
“Der Pabba bestellt sich einen Champagner Rosé, dreht sich zu den Umsitzenden wie einer jener Hartgummi-Cowboys, die sich nur noch um die eigene Taille drehen können, und setzt noch einen drauf: noch die Blattsalade mit Tausend-Eiland-Dressink und die Flasch Wasser. Herrlich, so ein Sonntag in der Fußgängerzone Heidelberg, findet er und eröffnet das Gespräch mit seiner Frau durch den Ausruf: „Wat Menschen! Wat Menschen!“ Das findet seine Frau auch.“
Roger Willemsen, „Deutschlandreise“
Nun, irgendwo müssen sie ja hin, die vielen Touristen: Nicht alle bewältigen den Aufstieg zum Schloss oder haben den Nerv, an der Schlossbahn in den Warteschlangen auszuharren. Für viele ist bei der berühmten Neckar-Brücke Schluss. Und so erlebt man in der Heidelberger Fußgängerzone täglich die oben beschriebene Parade – denn irgendwo müssen sie ja hin, die vielen Touristen in der Stadt mit dem höchsten Besucheraufkommen Deutschlands. Für einen wie Roger Willemsen boten solche Biotope genügend Stoff für feinkritische Beobachtungen – sie sind versammelt in dem 2002 erschienenen Buch „Deutschlandreise“.
Eine Expedition durch das Heimatland
Willemsen fuhr 2001 und 2002 kreuz und quer durch seine Heimatland. Ein reizvoller Gedanke: Die Heimat aus den Augen eines Reisenden, eines „Fremden“ zu betrachten. Aber ahnt man nicht schon beim Aufschlagen des Buches, wie das Deutschlandbild eines Willemsen sein wird? „Denk ich an Deutschland in der Nacht …“: Heine lässt grüßen. Das Leiden an der Heimat, an „den Deutschen“ und an „Schland“, eine intellektuelle, kulturhistorische Tradition.
„Ich sitze im Zug und fahre weit weg. Nach Deutschland. Oder besser zu den so genannten Menschen draußen im Lande. Aber wo ist das? (…) In Deutschland nach Deutschland zu reisen, das ist die Exkursion zu einer Fata Morgana. Am schönsten ist das Land als Versprechen, weit weg. Ein Weiler unter der Hügellinie, drei rote Dächer und eine Birke, ein Windstoß in den Sträuchern und eine Frau, die zum Wäscheaufhängen unter die Bäume tritt. Gute Menschen, die Milch aus zottigen Viechern melken und vor dem Essen beten. Das unausrottbar Schöne, doch, das gibt es, aber man darf ihm nicht zu nahe kommen.“
Nun, keiner kann sich von Klischees befreien. Auch ein Willemsen nicht, der offenbar die Erfindung der Melkmaschine ignoriert. Ganz frei vom intellektuellen Hochmut des Einzelgängers – oder besser: „Einzelfahrers“ – ist dieses Buch nicht, nicht ganz frei von Denkschablonen. Aber das tut dem Lesevergnügen beim Mitleiden an “Schland” keinen Abbruch – wenn man die Klischees teilt, wenn man ähnlich denkt.
Dorthin, wo es weh tut
Natürlich schaute Willemsen dorthin, wo es wehtut: Dem Volk aufs Maul. Ich frage mich, wie dieses Buch heute wohl aussehen würde, da sich die „besorgten Bürger“ offen zu artikulieren wagen, verbale Hemmschwellen gefallen sind, da dieses „Ich bin stolz auf mein Land“, ausgesprochen mit dem fürchterlichen Ton des Herrenmenschen, so schreckliche Assoziationen mit sich bringt.
Insofern sind die Reisebeobachtungen des Roger Willemsen zwar von gestern, aber nicht überholt: Er zeichnet das Bild einer Nation, in denen Shopping-Malls zu Lebenssinnerfüllungszentren werden. In der die Angst, die sich in diesen Tagen äußert, die Angst vor dem „Fremden“, der uns den Wohlstand streitig macht und damit die innere Leere enthüllt, in der eben diese Angst regiert. Er zeichnet ein Bild vom Boden, aus dem in den jetzigen Zeiten die Hetze kriecht …
Und, weil es an dieser Stelle passt: Er fehlt, dieser feine Beobachter, diese kritische Stimme.
Mit dem Blick des Ethnologen
Man mag manches überzeichnet finden, manches überhöht: Doch Willemsen warf eben nicht den nüchtern-sachlich-wissenschaftlichen Blick eines Ethnologen auf das Land, nicht den eines Insektenforschers, der das Treiben geschlechtsreifer Großstädter und des Landvolkes kalt durch das Mikroskop betrachtet. Sondern den wehmütigen Blick eines dessen, der „sein“ Land trotz aller Kritik liebt:
„Vermutlich würde es den Menschen das Sprechen über ihr Land erleichtern, wenn sie sich alle als Heimatvertriebene erkennen wollten, davongejagt aus künstlichen Paradiesen. Von der Heimat lohnt es sich nur zu sprechen als von einem Mangel, dem Inbegriff des Verlorenen.“
Das Buch (in der Taschenbuch-Ausgabe beim Fischer Verlag erschienen) habe ich übrigens bei meinen derzeitigen Deutschlandreisen in einer Bahnhofsbuchhandlung erworben. In einer Passage reflektiert Willemsen über jene Bahnhofshallen, die keine Bahnhofshallen mehr sind, sondern Einkaufserlebniszentren, aus denen jene, für die Bahnhöfe seit jeher ein Dach über dem Kopf sind – Obdachlose, Junkies, Ausreißer – verdrängt werden, damit das Konsumerlebnis dem umsatzwilligen Reisenden nicht vergällt wird. Dazu passt die Entwicklung der meisten Bahnhofsbuchhandlungen, bei denen das Wort „Buchhandlung“ zum Euphemismus pervertiert ist: Dort lassen sich zahllose Lifestyle-Magazine erwerben, erstaunlich sind die Massen an Publikationen wie „Landlust“ oder sonstigem ländlichen Leben im Titel – als ob jeder Zugreisende eine innerliche Landflucht erwägt. Daneben Computer-, Wirtschafts – sorry, will meinen: Business – Magazine, Comics, Tageszeitungen, „WELTPRESSE“ schreit aus von den Wänden. Aber „das Buch“: Meist an ein hinteres Ladenregal verbannt, die Auswahl übersichtlich, an der Spiegel-Bestsellerliste orientiert, daneben ein wenig Liebeskram und Vampirzeug. Deutschland, sag mir was du liest, und ich sage Dir …
Es entbehrt nicht der Ironie, dass allerdings in jeder Bahnhofs“buchhandlung“, die ich in letzter Zeit betrat, auch die „Deutschlandreise“ von Roger Willemsen zu finden war. Wohl als „Marketinggag“ für Reisende? Ich frage mich, ob die Bahnhofs“buchhändler“ wissen, was in dem Buch steht…
Bibliographische Angaben:
Roger Willemsen
Deutschlandreise
Fischer Taschenbuch, 2004
ISBN: 978-3-596-16023-5