Barth, Gottfried Maria, u.a. (Hg.): Vögel im Kopf: Geschichten aus dem Leben seelisch erkrankter Jugendlicher

Ehemalige und gegenwärtige Patientinnen und Patienten der Kinder- und Jugendpsychiatrie Tübingen erzählen – von sich, ihrer Erkrankung, den ambivalenten Gefühlen, die ein Klinikaufenthalt auslöst. Ein Buch, das ein wichtiges Thema aus der Tabuzone holt.

„Wenn man die Klinik betritt, betritt man eine andere Welt – in der manchmal die Zeit stillsteht, so könnte man meinen. Man grenzt sich aus, um sich selbst einzugrenzen und dazuzulernen. Um mit sich selbst wieder eins zu werden und an sich zu arbeiten. Das führt oft dazu, dass man in seiner Entwicklung, zumindest der Entwicklung, die von außen sichtbar ist, stillsteht. Man lernt, das Universum anders zu betrachten und sich neu in ihm zu orientieren. Wir entfliehen der Welt, um uns in ihr neu zu definieren.
Die Welt hingegen interessiert dies nicht und sie dreht sich einfach so weiter. Während wir hinter den gelben Fenstern lernen, zu fühlen, unsere Gedanken zu kontrollieren, unseren Geist neu auszurichten, lernen andere in unserem Alter Algebra, entdecken sich und ihren Körper, probieren sich aus.“

Aus: „Vögel im Kopf“, S. Hirzel Verlag

Wie für die heute 28-jährige Janine B., war und ist das Gebäude mit den gelben Fenstern für Generationen von Kindern und Jugendlichen zur vorübergehenden Heimat geworden. Zum Zufluchtsort, zum Ort, der Hoffnungen und zugleich das Gefühl der Niederlage verbindet, aber auch zu einem gefühlten Gefängnis, dem man entkommen möchte. Seit über 100 Jahren gibt es die Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsklinikum Tübingen: Das Haus mit den gelben Fenstern kennt unzählige (Lebens-)Geschichten, die nicht nur für ein persönliches Schicksal stehen, sondern auch ein Spiegel sind für den Umgang unserer Gesellschaft mit psychischen Erkrankungen.

Texte mit Erfahrungen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie

Der Förderverein Schirm e.V. gibt den Menschen hinter den Fenstern eine Stimme: „Vögel im Kopf“ ist ein aktuell erschienener Sammelband, der Texte von Patientinnen und Patienten, Angehörigen und Mitarbeitenden der Kinder- und Jugendpsychiatrie vereint. Die Unmittelbarkeit der Erzählungen treffen einen beim Lesen ins Herz und machen die Ängste und die verzweifelten Gefühle, die mit einer psychischen Erkrankung einhergehen, verständlicher.

„Früh aufstehen. Wiegen. 39 kg auf 172 cm. Ich bin vor kurzem 16 geworden. Aussichtslosigkeit, Schmerzen und Verzweiflung überwiegen in meinem Leben. Ich wollte mich nicht umbringen, wollte nicht sterben, nein, ich wollte nicht mehr sein und bin auch kaum noch. Wenn ich in den Spiegel sehe, ist da eine Fremde, ein Zombie, gruselig und ekelhaft. Tiefe Augenhöhlen. Eine dünne Schicht gespannte, blasse Haut über Knochen. Nicht zierlich, ein massives Skelett mit klobigen Gelenken.“

Wie Anita l., heute 37 Jahre alt, die ein knappes Jahr als Patientin in der Kinder- und Jugendpsychiatrie war, stellen sich viele diese Frage: „Fühle ich mich wie auf dem Weg in ein Gefängnis, in ein Krankenhaus?“ Sie schildert eindrücklich ihre inneren Widerstände, die sie in den ersten Tagen begleiten – gegen die Klinik, gegen das Personal, gegen die Mitpatienten. Aber wie viele andere Geschichten in diesem berührenden Buch ist auch ihre eine der Hoffnung: „Vögel im Kopf“ erzählt nicht zuletzt auch davon, wie viele junge Menschen in der KJP lernen, mit ihrer Krankheit zu leben, mit ihr umzugehen, neue Perspektiven erhalten und ihr Leben meistern – so Ulrike S., die Jahrzehnte später selbst als Ärztin arbeitet und eine erfolgreiche Wissenschaftlerin ist.

In ihrem Nachwort betonten der Ärztliche Direktor der Klinik, Professor Tobias Renner und sein Stellvertreter Dr. Gottfried Maria Barth, ebendieses:

„In der Kinder- und Jugendpsychiatrie kommt eine sehr wichtige Besonderheit dazu. Es kann bei uns nicht nur um Symptomreduktion oder Heilung von Krankheiten gehen. Wir haben immer mit der gesamten psychosozialen Entwicklung zu tun. Und Heilung kann nicht nur Wegnehmen von Krankheit bedeuten, sondern Wege zu öffnen für eine gesunde seelische Entwicklung. Wir wollen mit unseren Patient*innen nach vorne blicken, mit großer Kreativität immer wieder neue Wege finden, wie bestehende Belastungen bewältigt werden können.“

Ein Buch, das Hoffnung macht

So ist „Vögel im Kopf“ vor allem für die Betroffenen und ihre Umwelt selbst ein wichtiges Buch, ein Buch, das  Hoffnung macht und verdeutlicht, wie wichtig es ist, sich Hilfe zu holen – wie bei jeder anderen Erkrankung auch. Aber dennoch wird durch die sensible Auswahl der Geschichten durch die Herausgeber, Ärzte, Therapeuten und Mitarbeitende der Klinik, auch auf die Schattenseiten und die Schwierigkeiten, die psychische Erkrankungen und ihre Behandlung mit sich bringen, eingegangen. Die Schuldgefühle und Versagensängste, die oftmals die Eltern plagen. Die Geschwisterrivalität, die entstehen kann, wenn der Fokus auf dem erkrankten Kind liegt. Das Gefühl, an seine Grenzen zu kommen, das auch erfahrene Therapeut*innen kennen. Aber vor allem die Angst vor Stigmatisierung. Robert, Vater einer erkrankten Tochter, schreibt dazu:

„Leider scheint mir, dass die »Umgangskultur« mit psychisch Kranken eine zusätzliche Hemmschwelle darstellt, ein ohnehin großes Problem zu überwinden, nämlich das Eingeständnis, krank zu sein und unter Umständen ohne fachliche Hilfe nicht mehr in eine gesündere Spur zu kommen. Interessant: Auch wenn es heute einerseits einen gefühlt offeneren Umgang mit dem Thema »psychische Erkrankung« gibt, spiegelt sich andererseits immer noch eine erschreckend aggressive Stigmatisierung im Sprachgebrauch wider: der »Mongo« und »Spasti« früherer Jugendgenerationen scheint heute dem »Psycho« gewichen zu sein. Ich habe noch nie erlebt, dass jemand, der wegen Zahnschmerzen den Arzt aufsuchen muss, als »voll der Kario« oder »Dento« diffamiert wird. Auch ein atemschwacher »Pneumo« ist mir noch nie untergekommen.“

Dem Wunsch der Herausgeber, dass dieses Buch zum Lesen verlockt, vor allem aber, dass es Anlass gibt, über das Thema zu reden und damit einen Teil der Stigmatisierung und Tabuisierung aufzuheben, kann man sich nur anschließen. Zudem ist dieses Lesebuch auch wunderschön gestaltet – die „Vögel im Kopf“ begleiten die einzelnen Geschichten illustrativ, zudem werden die Erzählungen bereichert durch passende Gedichte und Zitate aus der Literatur und Philosophie.

Einige der Texte werden nach und nach auf der Homepage des Fördervereins Schirm e.V. veröffentlicht: https://www.voegel-im-kopf.de/

Informationen zum Buch:

Vögel im Kopf
Geschichten aus dem Leben seelisch erkrankter Jugendlicher
Herausgegeben von: Gottfried Maria Barth, Bernd Gomeringer, Max Leutner, Jessica Sänger und Ulrike Sünkel
Hirzel Verlag, Stuttgart, 2020
Gebunden, 320 Seiten, 24,00 €
ISBN 978-3-7776-2885-1

Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone

Ein Gefühl des Lebensüberdrusses ist es, das die Romane von Houllebecq durchzieht, so Claudio Miller. Und kann auch dem Frühwerk nicht mehr viel abgewinnen.

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Bild: (c) Michael Flötotto

Ein Beitrag von Claudio Miller.

“Unterwerfung” ist in aller Munde, noch bin ich resistent, denke auch nicht, dass ich mich einem Verlangen, dies Buch zu kaufen, unterwerfen werde. Dagegen habe ich mir nochmals den Erstling Houllebecqs aus dem Regal geholt, “Ausweitung der Kampfzone”, 1994 in Frankreich herausgekommen, 1999 dann bei Wagenbach, mit 155 Seiten ein überschaubares Werk, jetzt gut geeignet, mir wieder vor Augen zu führen, was mir einst an Houllebecq gefiel, ja, wenn nicht geradezu anzog, mittlerweile aber ein Gefühl von Ennui verursacht. Ennui als ein vorübergehendes Symptom ist verkraftbar, da vorübergehend, ihre große Schwester, das Taedium vitae dagegen von einem ganz anderen Kaliber. Dieses Gefühl des Lebensüberdrusses ist es jedoch, das alle Romane, die ich von Michel Houllebecq las, durchzieht, ein Werk getränkt von Absage an alles, was der Menschheit auch irgendwie nur Hoffnung oder “Heil” verspräche: Adieu alle politischen und gesellschaftlichen Programme, Marxismus, Kommunismus, Demokratie, Feminismus, Psychoanalyse, bäh 68er in ihrer Naivität, adieu, adieu, bonjour tristesse.

Der Untergang des Abendlandes oder zumindest das Ende der Aufklärung als literarisches Programm, weil der Mensch im Grunde ein Tier ist, das in Freiheit nicht sinnvoll leben kann. In “Ausweitung der Kampfzone” ist dieses alles bereits angelegt: Ein namensloser EDV-Ingenieur, 30 Jahre alt, ohne familiäre oder freundschaftliche Beziehungen, auch ohne Lebensplan oder Ziel, befindet sich mit einem Kollegen auf einer beruflichen Tour durch die Provinz. Jener Kollege – als abgrundtief häßlich geschildert, gar als “krötenhaft” bezeichnet – leidet an seiner Chancenlosigkeit bei den Frauen. Während eines frustrierenden Discoabends animiert der Ich-Erzähler (der gelegentlich aus eigenen zynischen Tierfabeln zitiert) den Kompagnon zu einem Sexualmord – die Tat bleibt ungetan, der potentielle Mörder kommt noch in derselben Nacht bei einem Autounfall ums Leben. Potentiell, denn die Saat des Bösen wäre gelegt gewesen, nur einmal noch blieb das Messer stecken, siegte die übernommene (und bereits überkommende?) Moral.

Der Erzähler und Anstifter landet wegen Depressionen in der Psychiatrie:
“Ich verließ die Klinik an einem 26. Mai; ich erinnere mich an die Sonne, die Wärme, die Atmosphäre der Freiheit auf den Straßen. Es war unerträglich.”

“Ausweitung der Kampfzone” bedeutet: Alles ist ein Markt, alles den Gesetzen des Marktes, des “freien” Spiels der Kräfte unterworfen. Der Mensch als Ware, Sexualität als Produkt, als erweiterte Kampfzone. Wer hier überleben will, als Sieger aus dem Spiel hervorgehen möchte, der hat  Leistung zu erbringen. Verlierer ist, wer ohne Kontakte bleibt, bei Houellebecq hat man da bereits von vornherein das falsche Los gezogen, bleibt außen vor. Lupus est homo homini – Problem nur: Selbst wenn der Mensch einen anderen Mensch erkennt, führt dies nicht zur Menschlichkeit, die Protagonisten verharren in einem autistischen Modus oder im tierischen Spiel der Mächte, fressen oder gefressen werden, selbst ein Schwacher treibt den noch Schwächeren zum Wahnsinn (da fast bis zum Mord), Mitgefühl, Empathie, Solidarität sind menschliche Werte, die keinen Raum einnehmen.

Als Kritik am Neoliberalismus haben mich die Bücher Houellebecqs vor mehr als zehn Jahren gepackt und fasziniert: So kalt und grausam geschildert, so pointiert, habe ich ein Abbild einer Welt und unserer westlichen Zivilisation zuvor nicht gelesen. Die Befindlichkeit einer Gesellschaft, die zwischen absoluter Pluralität und individueller Verlorenheit pendelt: Scheinbar geht alles und doch weiß der Mensch an sich damit wenig anzufangen. Diese grenzenlose Freiheit – die Sexualität ist bei Houellebecq dafür die geeignete Metapher – die sich in spießiger Dekadenz, in Orientierungslosigkeit und Einsamkeit erschöpft. Zumal “Freiheit”, “Pluralismus” etc.  Gängelbändel sind, dem Einzelnen Wahlmöglichkeiten nur vorgetäuscht werden, Entscheidungsfreiheit als politische Fata morgana. Dies in nüchterner, präziser Sprache geschrieben, in wenigen Seiten verdichtet, macht die Qualität dieses Debütromans aus. Dazu ironische Seitenhiebe auf die Literatur:

“Das fortschreitende Verlöschen menschlicher Beziehungen bringt für den Roman allerdings einige Schwierigkeiten mit sich. Wie soll man es anstellen, diese heftigen Leidenschaften zu erzählen, die sich über mehrere Jahre erstrecken und deren Wirkungen manchmal über Generationen hinweg spürbar sind? Von den Sturmhöhen haben wir uns weit entfernt, das ist das mindeste, was man sagen kann. Die Romanform ist nicht geschaffen, um die Indifferenz oder das Nichts zu beschreiben; man müßte eine plattere Ausdrucksweise erfinden, eine knappere, ödere Form.”

Das ist die Ironie: Seit seinem Debütroman 1994, dem dieses obige Zitat entnommen ist, schreibt Houellebecq Roman um Roman über: Das Nichts. “Unterwerfung”, so habe ich aus manchen Kritiken geschlossen, ist nicht mehr oder weniger als eine dystopische Variation davon. Eine Satire auf den Untergang tradierter Werte und Gesellschaftsformen. Nach dem dramatischen zeitlichen Zusammentreffen des Erscheinen des Romans und der Pariser Anschläge war die mediale Hysterie groß: Was darf ein Roman? Wo liegen die Grenzen? Dazu schrieb Nils Markwardt eine sehr intelligente Reflektion: “Moral ist der falsche Maßstab”.

D`accord. Literatur darf alles, muss nichts – insofern kostet Houellebecq den Pluralismus, den er oftmals so schwarz zeichnet, als Autor bis zur Neige und Schmerzgrenze aus. Es liegt  dagegen in meiner alleinigen Entscheidung als Leser, welche Dosis davon ich zu mir nehme. Und auch dazu finde ich bei Markwardt einige Sätze, die ich unterstreichen kann, die im Grunde der Grund sind, warum ich mich inzwischen lesend von Michel Houellebecq verabschiedet habe:

“Man kann in Unterwerfung, so wie eigentlich auch bei fast allen anderen Romanen Houellebecqs, eine Reihe von Dingen ärgerlich, platt oder ermüdend finden. Beispielweise den quengeligen Vulgär-Nietzscheanismus oder die immer gleiche, abgegriffene Zivilisationskritik, die erkenntnistheoretisch nicht über das Lamento eines frustrierten Kneipenphilosophen hinauskommt.” 

Adieu, tristesse. Denn Kritik ist gut, aber Erkenntnis ist besser – aber was letzteres anbetrifft, da bietet mir der traurige Nörgler zuwenig Gewinn.

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