auf Peters Fell und sein unbändiges Temperament.“

Marlen Haushofer, „Bartls Abenteuer“, 1964.

Bei Marlen Haushofer (1920-1970) denkt man unwillkürlich auch an „Die Wand“, das berühmteste Buch der österreichischen Schriftstellerin. Neben ihren Romanen und Novellen veröffentlichte sie jedoch auch eine ganze Reihe Kinder- und Jugendbücher. Lange Zeit war die Wahrnehmung eine andere – die Autorin war nach ihrem Tod zwar noch einigermaßen wegen ihrer Kinder- und Jugendbuchliteratur im Gedächtnis geblieben. Ihre weitaus schwierigeren, dunkleren Werke für Erwachsene wurden vergessen, nach ihrem Tod war es still geworden um ihre literarischen Werke. Erst mit der Neuauflage von “Die Wand” 1983 schenkte man Haushofer als einer Vertreterin feministischer Literatur wieder die ihr gebührende Aufmerksamkeit.

Zurück zu den Kinderbüchern: Das bekannteste davon ist wohl die 1964 erschienene Roman um den kleinen Kater Bartl, der in eine Familie kommt, sich dort zurechtfinden muss und beim Erwachsenwerden einige Abenteuer und kleinere Katastrophen übersteht. Freunde der Autorin versicherten später, der Roman gebe auch ein Abbild von Marlen Haushofers Familie, doch das Ehe- und Familienleben der Autorin waren bei weitem nicht so idyllisch, von Trennungen und Zwistigkeiten geprägt. Über die Hauskatze Iwan, wohl ein Vorbild für den Bartl, sagte Haushofer einmal, er sei das einzige Wesen in der Familie, über das es keine Streitigkeiten gäbe.

Ob nun ein herbeigeschriebenes und –gesehntes Familienidyll oder nicht: Der Roman mit seinem leicht naiven Ton ist dennoch für kleiner Kinder auch heute noch (vor-)lesenswert und stellenweise, um ihn mit diesem altmodischen Ausdruck zu bedenken, auch ganz „entzückend“.