Sabine Schiffner: Nachtigallentage

Die Nachtigall singt für die Liebenden: Doch die Protagonistin in diesem Roman hat zwar Vögel im Garten, aber vor allem eine Männerleiche im Keller. “Nachtigallentage” von Sabine Schiffner ist ein poetisches Lesevergnügen mit einer äußerst sympathischen, traumverlorenen Hauptfigur.

„Irgendwie ist alles ja schon fast so, als ob ich die Hauptfigur in einem Stück Literatur bin. Ich habe doch immer davon geträumt, aber dass sich mein Leben eines Tages in einen Roman verwandeln würde, dass hätte ich nicht gedacht. All das, was ich dir hier erzähle, kommt mir vor, als sei es erfunden und nicht erinnert.“

Sabine Schiffner, „Nachtigallentage“


Gevatter Freud hätte an diesem Roman seine helle Freude gehabt: Ein verträumtes Stück Literatur, eine Protagonistin, immer wieder an der Grenze zwischen Wachzustand und Tagtraum, beinahe somnambul. Die Kölner Schriftstellerin Sabine Schiffner betreibt in diesem Roman ein vergnügliches (und zugleich spannendes) Spiel auf mehreren Ebenen: Erzählt wird von einem Gattenmord und seinen Folgen, aus Sicht der Täterin, die dies ihrem späteren Geliebten, einem Polizisten gesteht. Doch schon im Vorsatz wird gewarnt:
„Es könnte so gewesen sein. Aber in Wirklichkeit war es ganz anders.“

Von außen betrachtet, klingt alles traumhaft schön: Ein Haus mit einem wunderbaren Garten, ein Mann und zwei niedliche Kinder. Sigune Vorinsfeld (allein schon dieser Name!) könnte glücklich oder wenigstens zufrieden sein. Aber, ach:

„(…) Sigune hat nur noch eine schwache Erinnerung an den Gesang der Nachtigall, vielleicht würde sie sie nicht einmal wiedererkennen, vielleicht verklärt sie in der Erinnerung die Sängerin (…). Seit Sigune von zu Hause ausgezogen ist, hat sie jedenfalls nie wieder eine Nachtigall singen gehört.“

Die Nachtigall, ein Symbol für die Liebe, die den Frühling ankündigt, sie flattert zugleich wie ein roter Faden und ein blaues Band durch diesen Roman: Immer wieder werden Zeilen des Liedes „Frau Nachtigal“ von Achim von Arnim aus der Sammlung „Des Knaben Wunderhorn“ zitiert.

Nachtigall, ick hör dir trapsen

Schon bald hört man die Nachtigall durch die vermeintliche Vorstadtidylle trapsen: Eins der Kinder ständig krank, der Gatte Andreas meist abwesend, ohne einen größeren Teil zur Finanzierung der Familie beizutragen, Sigune schlägt sich mit gelegentlichen Lektorats-Jobs durchs Leben und ist im Grunde ständig überfordert und dauernd müde. Liebesgezwitscher zwischen ihr und Andreas ertönt schon lang nicht mehr (wenn es denn je erklungen wäre), herrscht Schweigen und viel Unausgesprochenes. Sigunes Ventil ist messerscharf: Regelmäßig ritzt sie sich an den Armen, seelische Narben, die nach außen sichtbar werden.

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Die sprichwörtliche Leiche im Keller

Und an einem von „diesen langweiligen Sonntagen in einem dieser typisch deutschen verregneten Maimonate“, in dem die Nachtigall natürlich nicht für Sigune singt, geschieht es, dass ihr Andreas nachts im dunklen Flur ins Messer läuft. Was sich danach entwickelt, ist Psychothriller und augenzwinkernde Komödie zugleich: Sigune, in ihrer ganzen tollpatschigen Verträumtheit und freundlich-liebenswürdigen Art, ist sicher eine der sympathischsten Mörderinnen, die mir bislang in der Literatur begegnet sind. Wobei es sogar offen bleibt, ob es ein Mord ist oder Andreas einfach nur ins offene Messer rennt …

Jedenfalls: Sigune hat nun eine Leiche, die sie loswerden muss und erst einmal kurzerhand im Keller einmauert. Kritisch wird die Situation erst, als sie sich ausgerechnet in Thomas, den Polizisten, der nach dem verschwundenen Mann fahndet (aufgrund einer Anzeige der Geliebten von Andreas, die nun auch auf der Bildfläche erscheint), verliebt. Thomas zieht bei ihr ein, will den Keller sanieren, die Leiche muss weg. Da helfen auch keine Beschwörungsformeln mit Achim von Armin mehr:

Nachtigal ich hör dich singen,
Das Herz möcht mir im Leib zerspringen,
Komme doch und sag mir bald,
Wie ich mich verhalten soll.

Welche organisatorische und kriminelle Energie Sigune plötzlich aufbringt, ist amüsant bis hin zu den Verwicklungen mit rumänischen Gangstern und nervigen Nachbarn. Das hat, trotz der Leiche im Keller, urkomische Momente:

„Sigune muss an ihre Großmutter denken, was die wohl sagen würde, wenn sie sehen könnte, was sie hier tut, in ihrem alten Küchenbüffet den Leichnam ihres Mannes transportieren?“

Trouble in der Vorstadt und Sigune, in deren Kopf es ziemlich „saust“, bleibt nur die Flucht nach vorn, was Thomas anbelangt: In die Erzählebene schiebt Sabine Schiffner immer wieder in kurzen Häppchen eine zweite Ebene ein, ein Dialog zwischen Sigune und Thomas, der sich vor den Augen der Leser immer mehr als nachgereichtes Geständnis entfaltet. Wie Thomas die Nachricht aufnimmt, dass er da eine Mordsfrau an seiner Seite hat? Das weiß die Nachtigall …

Der Garten als Paradies und Fluchtort

Dass „Nachtigallentage“ trotz des turbulenten Plots nicht „nur“ als Mordsgeschichte mit komödiantischen Zügen zu lesen ist, liegt auch an der Sprache der Autorin: Man spürt, vor allem wenn Sigune ihren Garten betrachtet, der ihr kleines Paradies, Rückzugs- und Fluchtort vor den quengelnden Kindern ist, dass Sabine Schiffner von der Lyrik kommt. Das ist voller poetischer Momentaufnahmen:

„Der nächtliche Dunst ist feucht und schwer. In das Dunkelgrün der Rhododendronblätter im Garten mischt sich als einziger Lichtblick das kleine Weiß der süßen Blüten vom Waldmeister, der nahe am Haus wächst.“

Zudem thematisiert „Nachtigallentage“ ganz unaufdringlich hinter der Kriminalgeschichte ein wichtiges Thema: Die Rolle der alleinerziehenden Frau, die Sigune in der Ehe mit Andreas faktisch ist, die unter allen ihren Pflichten (Versorgerin, Ernährerin, Mutter in ständiger Ansprechbereitschaft) nicht mehr weiß, wer sie eigentlich ist, wovon sie träumt und was sie möchte. Sie sei keine Nachtigall, sondern lang schon eine Lerche, meint Sigune an einer Stelle. “Nachtigallentage” erzählt auch von einer gescheiterten Beziehung und der großen Sehnsucht, es doch noch einmal besser zu treffen – am Ende wünscht man der sympatischen Mörderin Sigune, dass die Nachtigall noch einmal für sie trällert.

Die Nachtigall ist in der persischen Literatur ein Symbol sowohl für die Liebenden als auch für die Figur des Dichters. Eine Symbolik, die Sabine Schiffner wunderbar in diesem feinen Roman, der mit Dichtung und Wahrheit spielt, zusammenbringt.


Bibliographische Angaben:

Sabine Schiffner
Nachtigallentage
Quintus Verlag, Berlin, 2023
ISBN: 978-3-96982-065-0

Homepage von Sabine Schiffner:
https://sabineschiffner.de/

Eine weitere Besprechung gibt es beim Bücheratlas.

Literarische Orte: Heidelberg und die Romantiker

Mit Heidelberg ist eine Literaturepoche verbunden: Die „Heidelberger Romantik“. Hölderlin war ein Vorbote, Brentano und von Arnim die wichtigsten Vertreter.

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Bild von Heidelbergerin auf Pixabay

Lange lieb ich dich schon, möchte dich, mir zur Lust,
Mutter nennen, und dir schenken ein kunstlos Lied,
Du, der Vaterlandsstädte
Ländlichsschönste, so viel ich sah.

Wie der Vogel des Walds über die Gipfel fliegt,
Schwingt sich über den Strom, wo er vorbei dir glänzt,
Leicht und kräftig die Brücke,
Die von Wagen und Menschen tönt.

Wie von Göttern gesandt, fesselt` ein Zauber einst
Auf die Brücke mich an, da ich vorüber ging,
Und herein in die Berge
mir die reizende Ferne schien,

Und der Jüngling, der Strom, fort in die Ebne zog,
Traurigfroh, wie das Herz, wenn es, sich selbst zu schön,
Liebend unterzugehen,
In die Fluten der Zeit sich wirft.

Quellen hattest du ihm, hattest dem Flüchtigen
Kühle Schatten geschenkt, und die Gestade sahn
All` ihm nach, und es bebte
Aus den Wellen ihr lieblich Bild.

Aber schwer in das Tal hing die gigantische,
Schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund
Von den Wettern zerrissen;
Doch die ewige Sonne goss

Ihr verjüngendes Licht über das alternde
Riesenbild, und umher grünte lebendiger
Efeu; freundliche Wälder
Rauschten über die Burg herab.

Sträuche blühten herab, bis wo im heitern Tal,
An den Hügeln gelehnt, oder dem Ufer hold,
Deine fröhlichen Gassen
Unter duftenden Gärten ruhn.

Friedrich Hölderlin

Immer wieder suchte der ewig vor sich und anderen flüchtende Friedrich Hölderlin (1770 – 1843), bis er dann seine zweite Lebenshälfte in seinem Tübinger Turmzimmer verbrachte, auch die kühlen Schatten der Stadt Heidelberg auf. 1788 war sein erster Besuch in der Neckarstadt, 1800 entstand sein Gedicht, kurz nachdem die Alte Brücke über den Neckar fertiggestellt worden war. Es ist wohl das berühmteste Heidelberg-Poem. Mit den Zeilen „schicksalskundige Burg nieder bis auf den Grund von den Wettern zerrissen“ bezieht sich Hölderlin auf einen Blitzschlag, der 1764 das Heidelberger Schloss, kaum dass es nach der teilweisen Zerstörung durch die Franzosen 1693 wieder aufgebaut worden war, vollends beschädigte. (Ein ausführlicher virtueller Rundgang durch das Schloss, den Schlossgarten bis hin zum berühmten Riesenfass findet sich hier.)

Die Heidelberger Romantik

Wie die „Weimarer Klassik“ gibt es auch für Heidelberg den Begriff einer Literaturepoche, der mit der Stadt verbunden ist: Die „Heidelberger Romantik“. Hölderlin war ein Vorbote, verknüpft ist sie vor allem mit Clemens von Brentano und Achim von Arnim, die zweitweise in Heidelberg lebten (datiert wird die Heidelberger Romantik für die Jahre zwischen 1804 und 1818), dort an „Des Knaben Wunderhorn“ arbeiteten und die „Zeitung für Einsiedler“ herausgaben. Darüber hinaus studierte Joseph von Eichendorff von 1807 bis 1808 ebenfalls in Heidelberg, hatte aber wohl keine Kontakte zu Brentano/Arnim.

Die Romantik als Literaturepoche zeichnet sich durch Kritik an der Vernunft und auch in der Abgrenzung zur Aufklärung aus, zielt auf die Aufhebung der Trennung zwischen Philosophie, Literatur und Naturwissenschaften ab, greift die einfache Sprache des Volkes und seine Erzählungen auf – kurz: Zurück zur Natur, back to the roots.

Ländlich-schönes Heidelberg

Heidelberg, die „Ländlichschönste“, bot dafür das ideale natürliche Ambiente. Und weil die Romantiker auch gerne schwelgten, so ist es denn kein Wunder, dass manch einer von ihnen sich hier auch unglücklich verliebte – Joseph von Eichendorff beispielsweise in Käthchen Förster, die ihn wahrscheinlich zu „In einem kühlen Grunde“ inspirierte.

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Bild von Ramon Perucho auf Pixabay

Die Ära der Heidelberger Romantik ging vorüber, literaturwissenschaftlich gesehen. Die Romantik in Heidelberg jedoch blieb. Jahrzehnte später traf es Gottfried Keller, der sich in die Tochter eines Heidelberger Politikers und Philosophieprofessors verschaute, als er sich von 1848 bis 1850 in der alten Universitätsstadt aufhielt. Auch ihm wurde die berühmte Brücke zu einer Metapher:

Schöne Brücke, hast mich oft getragen,
Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen
Und mit dir den Strom ich überschritt.
Und mich dünkte, deine stolzen Bogen
Sind in kühnerm Schwunge mitgezogen
Und sie fühlten mein Freude mit.

Weh der Täuschung, da ich jetzo sehe,
Wenn ich schweren Leids hinübergehe,
Daß der Last kein Joch sich fühlend biegt;
Soll ich einsam in die Berge gehen
Und nach einem schwachen Stege spähen,
Der sich meinem Kummer zitternd fügt?

Aber sie, mit anderm Weh und Leiden
Und im Herzen andre Seligkeiten:
Trage leicht die blühende Gestalt!
Schöne Brücke, magst du ewig stehen
Ewig wird es aber nie geschehen,
Daß ein bessres Weib hinüberwallt!

Gottfried Keller